Das andere Bild: Unter den Terroropfern von Paris ein Muslim, unter den Geiseln einer, der viele in Sicherheit gebracht hat, unter den Helfern Muslime usw. Muslime sind ebenso von den Terrortaten betroffen (als Opfer oder emotional) und arbeiten gegen die Terroristen wie Nicht-Muslime. Der Terror ist Terror, und die "Religionisierung", also die Zuordnung zu einer Religion, ist eine andere Sache, die aus verschiedenen Interessen von Teilen der Gesellschaft betrieben wird. Sie muss aber kritisch betrachtet und immer wieder auf ihre Stichhaltigkeit überprüft werden.
Denn auch wenn Verbrecher Verbrechen im Namen der Religion begehen ("Gott will es", haben sich die Kreuzfahrer auf die Fahnen und Schilde geheftet), hat das nicht direkt mit der jeweiligen Religion zu tun. Es gibt keine Religion, die Gewalt im Zentrum ihrer Lehre hat. Religionen predigen primär die Menschenliebe, das Eintreten für Schwache, die Abkehr von Gier und Hass usw.
In Randbereichen setzen sie sich auch mit Fragen der Gewalt auseinander und diskutieren Fälle, in denen Gewalt gerechtfertigt sein kann. Dabei zeigt sich die Entfernung vom Zentrum, denn es gibt da keine eindeutigen Antworten. Soll man immer die zweite Backe hinhalten, wenn die eine schon eins draufgekriegt hat, wie Jesus empfohlen und Gandhi vorgelebt hat? Soll man zulassen, dass Angehörige der eigenen Religion unterdrückt und niedergemetzelt werden? Das sind Fragen, auf die es keine eindeutige und verbindliche Antwort geben kann wie auf die allgemeinere, dass wir unsere Mitmenschen lieben sollen.
Religion und Gewaltfreiheit
Wenn Verbrecher Verbrechen im Namen der Religion begehen, ist das eine Ausrede und durch keine Religion gedeckt. Es gibt keine Glaubensgemeinschaft, die Verbrechen gutheißt oder befiehlt. Es gibt immer wieder Aussagen, die zweideutig sind (z.B. Jesus: "Ich bin nicht gekommen, um den Frieden zu bringen, sondern das Schwert."). Daraus eine Berechtigung für Gewalttaten abzuleiten, unterliegt der persönlichen Verantwortung und kann nicht einfach und direkt aus einer Religion abgeleitet werden.
Die Ideen der Gewaltfreiheit und der Gewaltlosigkeit stammen zum größten Teil aus dem Fundus der Religionen. Viele Vertreter dieser Richtung haben sich auf Religion berufen. Das hat auch eine gewisse Logik: Es können über die Zeit nur Bewegungen überleben, die die Gewaltfreiheit in ihrem Zentrum haben. Bewegungen, deren Hauptanliegen die Gewalt ist, gehen über kurz oder lang durch dieselbe unter.
Die Bildungsgesellschaft und die Vorurteile
Auch wenn durch die Ereignisse mehr Wissen über den Islam in den öffentlichen Diskurs einfließt, wachsen andererseits die Vorurteile: Wer früher wenig über den Islam wusste, hat sich möglicherweise inzwischen weitergebildet, weil auch auf Bildungsniveau über den Islam, die Inhalte des Glaubens und die Rolle der Gewalt in diesem Zusammenhang diskutiert wird. Wer früher nichts oder fast nichts wusste, hat möglicherweise neue Vorurteile übernommen, die wohlfeil in großer Zahl und mit zunehmender Publizität angeboten werden. Das ist der Hintergrund für das Anwachsen der Islamophobie, die interessanterweise nicht mit dem Anteil der Muslime in der Gesellschaft korreliert, sondern dort höher ist, wo weniger Muslime leben.
