Mittwoch, 10. Juli 2013

Esoterik und Wissenschaft 2: Feinstoffliche Energien - Sinn oder Unsinn


Die Begriffe des Feinstofflichen oder der feinstofflichen Energien haben eine ehrwürdige und verzweigte Biographie, bis sie in der modernen Esoterik einen wichtigen Platz einnehmen. Hier geht es darum, den Begriff auf seine Tauglichkeit in der eso-exoterischen Kommunikation zu überprüfen.

Das Dingliche = das Grobe, das Geistige = das Feine - das spricht uns intuitiv an. Ein Gedanke ist doch viel subtiler als ein Pflasterstein, und ein Gefühl der Zuneigung filigraner als ein Lastwagen. Doch lässt sich das Materielle dem Geistigen überhaupt so einfach gegenüberstellen? Andererseits: Wie hängt das Eine mit dem Anderen zusammen.

Das ist eine uralte Frage. Eine Lösung dafür war die Annahme einer Mittlermaterie zwischen den Welten der Materie und des Geistes. Eine solche wurde schon von griechischen Philosophen, z.B. von Platon angenommen. Dennoch stellt sie vor ein logisches und ein erkenntnistheoretisches Problem: Wie soll eine Materie zwischen Materie und Nichtmaterie vermitteln? Das wäre so, als ob der Exponent einer Streitpartei versuchen würde, im Konflikt mit der anderen Partei zu vermitteln. Oder wäre die Mittlermaterie halb Materie und halb Geist? Wo hört sie auf, das eine zu sein, wo beginnt sie, das andere zu sein? Was passiert an der Schnittstelle? Genau dort stellt sich das Problem erneut, die Lösung ist also nur eine Scheinlösung. 

Wir verstricken uns unweigerlich in ein Paradoxon, wenn wir nach dem Ort oder Nicht-Ort suchen, an dem die Materie in Nicht-Materie übergeht. Da ist kein "Platz" für ein Übergangs- oder Zwischenphänomen, für ein Zwitterwesen. Denn Materie ist als Nicht-Geist und Nicht-Geist als Materie verstanden. Es gibt kein Kontinuum vom einen zum anderen, so, als könnte die Materie immer feiner werden, bis sie schließlich ganz vergeistigt und völlig entmaterialisiert ist. Vielmehr existieren beide Seiten in getrennten Welten und sind dennoch inniglich miteinander verbunden.

Folglich können wir doch gleich alles, was es gibt, als Mittlermaterie definieren: "halb" materiell, "halb" nicht-materiell. Die Anführungszeichen weisen darauf hin, dass es nicht um Hälften im mathematischen Sinn gehen kann, die eine nummerische oder räumliche Zusammengehörigkeit ausdrücken. Tatsächlich befindet sich ja das Nichtmaterielle nicht im Raum, zumindest nicht im gleichen Raum wie die Materie. Auch kann das Nichtmaterielle nicht, oder nicht in der gleichen Weise wie das Materielle gemessen oder gezählt werden. Sonst hätten wir es ja wieder nur mit Materie zu tun.

Das ist die "Lösung" des Leib-Seele-Problems, wie sie auf dieser Blogseite immer wieder diskutiert wird: Alles, was es gibt, hat einen materiellen wie einen immateriellen Aspekt, es gibt das eine ohne das andere nicht. Nur unserer Wahrnehmung und Erkenntnis, auch unserer Denkfähigkeit erscheinen die zwei Sphären als getrennt, weil uns eine Erkenntnisfähigkeit, die beides als eins sieht, logisch und rational nicht zugänglich ist. Spirituell erfahrene Menschen haben immer wieder von dieser Sichtweise berichtet, doch ist sie noch lange nicht ins Alltagsbewusstsein eingedrungen.

Wenn diese Gedankengänge einen Sinn machen, brauchen wir zur Erklärung der Welt und zu ihrer Erkenntnis keine feinstoffliche Mittlermaterie. Wo bleibt jetzt noch ein Bedarf nach dem Feinstofflichen? Handelt es sich nur um einen Hilfsbegriff für ein Scheinproblem?


