Ich habe in dem Blogbeitrag über „Dualitäten und Illusionen“ ein Minimalmodell vorgestellt, wie das Leib-Seele-Problem „gelöst“ werden kann. Das Modell kommt aus meiner Sicht der Allgemeinvernunft unserer Zeit am nächsten und erscheint deshalb mit sehr vielen verschiedenen anderen Sichtweisen der Wirklichkeit kompatibel oder diskursreif. Es beruht auf möglichst wenigen Vorannahmen und enthält deshalb auch möglichst wenige Widersprüche. Es entspricht unserer rationalen Denkfähigkeit und deckt sich mit der raum-zeitlichen Wirklichkeitserfahrung durch unsere äußeren Sinne.
Was heißt hier die „Lösung“ eines Problems? Wittgenstein schreibt: „Die Lösung des Problems des Lebens merkt man am Verschwinden dieses Problems.“ (Tractatus logico-philosophicus 6.521) Die Lösung eines Problems kann darin bestehen, dass es nicht mehr im Weg steht, dass es also keine Brüche mit der Erfahrung aufweist. Es behindert unser praktisches Leben nicht mehr, weil wir mit ihr besser zurecht kommen können, wenn wir dieses Modell im Hintergrund haben.
Das oben erwähnte Minimalmodell erhebt in diesem Sinn den Anspruch, „praktisch“ zu sein, d.h. mit wenig Aufwand an Annahmen und Elementen über einen großen Erklärungswert zu verfügen, also viele Fragen klären und Widersprüche beseitigen zu können. Es möchte auch Sinn geben. Es erhebt allerdings nicht den Anspruch, die Welt als Ganze erklären zu können oder das einzig mögliche Modell zu sein.
Denn es deckt es nicht alle Erfahrungsbereiche ab. Wie im Beitrag über die Illusionen angesprochen, können wir in eine Sphäre des Erlebens gelangen, die über die Alltagsvernunft unserer modernen oder postmodernen Lebenswelt hinausgeht. Es ist die Sphäre der Spiritualität oder der Mystik, die wir als Zustand der inneren Freiheit bezeichnen können. Dort gibt es keine Seele und keinen Körper und damit auch kein Leib-Seele-Problem mehr. Es gibt auch keine religiösen Fragen nach dem Woher (vor der Empfängnis) und Wohin (nach dem Tod). Es ist das Eintauchen in eine raum-zeitlose Erfahrung, die deshalb alles enthalten kann, was jemals war und irgendwann sein kann. Es ist eine Erfahrung der Verbindung mit allem und jedem.
Und es ist eine Erfahrungssphäre, aus der wir ohne jedes Problem wieder heraussteigen können, aus der wir „zurück kommen“ können, so wie ein Begleiter einer Atmenden nach einer tief entspannten Atemsitzung sagen kann: Komm langsam, ganz in deiner Zeit, wieder zurück (in die Zeit und in den Raum und in den Körper). Häufig erleben wir uns dann so, als würden wir die Wirklichkeit unserer äußeren Sinne verändert und reichhaltiger wahrnehmen.
Da wir in einem derartigen Prozess erleben können, wie die Aufmerksamkeit aus der mystischen Realität der Raum-Zeitlosigkeit wieder in die Welt der Dualitäten zurückkehrt und dies verbunden ist mit der Erfahrung, in den Körper „zurück“-zukommen, ist es möglich, dass wir deshalb den Körper „verantwortlich“ für die Dualität machen, was dann die Idee bilden oder verfestigen kann, dass Körper und Seele zwei getrennte „Dinge“ sind, die in der Zeit zueinander finden und dann wieder auseinander gehen.
Die Erfahrung der inneren Freiheit jedoch gehört weder dem Körper noch der Seele, sondern sie übersteigt beide, enthält sie zwar, aber nicht mehr als Polaritäten, sondern als Elemente eines großen Spieles oder Tanzes der Existenz.
