Ursprünglich bedeutete Esoterik ein Wissen, das nur einer eingeweihten Schar von Menschen bekannt ist und mündlich weitergegeben wird, unter dem Siegel der Verschwiegenheit. Es ging zumeist um Geheimlehren, die besondere Kräfte und Fähigkeiten verleihen sollten.
Im vergangenen Jahrhundert sind viele solcher Lehren an die Öffentlichkeit gelangt und haben ihren Charakter als Geheimwissen verloren. Jede Bahnhofsbuchhandlung bietet solche "Geheimnisse" an, jeder kann davon nehmen, was er will oder braucht.
Damit hat sich auch die Bedeutung des Wortes Esoterik verändert. Häufig wird es zur Ausgrenzung verwendet: Esoterisch ist eine Form des Wissens, die keine Begründung hat und unüberprüfbare Ansprüche erhebt. Wissenschaftliches Wissen ist ein solches, das von jedem nachvollzogen und nachgeprüft werden kann, das der Kontrolle durch andere unterworfen ist und falsifizierbar ist, also widerlegt werden kann.
In diesem Sinn hat sich der Charakter des Geheimen erhalten: Esoterisches Wissen, so wie wir es heute verstehen, ist zwar allen zugänglich und wird fleißig vermarktet, aber die Bedeutung dieses Wissens ist verborgen, so wie dessen Geltungsansprüche. Warum wir also das esoterische Wissen für Wissen halten und nicht für poetische Inspiration oder flüchtiges Fantasieren, ist nur dem Eingeweihten zugänglich, setzt also eine innere Haltung voraus, die nicht wissenschaftlich ist, sondern den Charakter eines Gruppenglaubens hat, ähnlich wie in den Zirkeln der geheimen Orden und Gemeinschaften des Mittelalters oder der Freimaurer. Du musst also der Gemeinschaft beitreten, und dann machen die Botschaften und Lehren einen Sinn.
Diese Gemeinschaften sind in der heutigen Zeit allerdings nicht mehr unbedingt Menschen, die sich an einem bestimmten Ort zu einer bestimmten Zeit treffen, sondern können sich auch virtuell verbinden oder einem imaginären Netzwerk von Gleich- und Ähnlichgesinnten angehören.
So sind z.B. die Anhänger der sogenannten Maya-Prophezeiungen auf der ganzen Welt verstreut und bilden keine Organisation, sondern sind Menschen, die solche Formen des Wissens ernst nehmen. Für wissenschaftlich denkende Menschen sind die diversen Zukunftsprognosen, die aus den Berechnungen und Texten der Mayas vor etwa 1000 Jahren abgeleitet werden, wertloses Wissen, weil sie auf keine überprüfbare Quellen zurückgreifen, sondern aus historischen Hinweisen Spekulationen ableiten, die Wissensstücke aus verschiedenen Zeiten und Kulturen miteinander vermixen.
Esoterisch ist also ein Wissen, das sich den wissenschaftlichen Standards entzieht und sich jedem anbietet, der auf solche Standards verzichtet. Statt dessen wird dieses Wissens frei verfügbar und kann von jedem nach der eigenen Facon variiert und übermalt werden. Handlungsrelevant wird es dort, wo das Wissen zu Konsequenzen herausfordert, die ebenso frei variierbar sind: Wenn im Jahr x die Katastrophe y1 ausbrechen wird, kann sich daraus die Handlung z1 als überlebensnotwendig erweisen oder auch die Handlung z2, wenn nicht gar z3 oder irgendeine andere. Da prinzipiell auch die Katastrophe y2 oder y3 ausbrechen kann, oder auch gar keine Katastrophe, ist es wichtig, am Szenario der Katastrophe y1 festzuhalten, sonst würde man handlungsunfähig.
Die Handlungsfähigkeit oder zumindest die Vorstellung davon dient der Bannung der Angst, die die ganze Kette in Gang setzt: Die esoterische Quelle verrät mir, dass es eine Katastrophe geben wird, das löst Angst aus. Deshalb suche ich aus der Quelle eine Handlungsmöglichkeit abzuleiten, die es mir ermöglicht, der Katastrophe zu entwischen. Damit kann ich mich auf der sicheren Seite fühlen. Ich kann weiter der esoterischen Quelle glauben und zugleich deren Folgen für mich ausschließen. Der Kelch wird an mir vorüber gehen, gerade weil ich im esoterischen Kontext bleibe, zum Unterschied von den anderen, den Ungläubigen, die der Katastrophe anheim fallen werden.
Was folgt daraus? Unter Esoterik verstehen wir Wissensformen und daraus abgeleitete Praktiken, die nicht auf Wissenschaft und nicht auf den Lehren der klassischen Religionen beruhen, sondern ihre eigenen Traditionen und Rechtfertigungen haben, die aber keine Öffentlichkeit haben, in denen die jeweiligen Ansprüche überprüft werden können. Es sind also Glaubensformen, die keine Glaubensgemeinschaften hinter sich haben, sondern frei flottierende Interessensgruppen ohne formelle Zugehörigkeit.
So kann es sein, dass jeder Mensch in unserer Kultur in gewisser Weise einer esoterischen Gemeinschaft angehört, ob er jetzt sich mit Astrologie beschäftigt, mit Wünschelruten oder Naturheilkunde. Viele glauben an Reinkarnation, ohne zum Hinduismus überzutreten, oder an Engel, ohne katholisch zu sein.
Vgl.: Die Eso-Hasser
Herzlichen Glückwunsch zur Bloggeburt, lieber Wilfried!
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ELsa