Begriffsnöte


Neue Worte werden aus Begriffsnot formuliert. Die Not besteht darin, dass die Erfahrung auf Phänomene stößt, für die die in der Sprache zur Verfügung stehenden Begriffe nicht zureichen. Um eine adäquate Wiedergabe einer Erfahrung in der Sprache zu gewährleisten, werden Begriffe gebildet, die diese Übersetzungsaufgabe leisten sollen. Diese wiederum steht im Dienst der kommunikativen Verständigung, d.h. im Dienst der Absicherung und des Ausbaues einer Kommunikationsgemeinschaft.

Deshalb können wir davon ausgehen, dass jede Begriffsbildung einem Sinnanspruch folgt und nicht "beliebig" sein will, so wie es nicht beliebig ist, das Meer Stern zu nennen, außer es einigen sich alle auf diese Namensgebung. Aber dann ist sie auch wieder nicht beliebig. Das Funktionieren von Sprache erfordert eine Beständigkeit. Verwende ich einen Begriff einmal in dieser und dann wieder in einer anderen Bedeutung, muss ich die jeweilige Kontextveränderung mitteilen, damit ich noch verstanden werde.

Das Feinstoffliche kennen wir z.B. in der Textilkunde. Dort können wir gröbere und feinere Stoffe zu unterscheiden: Seide ist feiner als Schafswolle.  Schwierig wird es dort, wo wir den Begriff des Feinstofflichen auf ein allgemeineres Niveau heben. Als Schlüssel zur Welterklärung wird es dann gar nicht als etwas Stoffliches (Materie) verstanden, sondern soll etwas nicht Greifbares ausdrücken, dessen Existenz postuliert wird, also aus wichtigen Gründen eingefordert wird, aber nicht in der Weise sinnlich präsent ist wie ein Wollpullover. 

Der Begriff soll nicht nur etwas bezeichnen, was vorhanden ist, sondern vor allem verständlich machen, was in der Wirklichkeit Veränderungen erzeugt, die wir nicht anders als mit diesem Begriff erklären können. Er soll Wirkungszusammenhänge verdeutlichen, für die der Wahrnehmungsapparat unserer fünf Sinne keine Sensorien hat - etwas ist gewissermaßen zu "fein" für diese Kanäle der Wahrnehmung. Wie es bei den anderen Sinnen "Stoffe" gibt, welche die Wahrnehmungsreaktion auslösen, z.B. Geruchspartikel oder Luftverdichtungen, muss es bei den feinsinnlichen Wahrnehmungen andere Stoffe geben, die die Wahrnehmungen bewirken. 

Wenn eine Heilerin einer Patientin die Hand auflegt, und diese fühlt sich erleichtert und erfährt eine Heilung, die auch objektiv dokumentiert werden kann, suchen wir nach dem Agens dieser Heilung, nach dem Wirkfaktor, und weil dieser nicht in einer bekannten Form der Gegenständlichkeit gefunden werden kann, nehmen wir an, er befindet sich in einem Bereich jenseits der materiellen Wirklichkeit, eben im Reich des Feinstofflichen.

Demnach muss es in diesem Reich, wenn schon nicht Stoffe, so zumindest "Energien" geben, die Wirkungen in der materiellen Welt erzeugen, z.B. die Auflösung einer Entzündung im Körper. Und es müssen diese Energien von einem anderen Sensorium als dem der fünf Sinne wahrgenommen werden können, das eben für die "feinstofflichen" Energien geeicht ist. 


Gegenständliches Wahrnehmen und Spüren


Hier stoßen wir auf eine Falle unseres gegenständlichen Denkens: Wenn etwas wirkt, muss es eine Substanz haben. Eine Billardkugel rollt nicht von selbst, wenn sie auf einer ebenen Fläche liegt. Sie braucht etwas, das sie anstößt, um in Bewegung zu kommen. Und das muss ein anderer Gegenstand sein, sonst wird es uns unheimlich: Jemand, der die Kugel mit seiner Willenskraft oder Konzentration in Bewegung bringt, flößt uns Irritation und Misstrauen ein.


Wenn etwas verändert wird, ohne dass wir eine äußere Verursachung erkennen können, nehmen wir an, dass es etwas unterhalb oder außerhalb unserer Wahrnehmungsschwelle gibt, das für die Veränderung verantwortlich ist. Wenn unsere Haut rot wird nach einem Sonnenbad, nehmen wir an, dass die Sonne die Verursacherin ist, obwohl wir die Strahlen, die für die Rötung der Haut verantwortlich sind, nicht wahrnehmen können.