Solche Erfahrungen sind nicht in einem rationalen Diskurs kommunizierbar. Denn dieser setzt Menschen voraus, die sich im raum-zeitlichen Erfahrungsmodus befinden. Auf sie trifft deshalb der berühmte Satz von Ludwig Wittgenstein zu: „Worüber man nicht reden kann, darüber muss man schweigen.“ Er steht ja am Ende des Tractatus logico-philosophicus, gewissermaßen am Ende des rationalen Vernunftraumes. Wer darüber hinaus gelangt ist, ist oft besser beraten, über seine Erfahrungen schweigen, weil sie von denen, die den Schritt darüber hinaus nicht getan haben, nicht verstanden werden können und damit Missverständnisse unvermeidlich werden, die bis zu Kriminalisierung und Pathologisierung führen können (vgl. Spirituelles Erleben und Krankheit). Im rationalen Diskursraum können wir über alles Mögliche diskutieren, streiten, unterschiedliche Meinungen haben und trotzdem den wechselseitigen Respekt aufrecht erhalten, dass wir eine gemeinsame Vernunft und Sprache teilen.
Wir können aber keine sinnvollen Diskurse zwischen dem Innen- und dem Außenbereich dieser Diskursrealität führen, weil wir in ein strukturelles Ungleichgewicht kommen: Der, der außen steht, versteht zwar, was der im Inneren Stehende meint, weil er die Innenwelt auch kennt, während jener nicht verstehen kann, was der Außenstehende meint, weil ihm die Erfahrungsgrundlagen dazu fehlen. Der Dialog im rationalen Vernunftraum will jedoch immer wieder die strukturelle Gleichheit der Partner herstellen, weil jedes Argument grundsätzlich das gleiche Gewicht haben sollte, und sich im Spiel des Argumentierens eine gemeinsame Wahrheit bildet. Das strukturelle Gefälle, das entsteht, wenn ein Kundiger der Außenwelt mit einem eingefleischten Bewohner der Innenwelt redet, kann nur Missverständnisse und Frustrationen hervorbringen.
Dieses Dilemma hat Platon im Höhlengleichnis thematisiert. Die Personen, die in der Höhle an einem Wandschirm die Schatten von Gegenstände sehen und meinen, dass die Schatten die wirklichen Dinge sind, können nichts damit anfangen, was jemand zu sagen hat, der aufgestanden ist und aus der Höhle hinausgegangen ist und erfahren hat, wie die Dinge in Wirklichkeit sind. Sie werden auf ihn mit Verwirrung und Zorn reagieren und ihn fortjagen. Vgl. Eso-Hasser). Doch wer von der Frucht der Mystik gekostet hat und heil aus ihrer Welt wieder zurückgekehrt ist, kann nicht schweigen. Er wird Menschen suchen, die ähnliche Erfahrungen gemacht haben oder die bereit sind, die Grenzen des Vernunftraumes der Rationalität zu verlassen.
Wittgenstein setzt den oben zitierten Satz über das Verschwinden des Problems fort: „Ist nicht dies der Grund, warum Menschen, denen der Sinn des Lebens nach langen Zweifeln klar wurde, warum diese dann nicht sagen konnten, worin dieser Sinn bestand?“ Es fehlt uns die Sprache, die einen rational denkenden Menschen erreichen könnte, wenn wir aus der Sphäre der Ganzheit berichten möchten. Denn wir berichten über eine zutiefst subjektive Erfahrung aus einer Welt, die nicht vor Augen liegt, sondern sich nur dem inneren Sinn erschließt. Wir können auf nichts verweisen, was alle sehen würden, wenn sie die Augen öffnen. Vielmehr erlebt jede Person diese innere Tiefenerfahrung in anderer Weise und doch ganz ähnlicher Struktur.
So fällt die Kommunikation mit jemandem, der diese Welt kennt, nicht schwer, und deshalb sind die Aussagen der Mystiker und Weisen von einer großen Ähnlichkeit und Übereinstimmung geprägt. Sie unterscheiden sich nur dann, wenn sie über Themen sprechen, die mit dem innersten Kern der Wahrheit nichts zu tun haben, sondern in die Welt des Diskurses der Alltagsvernunft gehören, wie z.B. die Fragen nach dem Woher und Wohin. Sie unterscheiden sich auch, wenn sie ihre Methode empfehlen, den „einzig wahren“ Weg nach Shangri-La. Doch bekanntlich gibt es so viele Wege, wie es Menschen gibt.
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen