Donnerstag, 8. Januar 2015

Meinungsfreiheit und religiöse Gefühle

Nach der Ermordung der Redaktionsmitglieder der Satirezeitschrift Charlie Hebdo steht wieder einmal das Verhältnis von Meinungsfreiheit und religiösen Gefühlen im Brennpunkt. Wenig Menschen werden die Verhältnismäßigkeit der angewendeten Mittel für gerechtfertigt halten: Menschen, die eine Zeitschrift produzier
Quelle: chip.de
en, deren Inhalte die eigenen Gefühle verletzt, dafür zu ermorden. 


Mehr Menschen werden die Meinung vertreten, dass es nicht in Ordnung ist, Religionen zu beleidigen und dass es dafür Konsequenzen geben muss. So hat z.B. die iranische Außenamtssprecherin Marsieh Afcham in einer Presseerklärung mitgeteilt, dass der Iran den Terroranschlag in Paris verurteilt. Terroranschläge gegen unschuldige Menschen hätten nichts mit dem Islam zu tun und seien daher inakzeptabel. Beleidigung von Religion und religiösen Persönlichkeiten unter dem Deckmantel der Meinungsfreiheit sei aber genauso inakzeptabel.

Für viele Menschen sind religiöse Gefühle nicht irgendwelche Stimmungen oder Launen, sondern repräsentieren ihre Einstellung zu dem, was ihnen am wichtigsten erscheint, also die höchste Wertigkeit in ihrem Leben. Wer hat es schon gerne, wenn sich andere über das, was einem selber wichtig ist, lustig machen. Für Staaten, die ihre Legitimität auf einer Religion begründen, bedeutet ein Angriff auf diese Religion zugleich einen Angriff auf die Legitimität. Deshalb bestrafen und unterbinden solche Staaten alles, was als Beleidigung ihrer Legitimitätsgrundlage empfunden werden kann.


Das Bedürfnis nach öffentlicher Meinungsfreiheit



Gegen den Schutz vor der Verletzung persönlicher Gefühle und Werte steht das Recht auf Meinungsfreiheit, Pressefreiheit usw. Diese Rechte wurden seit der Aufklärung mühsam erkämpft und zählen jetzt in den meisten Ländern zu den Grund- und Menschenrechten. Menschen wollen ausdrücken und veröffentlichen können, was sie denken und was ihnen wichtig ist. Sie wollen ihre eigenen Ansichten und Werte in den öffentlichen Diskurs einbringen und damit am Austausch von Meinungen teilnehmen. Dieses Bedürfnis kommt überall zum Tragen, wo Menschen über ihre Anliegen miteinander reden. Darüber hinaus besteht der Wunsch bei vielen, sich mit einer breiteren Öffentlichkeit auszutauschen  - die eigenen Gedanken allen Menschen zugänglich zu machen, die sich dafür interessieren, und von denen, die sich damit auseinandersetzen wollen, dann Rückmeldungen zu bekommen. Wenn man das anstrebt, kann man ein Buch schreiben, eine Zeitschrift herausgeben, Blogs verfassen usw. 

Wie stark dieses Bedürfnis nach Austausch in der Öffentlichkeit ist, zeigt das rasante Wachstum der sozialen Netzwerke. Seit es für alle Menschen, die das Internet nutzen können (ca. 3 Mrd. von 7,3 Mrd. - also rund 60% der Weltbevölkerung haben noch keinen Internet-Zugang), relativ einfach ist, eine Öffentlichkeit für die eigenen Meinungen zu bekommen, wird das auch entsprechend genutzt. Ob das, was da in das Netz eingespeist wird, trivial, obszön, hochintellektuell, peinlich, liebevoll oder beleidigend ist, spielt für das Medium, das www, primär keine Rolle. Das Netz ist ein Spiegel der Bandbreite des menschlichen Seins und seiner Ausdrucksmöglichkeiten und Ausdrucksbedürfnisse (ca. 1,4 Mrd. nutzen facebook, also ca. 53% der Internetnutzer sind nicht auf facebook vertreten).

Wenn wir unsere Ansichten veröffentlichen, treten wir in Diskurse ein. Dahinter steckt, neben Eitelkeiten und diversen anderen Ego-Bedürfnissen, auch der Wunsch, mit dabei zu sein, nicht nur bei der eigenen Gruppe, sondern darüber hinaus bei der Menschheit. Wir wollen im Rahmen dieser Menschengesellschaft gehört und gesehen werden, wir wollen, wie winzig auch immer, einen Unterschied einbringen und damit das Gefühl in uns stärken, dass wir dazugehören: Nicht bloß zu unserer Familie, Ortsgemeinschaft und Nation, sondern darüber hinaus zur Weltgemeinschaft. 