Wir suchen also die Ursachen für die Wirkungen, die wir beobachten können, im Rahmen unseres Wahrnehmungsrepertoires und konstruieren dort, wo es nicht ausreicht, Analogien. 

Wir beziehen uns dabei auf den inneren Sinn als Erfahrungsquelle. Das Spüren ist der komplexeste der Sinne, der uns zur Verfügung steht. Dieser Sinn ist am wenigsten erforscht, weil er nach innen gerichtet ist und unweigerlich mit einer subjektiven Komponente verbunden ist. Außerdem verfügt er über kein eigenes Wahrnehmungsorgan, das sich objektiv untersuchen ließe, sondern beruht auf komplexen Nervenverschaltungen, die sich durch den ganzen Körper ziehen. Deshalb zeigen sich in diesem Zusammenhang auch die ungewöhnlichsten Erkenntnisse und deshalb gibt es hier auch die größten Abweichungen zwischen den Menschen. Die Innenerfahrung ist bei jedem Menschen anders. Objektive Daten über die Inhalte dieser Erfahrung zu gewinnen, stößt wegen ihrer grundlegenden Subjektivität auf die Schwierigkeit, nur schwache allgemeine Daten und Wahrscheinlichkeiten hervorbringen zu können. 

Beispiel "Drittes Auge"


Nehmen wir als Beispiel das sogenannte Dritte Auge, der Bereich oder Punkt zwischen den Augenbrauen. Dort befindet sich nach der Chakrenlehre das sechste Chakra, dem bestimmte Funktionen wie Intuition und paranormale Fähigkeiten zugeschrieben werden. Die Wissenschaft wird mit diesem "Energiezentrum" wenig anfangen können, weil (anders als z.B. beim dritten Chakra, dem Sonnengeflecht) im Bereich zwischen den Augenbrauen anatomisch 
keine Besonderheiten vorliegen, die eine privilegierte Position rechtfertigen würde.

Viele Menschen haben besondere Empfindungen, wenn sie in diesen Bereich hinspüren. Sie können wahrnehmen, ob das Chakra "offen" oder "verschlossen" ist, ob es stärker oder schwächer belebt ist, sich durchlässig oder dicht anfühlt usw. Sie können auch spüren, was sich verändert, wenn sie sich auf das Chakra konzentrieren. Sie erwarten, dass sich die Fähigkeiten, die mit diesem Bereich in Verbindung gebracht werden, verbessern, wenn sie es "öffnen", d.h. wenn sie es gut spüren können. 

Es wird andere Menschen geben, die wenig oder gar nichts wahrnehmen können, wenn sie sich auf dieses Chakra konzentrieren. Darüber zu streiten, ob es das Chakra überhaupt gibt und ob es Sinn macht, mit ihm zu "arbeiten", macht wenig Sinn, solange Menschen einen hilfreichen Wert darin finden, das zu tun, auch wenn andere nichts davon halten. Wenn die Menschen für die Beschreibung der Erfahrungen, die sie mit dieser Arbeit haben, auf den Begriff des Feinstofflichen zurückgreifen, weil ihnen ein passenderer nicht zur Verfügung steht, sollte dagegen nichts einzuwenden sein.


Der großzügige Skeptiker könnte dann z.B. sagen, dass jemand über eine Erfahrung spricht, die er selber nicht hat, und versuchen, in den Kontext der Erfahrung einzusteigen, und dort erkennen, dass der Begriff des Feinstofflichen in diesem Erfahrungskontext durchaus einen deskriptiven Wert hat. Der engstirnige Skeptiker wird die eigenen Vorurteile reproduzieren, sobald er das Wort hört.

Die eso-exoterische Kommunikation kann nur an den Berührungspunkten der Welten in Gang kommen und zu sinnvollen Erkenntnissen führen: Dort, wo großzügige oder reflektierte Skeptiker auf rational denkende Esoteriker treffen. Dogmatische Skeptiker und dogmatische Esoteriker werden schwerlich auf einen grünen Zweig kommen.

Vgl. "Energie" zwischen Esoterik und Wissenschaft
Vgl. Interne Kommunikation
Vgl. Eso-Skeptiker
Vgl. Was ist Esoterik?


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