Mittwoch, 1. Oktober 2025

Fundamentalistische Religion und die Korruption der Moral

Das Christentum und die Erweiterung der Ethik

Im vorigen Blogartikel war die Rede vom wichtigen Schritt von einer emotionsgeleiteten Moral zu einer vernunftbestimmten Ethik. Diese Entwicklung wurde von vielen Philosophen, beginnend schon in der griechischen Antike vorbereitet und erreichte dann im Zug der Aufklärung eine breitere Basis. 

Im westlichen Bereich spielte auch die christliche Religion eine Vorreiterrolle, indem sie die Idee der Nächstenliebe in den Vordergrund rückte und auf die Schwächeren und Benachteiligten in der Gesellschaft ausweitete. Damit forderte sie ein Überschreiten der tribalen, auf Emotionen beruhenden Moral zu einer erweiterten und verallgemeinerten Form der Empathie.

In diesem Zusammenhang stellte das Glauben die Kraft zum moralischen Fortschritt bereit. Die Menschen sollten sich einer höheren Wesenheit anvertrauen, von der die Botschaft kommt, dass allen Menschen gleichermaßen Respekt und Achtung gezollt werden soll. Der Glaube an die Führung durch eine höhere Instanz kann zu Einstellungen motivieren, die durch die ererbten Gefühlsmuster nicht zugänglich sind.

Die Aufklärung und die Vermenschlichung der Ethik

In der Aufklärung hat die Vernunft in vielen Bereichen den religiösen Glauben abgelöst; die Menschheit war zumindest in Teilen bereit, Verantwortung für eine weiter gefasste Form der Ethik zu übernehmen, die kraft ihrer Vernunft nachvollzogen werden konnte. In der Folge gelang es, Forderungen aus dieser Ethik in die Gesetzeswirklichkeit und ins allgemeine Moralbewusstsein zu übertragen. So wurde z.B. das allgemeine Wahlrecht eingeführt, die Sklaverei abgeschafft, Frauen gleichgestellt und Minderheitenrechte für ethnische Gruppen, sexuelle Orientierungen und Asylrechte festgeschrieben. Das waren große Fortschritte in der Ethik, die von vielen Menschen unterstützt wurden und den Betroffenen mehr Sicherheit und Lebenschancen gaben.

Der Anachronismus von fundamentalistischen Glaubensrichtungen

Nach der Aufklärung können nur Formen des Glaubens und der Religion, die sich mit der Aufklärung auseinandergesetzt haben, eine Funktion für den Fortschritt der Gesellschaft übernehmen. Andere Glaubensformen, in denen sich z.B. unbewusste Ängste und Schamgefühle widerspiegeln, geraten in Widerspruch zur Weiterentwicklung und damit zur gesellschaftlichen Realität. Sie bremsen also diese Humanisierung der Weltgesellschaft oder bekämpfen sie sogar, um Privilegien zu verteidigen.

Das Festklammern an den Buchstaben der göttlichen Botschaften, wie es von fundamentalistischen Glaubensrichtungen gepredigt wird (ein Anhänger war auch Charlie Kirk), ist nicht Ausdruck eines Glaubens, sondern eines ängstlichen Misstrauens in eine Welt, die als bedrohlich erlebt wird, aufgeladen von Angst schürender Propaganda. Nur die göttliche Leitung kann aus diesen Ängsten herausführen, und sie ist aus den Texten nur dann ablesbar, wenn sie wortwörtlich genommen werden. Es führt zu viel zu viel Unsicherheit, wenn noch in Betracht gezogen wird, dass die Texte von historischen Personen verfasst wurden, die in den Kategorien ihrer Zeit gedacht und geschrieben haben. Der ängstliche Kleingeist, der in solchen Positionen aufscheint, ist auch ein Kleinglaube, der ohne den Aberglauben nicht auskommen kann.