Es ist schwer zu verstehen,wenn Menschen anderen Gewalt antun. Deshalb ist der Griff nach Vorurteilen eine bequeme Möglichkeit, damit klar zu kommen. Wir fixieren die feindliche Gruppe, und schon fühlen wir uns ein Stück sicherer (der Feind ist sichtbar) und zugleich ein Stück unsicherer (der Feind ist sichtbar). Mit dem Fixieren des Feindbildes fixieren wir unsere eigene Gruppe auf Feindschaft. Das gibt uns wieder mehr Sicherheit - wir sind viele, die gleich empfinden - und mehr Unsicherheit, weil die Bedrohung damit zu einem Stück der eigenen Identität geworden ist. Darin besteht die Leistung von Bewegungen wie Pegida oder Parteien wie die FPÖ. Sie bestärken sich selbst in den Vorurteilen, die mit Angst versetzt sind, und zwingen ihre Anhänger zum Zusammenschluss, als einzigem Mittel, um der Angst etwas entgegen zu setzen.
Ähnliche Mechanismen führen auf der anderen Seite zur Bildung von Terrorgruppen. Die Dynamik ist ähnlich, weil sie von ähnlichen Ängsten gespeist ist, nur die Ausformung nimmt die gegenteilige Richtung. So wird der Angstmarkt aufgeteilt.
Eine nette Verschwörungstheorie wäre dann, dass IS und Al Qaida insgeheim zusammen mit den islamophoben Rechtsgruppierungen auf die Machtergreifung hinarbeiten - die einen übernehmen die Staaten der islamischen Welt, die anderen jene der christlichen. Die Islamophobiker brauchen jihadistische Gewalttaten, um erfolgreich zu sein, genügend Zulauf zu bekommen und schließlich die Machtpositionen einzunehmen, die Jihadisten brauchen die Islamfeinde, um weitere todessehnsüchtige Anhänger zu rekrutieren, Finanzmittel zu erhalten und ihre Gewalttaten (die ja immer wieder und in großer Zahl Moslems als Opfer fordern) zu rechtfertigen - eine Allianz, die natürlich in Realität nicht besteht und nie zustande kommen wird, aber zeigt, wie sich zwei Enden eines Spektrums in ihren Zielen und sogar in ihren Mitteln ähnlich werden können. (Wer historisch denkt, dem fällt die Allianz zwischen Hitler und Stalin von 1939 ein, zwei extrem hasserfüllte und machtgierige Diktatoren, die sich trotz gegenseitigem Hass und Misstrauen zum Zweck der Machterweiterung verbündeten.)
Die Mitte stärken
Was die demokratische und an einer Ausweitung der Toleranz interessierte Zivilgesellschaft beachten muss, ist die Tendenz, dass die Extreme an den entgegengesetzen Rändern des Toleranzspektrums weder medial noch argumentativ aufgewertet werden. Solange sie so winzig sind im Vergleich zur breiten Zentralschicht nicht nur in den "westlichen", sondern zunehmend in allen Gesellschaften, die sich für eine breite Bildung der Bevölkerung öffnen, können sie nur marginalen Schaden anrichten. Auch wenn jeder unbeteiligte und unschuldige Mensch, der dabei sein Leben lassen muss, zuviel ist und betrauert wird, ist es nicht möglich, mit Terrorakten die Gesellschaft als solche auszuhebeln oder total in Besitz zu nehmen.
Selbst die beinahe 3000 Todesopfer von 9/11 haben nicht bewirkt, dass die US-Gesellschaft islamischer oder islamfreundlicher geworden wäre, vermutlich trifft das Gegenteil zu. Die negativen Folgen des Attentates liegen auf der Ebene, wo sich das Zentrum der Gesellschaft durch die damals vorherrschende Politik in einer Art Bunkermentalität zusammengezogen hat und sich dem Gegenextrem genähert hat, statt in der gesellschaftlichen Mitte zu bleiben und diese auszuweiten und zu stärken. Die massive Militarisierung des Terrorthemas durch die Bush-Regierung, die zu einer Reihe von äußerst verlustreichen Kriegen geführt hat, hat mit großer Sicherheit den anderen Rand gestärkt und die terroristischen Aktivitäten auf der Welt, vor allem im mittleren Osten intensiviert, und dort ein paar Staaten ruiniert hat.
