Donnerstag, 9. Oktober 2025

Parteilichkeit und Allparteilichkeit

Manchmal ist die Aussage zu hören: Man darf nicht Partei ergreifen in einem Konflikt, sonst wird man gleich Teil des Konflikts. Im Grund sind alle Seiten gleichermaßen an einem Konflikt beteiligt. Der einzige sinnvolle Standpunkt ist außerhalb des Konflikts, von dort aus kann dann niemand verurteilt werden. 

So weise diese Sichtweise klingt, so hohl ist sie als Forderung in der Praxis. Denn sie geht von einer wertungsfreien Position aus, die es nicht gibt. Wir können nicht nicht bewerten, wenn es um einen Konflikt geht, der uns emotional bewegt. Die Bewertung wird von unserem Unbewussten vorgenommen, ob wir es wollen oder nicht. Wir können uns die Bewertung bewusst machen, indem wir den Gefühlen nachspüren, die wir den Konfliktparteien gegenüber fühlen. Meistens wird es so sein, dass uns eine Konfliktpartei sympathischer ist und wir sie eher in der Opferrolle sehen. 

Das Bewusstmachen der Wertungen, die unser Unterbewusstsein vornimmt, kann uns in der Folge dazu führen, dass wir zu einer wertungsfreien Position gelangen, ohne dass dadurch die Wertungen in unserer Emotionalwelt verschwinden. Wir nehmen eine übergeordnete Sichtweise ein, durch die wir die Triebkräfte aller Konfliktparteien besser verstehen können und dann vielleicht Empathie mit allen, die im Konflikt involviert sind, empfinden. Allerdings enthebt uns diese Perspektive nicht von der Pflicht, Stellung zu beziehen, wenn im Konflikt Dynamiken im Gang sind, die die Menschlichkeit bedrohen.

Jeder Konflikt betrifft uns

Im Grund geht unser jeder Konflikt, der besteht, etwas an. Wir haben etwas damit zu tun, weil wir eben Teil der Menschheitsfamilie sind, und Spannungen in dieser Familie erzeugen auch bei uns Spannungen. Natürlich haben wir keine direkten Bezüge zu den allermeisten Konflikten in dieser riesigen Familie. Aber vor allem größere Auseinandersetzungen, die viele Opfer fordern, betreffen uns, sobald wir davon erfahren, selbst wenn wir weit vom Geschehen sind und persönlich nicht eingreifen können. Denn es ist menschliches Leid, das verursacht wird und das ein Ärgernis für das Menschheitsgewissen darstellt. Es darf uns nicht gleichgültig lassen, wenn Menschen gefoltert, vergewaltigt und umgebracht werden. Denn die Gleichgültigkeit gegenüber Leid lässt uns zum Teil der Unmenschlichkeit werden. Auch wenn es nicht in unserer Macht steht, das Leid zu lindern oder die Ursachen des Leides zu beseitigen, sind wir betroffen, denn es sind unsere Brüder und Schwestern, die ins Unglück gestoßen oder getötet werden.

Ausreden

Selbst die Rationalisierungen, mit denen wir unser Betroffensein wegwischen wollen, sind unmenschlich. Wir erfinden Gründe, warum wir nichts zu tun haben mit den Bösewichtern dieser Welt und ihren Untaten oder dass die Leidenden an ihrem Unglück schuld sind oder dass wir genug mit unserem eigenen Leben mit seinen kleinen Konflikten beschäftigt sind. Mit solchen Versuchen, uns vom Mitgefühl zu distanzieren, schneiden wir uns von dem Teil in uns ab, der weiß, was menschlich und was unmenschlich ist.

Parteinahme verengt den Blick

Bei jeder unbewusst vorgenommenen Parteinahme für eine Konfliktpartei werden Aspekte unterschlagen, sodass die Konfliktlage verzerrt erscheint. Aber wenn unser immer vorläufiges Urteil darüber klar, wer im Konflikt der Täter und wer das Opfer ist, dann müssen wir Partei ergreifen, um den Tätern eine Grenze zu setzen. Sie dürfen nicht einfach so weitermachen und noch mehr Opfer produzieren. 

Allparteilichkeit ist zwar eine Tugend, die Gruppenleiter, Konfliktmoderatoren oder Friedensstifter brauchen. Aber außerhalb dieser Rollen hat sie keinen Nutzen dort, wo Unrecht geschieht und dadurch Leid verursacht wird. Hier muss Stellung bezogen werden, sodass die Täter zur Verantwortung gezogen werden können. Sich in solchen Situationen das Mäntelchen der Allparteilichkeit überzuhängen, ist billig und feig. Wir müssen und können nicht immer mutig sein, es sollte uns aber bewusst sein, dass wir auch die Überparteilichkeit als Ausrede und Rechtfertigung missbrauchen können. 

Die Parteilichkeit enthält die Chance, Gleichgesinnte um sich zu scharen, trägt aber auch das Risiko, sich Feinde zu schaffen. Das mutige Eintreten für die Gerechtigkeit und Menschlichkeit gefällt nicht allen, vor allem jenen nicht, die von Ungerechtigkeit profitieren. Es ist besser, Feinde zu haben als die Wahrheit und die Ethik zu verraten. 

Die Grenzen der Parteilichkeit

Die Toleranz muss dort ihre Grenze haben, wo sie selbst angegriffen wird, es darf also keine Toleranz für die Feinde der Toleranz geben. Die Allparteilichkeit hat dort ihre Grenze, wo sie auf gewaltbereite und intolerante Parteilichkeit stößt. Sobald an den Fundamenten der Menschlichkeit und an den Grundrechten gesägt wird, muss Widerstand geleistet werden. Die Sichtweise der Allparteilichkeit hilft dabei, das Menschliche in den Gegnern und Feinden zu sehen, aber nicht dabei, ihnen notwendige Grenzen zu setzen.

Zum Weiterlesen:
Toleranz und ihre zweifache Grenze
Toleranz ist ein relativer Wert
Die Meinungsfreiheit und ihre Grenzen
Identitätsideologie als Gefahr für die Demokratie
Über die Notwendigkeit und die Grenzen der Parteinahme


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