Die Meinungsfreiheit, die im Zug des Kampfes um die Menschenrechte durchgesetzt wurde, hat also globale Auswirkungen in Hinblick auf die Bildung des Weltbürgertums, also einer Zugehörigkeitsform, die alle Menschen in einem Boot sieht. Das ist die Perspektive, die wir benötigen, um die Probleme dieser Welt, die eben zunehmend globale sind, bewältigen zu können. Dazu brauchen wir alle Gehirne und alle Stimmen, die es auf dem Planeten gibt. Und diese können wir nur einbinden, wenn es eben die Freiheit der Meinungsäußerung gibt und Medien, über die die Meinungen veröffentlicht werden können. 

Deshalb ist die Meinungsfreiheit nicht irgendein Luxus, den Regierungen ihren Leuten zukommen lassen, wenn es passt und wieder abdrehen, wenn es zuviel wird. Sie zählt vielmehr zu den Überlebensnotwendigkeiten, die unser Weiterleben als Gattung gewährleistet. 


Die Beleidigung der Religion



Wie oben gesagt, sind für viele Menschen religiöse Werte sehr wichtig (Deutschland: 58% glauben an einen Gott). Sie wollen nicht, dass diese "herabgewürdigt werden". In Österreich gibt es dazu den § 188 des Strafgesetzbuches, der die Herabwürdigung und Verspottung religiöser Lehren sowie das Erregen eine "berechtigten Ärgernisses" unter Strafe stellt. Was auch immer diese Formulierungen, die Rechtsexperten als schwammig bezeichnen, besagen wollen, erachtet der Gesetzgeber religiöse Lehren als schützenswerte und schutzbedürftige Güter. 

Kritik daran gibt es von laizistischer Seite, also von Leuten, die Staat und Kirche streng trennen wollen und deshalb nicht einsehen, warum religiöse Lehren vom Staat geschützt werden sollten. Es werden ja auch nicht andere Lehren, wie z.B. der Quantenmechanik oder Pflanzenheilkunde staatlich geschützt. Wer nicht-religiöse Lehren, z.B. den Atheismus, herabwürdigt, geht straffrei aus. Offenbar gehen die entsprechenden Gesetze auf Zeiten zurück, in denen der Religion eine staatstragende Rolle zugesprochen wurde, was ja schon lange nicht mehr der Fall ist.

Unter Strafandrohung steht nicht die Religionskritik, die argumentative Auseinandersetzung um religiöse Lehren, auch nicht der Atheismus oder antireligiöse Einstellungen, sondern alles, was den religiösen Lehren die Würde abspricht und sie verspottet oder "besudelt", ein Ausdruck, der gerne in diesem Zusammenhang von Verteidigern der religiösen Lehren verwendet wird. Es geht also um moralische Verhaltensweisen, für die jemand verurteilt werden kann: Man darf niemandem die Achtung und Würde absprechen. Allerdings bleibt dabei vorausgesetzt, dass die Würde eines Menschen an seiner religiösen Lehre hängt. Wird diese verachtet, wird zugleich die Würde infrage gestellt, und das darf nicht geduldet werden.

Es wurde schon öfter darauf hingewiesen, dass der Kern einer Religion, also das, worum es den religiösen Menschen geht, gerade deshalb so wertvoll ist, weil es nicht von Menschen "gemacht" ist, sondern weil es aus besonderen, heiligen Quellen stammt. Es kann deshalb von Menschen gar nicht "in den Schmutz gezogen" werden, weil es von solchen kleinlichen Angriffen überhaupt nicht betroffen werden kann. Was wäre das für ein Gott, der beleidigt die Tür hinter sich zuschlägt, weil sich jemand über ihn lustig macht? Ein solcher Gott hätte schnell seine Anhänger verloren. 

Das Religiöse hat seine Aura davon, dass es etwas ausdrückt, was über das Alltäglich-Menschliche mit all seinen Schwächen und Fehlerhaftigkeiten hinausgeht. Es ist deshalb von sich aus schon jedweder Entwürdigung enthoben, die aus dem Bereich der menschlichen Empfindlichkeiten und Boshaftigkeiten stammt. 