Risikogesellschaft
Die jüngsten Attentate haben wieder gezeigt, was seit 9/11 zu Bewusstsein gekommen ist. Seither ist kein Staat vor Terror geschützt und auch schützbar. Es ist unmöglich, die Gesellschaft vor dem Wahnsinn Einzelner und kleiner Gruppen perfekt abzusichern. Es kann nicht vor jedes Geschäft oder jede Zeitungsredaktion ein Antiterrorkommando abgestellt werden. Es wird immer wieder Überfälle, Verletzte und Todesopfer geben, vielleicht wir selber auch darunter. Es wird zugleich die breite Zivilgesellschaft weiterbestehen, wenn sie sich nicht von einem Ende, von einem Extrem in Geiselhaft nehmen lässt, sondern mutig und klar die Werte hochhält, für die die Generationen vor uns gekämpft haben.
Die Antwort auf das zunehmende Gefühl der Unsicherheit und des Risikos sollte nicht sein, mehr an den Rand zu rücken und Schutz in Vorurteilen, Ausgrenzungen und Diffamierungen zu finden, sondern die Mitte zu stärken und auszudehnen, also statt Vereinfachungen für die Verwaltung der Komplexität zu sorgen. Bildung und Reflexion und auch die freie Ausübung der Kunst sind die Instanzen, die im öffentlichen Austausch der Meinungen tonangebend sein sollen, damit die auf Menschlichkeit beruhende Vernunft so weiterwachsen kann, dass die Extreme ihre Attraktivität verlieren.
Gewaltprävention
Das Psychogramm der Täter ist nicht sehr abwechslungsreich. Es erkennt immer wieder gescheiterte, psychisch labile und aggressive Persönlichkeiten, die dann von einer Ideologie infiziert werden und so gewaltbereit werden. Religiös sind sie schwach gebildet und herkunftskonditioniert. Vermutlich tragen sie Traumatisierungen nicht nur aus dem eigenen Leben, sondern auch aus den Generationen vor ihnen epigenetisch in sich.
Gewaltprävention erfordert Eingliederung. Jede Ausgrenzung erzeugt mehr Aggressivität, weil sie in sich aggressiv ist. Eingliederung erfordert den Angstabbau im Zentrum der Gesellschaft. Die angst- und vorurteilsfreie Einstellung müssen die Angehörigen des Zentrums denen entgegenbringen, die von der Peripherie kommen. Dann können diese ihre Ängste abbauen, was ihnen die Eingliederung erleichtert.
Die Fähigkeit zur Differenzierung
Ein Kennzeichen einer aufgeklärt demokratisch-toleranten Gesellschaft ist die Differenzierungsfähigkeit. Verallgemeinerungen, Schablonen und Klischees, die Vorurteile produzieren, müssen immer wieder überprüft werden. Differenzieren heißt Unterscheiden: Das Einzelne und das Allgemeinere. Viele Attentate und Terrorakte werden von Menschen begangen, die sich zum Islam bekennen. Viele andere Attentate haben nicht diesen Hintergrund. Dort, wo es diesen Zusammenhang gibt, muss er auch benannt und mit berücksichtigt werden, von den Muslimen und Nicht-Muslimen. Zugleich muss im Blick bleiben, dass im Vergleich zu 1,8 Mrd. Muslimen auf der Welt die Zahl derer, die Gewaltverbrechen begehen, verschwindend gering ist.
Die Arbeit an der eigenen Differenzierungsfähigkeit hängt mit Bildung und Reflexion zusammen und benötigt den Abbau der inneren Ängste. Gewalt ist eine sehr einfache und kurzsichtige Form der Interessensdurchsetzung und eigenen Absicherung. Deshalb ist jeder Schritt im inneren Wachstum, sowohl in kognitiver wie in emotionaler Hinsicht, verbunden mit einer Entfernung und Distanzierung von Gewaltbereitschaft und zugleich mit einer Öffnung des Horizonts, der für den Ausbau einer einladenden, also nicht ausgrenzenden Gesellschaft notwendig ist.
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