Kunst und Religionskritik



Religion wie Religionskritik sind Teile einer demokratischen Lebenskultur. Die Religion steuert wichtige und wertvolle Elemente dazu bei, und ebenso die Religionskritik, die z.B. darauf aufmerksam macht, wo die Religion und ihre Vertreter in den Bereich der allzumenschlichen Gemeinheiten abgleiten, wo sich Religion mit Macht und Manipulation einlässt, wo im Namen der Religion Verbrechen wie Kindesmissbrauch begangen und vertuscht werden usw. 

Alles, was in der Lebenskultur vorkommt, kann auch Gegenstand der Kunst werden, die in ihrer Darstellungsweise das Allzu-Menschliche mit einer transzendenten (entfremdenden, dekonstruktiven) Sicht verbindet. Im Bereich der Kunst hat die Religionskritik noch einmal einen anderen Stellenwert, weil die Kunst selber ein Naheverhältnis zur Religion hat. Deshalb ist künstlerische Religionskritik immer auch künstlerische Selbstkritik. Am deutlichsten zeigt das die Satire, die sich nicht nur über den Gegenstand ihres Spottes lustig macht, sondern auch über sich selber. Z.B. schreibt heute die satirische Tagespresse:

Der Drohung zufolge müssten radikale Islamisten im ganzen Land jederzeit auf satirische Artikel, Fotomontagen oder sonstige Witze gefasst sein, die ihre mittelalterlichen, repressiven und martialischen Ansichten angreifen. Das Magazin sieht sich nach eigenen Angaben in einem Kampf um die „Meinungsfreiheit“, einer Ideologie, bei der einfach jeder jede Meinung vertreten darf.

Die Drohung versetzt die heimische Gemeinde der Terrorsympathisanten und Radikalen in Angst und Schrecken. Der IS-Sympathisant Abdul B. (24) aus Graz bestätigte gegenüber der Tagespresse den Eingang der Drohung: „Ich checkte gerade meinen Email-Account nach neuen Antworten auf meine Terrordrohungen. Da empfing ich diese schockierende Nachricht.“

Abdul B. lebt seither in großer Angst: „Ich traue mich nicht einmal mehr, mit meiner Kalaschnikow vor die Tür zu gehen. Ich habe solche Angst vor schweren Verletzungen meiner religiösen Gefühle!“ 


Durch eine Satire wird einer Sache ihre "tierische" Ernsthaftigkeit genommen, ihre Schwere, die meist aus Anmaßung und Überheblichkeit kommt. Menschliches, das mit dem Pathos des Übermenschlichen daherkommt, wird als das entlarvt, was es ist. Diesen Spiegel halten manche Menschen schwer aus, und deshalb reagieren sie mit Aggression und kaltblütiger Gewalt gegen alles, was ihr Selbstverständnis in Frage stellt, besonders aber dann, wenn es mit den Mitteln des Humors geschieht. Auch Hitler hat mit besonderer Grausamkeit auf alles reagiert, was sich "heimtückisch" über ihn lustig gemacht hat. Das Erzählen von regimekritischen Witzen wurde von den Nationalsozialisten mit der Todesstrafe geahndet.

Woher wollen wir wissen, ob nicht auch Allah über die Karikaturen zu seinem Propheten oder zu anderen seiner Verehrer lacht? Woher wollen wir wissen, ob sich nicht Allah sehnlichst wünscht, dass die Menschen lernen, anders mit ihren Meinungsverschiedenheiten umzugehen als mit Kalaschnikows? Und ob er darüber glücklich sein kann, wenn ein Mörder nach begangenem Massaker "Allah ist groß" schreit?

Sicher hat der Hass, der sich in solchen Gewalttaten Bahn bricht, andere Wurzeln als die Beleidigung einer Religion: biographische Traumatisierungen und kollektive Demütigungen. Aus einer größeren Distanz betrachtet, ist es ein sinnloser Versuch, die Entwicklung der Weltgeschichte und der Weltkultur aufzuhalten oder zurückzudrehen. Die Menschheit will die Freiheit der Meinungen und die Freiheit der Kultur, und dieser Trend kann nicht durch ein paar Brutalitäten abgebrochen werden. Jeder Mensch, der sich innerlich entscheiden kann, wird den Weg der Toleranz und Wertschätzung und nicht den Weg der Gewalt wählen. Er wird lieber kreativ etwas Neues aufbauen, statt Menschen und Dinge zu zerstören. Und er wird erkennen, dass es sich besser anfühlt, zusammen mit der Menschheit weiterzugehen, statt gegen dieses Weitergehen anzukämpfen.

Vgl. Was heißt: Ein religiöses Gefühl verletzen?

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