Der Missbrauch des Göttlichen für ideologische Zwecke

Aberglaube heißt in diesem Zusammenhang, dass das Göttliche, das Absolute für ideologische Zwecke missbraucht wird. Von diesem Missbrauch waren z.B. die Propheten des Alten Testaments auch nicht frei, indem sie Regelungen für das soziale Zusammenleben als göttliche Botschaften ausgaben, obwohl sie höchstens in dieser Zeit sinnvoll waren. Aber damals war das kritische Denken noch viel zu wenig entwickelt, mit dem der Unterschied zwischen relativen und absoluten Wahrheiten überprüft werden kann. Heute wissen wir um diese Form menschlicher Versuchung, subjektive oder gesellschaftlich geprägte Überzeugungen für absolute Wahrheiten zu halten. Deshalb stellt heute die Ignoranz dieser Schwäche einen Mangel an intellektueller Redlichkeit und Verantwortungsübernahme dar. Wer also im 21. Jahrhundert noch aus einer wörtlichen Auslegung von heiligen Schriften Regeln für das Leben in unserer Zeit ableiten will, begeht einen bewussten Missbrauch des Göttlichen, ist also ein Blasphemiker. Allerdings werden solche Leute dank der Aufklärung heutzutage nicht mehr verbrannt.

Die ahistorische Auslegung der heiligen Schriften führt eben zu absurden Schlussfolgerungen, indem Normen aus antiken Kleingesellschaften auf die komplexe Welt des 21. Jahrhunderts übertragen werden. Die Folge sind gesellschaftliche Spannungen und Konflikte: Minderheiten werden ausgegrenzt und beschämt statt geschützt. Die Unsicherheit bei den Betroffenen steigt, der gesellschaftliche Zusammenhalt wird brüchig.

Die ängstliche Orientierung an längst überholten Normen ist ein Zeichen der unterentwickelten Moral und führt zu einer beschämenden Beschränkung der Empathie. So hat beispielsweise Charlie Kirk die Steinigung von Homosexuellen nach dem Buch Leviticus als „perfektes Gesetz Gottes“ bezeichnet. Diese Einschätzung kann nur jemand vornehmen, der nicht berücksichtigt, dass all diese Texte in historischen Kontexten entstanden sind und dass ihre Bedeutung immer nur relativ zu diesen Zusammenhängen verstanden werden kann. Frühere Zeiten kannten grausame Bestrafungen für Delikte, die heute nur mehr die engstirnigsten Menschen stören, und die Menschheit sollte stolz darauf sein, diese Formen der Brutalität und Menschenfeindlichkeit überwunden zu haben. 

Es gibt Menschen, die einen Gott fantasieren, der sich an der grausamen Bestrafung von Menschen erfreut, wenn sie sich nicht an seine bornierten Regeln halten. Sie haben sich ein Gottesbild voll von Projektionen aus Hass- und Rachegefühlen erschaffen. Die eigenen aggressiven Gefühle werden ungefiltert auf einen Gott übertragen, der dann als jähzornige, im Grund aber als jämmerliche und armselige neurotische Person dasteht, voll von kleinlicher Rachsucht und voll von Hass auf alles, was ihm nicht gefällt. Und was ist dann das für ein Gott, der den Menschen vorschreiben will, ein Kopftuch zu tragen, oder der sich einmischt, mit wem sie ins Bett gehen? Nur eingefleischte Anhänger des Patriarchats, einer Ideologie, die für zahllose Gewaltakte verantwortlich ist, können an einen Gott glauben, der die Überordnung des Mannes über die Frau einfordert.

Die Unfähigkeit zu einer erwachsenen Ethik

Leider bleibt die ernüchternde Einsicht nicht erspart, dass bestimmte Gruppen entweder nicht fähig oder nicht bereit sind, ihr ethisches Bewusstsein auf die Höhe des 21. Jahrhunderts zu heben. Sie sind gefangen in kindlichen Moralvorstellungen, voll von Fantasien und Projektionen. Und es scheint auch so, dass diese Gruppen immer mehr Einfluss in der Öffentlichkeit einnehmen.

Dieser Befund ist aus mehreren Gründen bedauerlich und traurig. Zum einen bleibt keine Energie für die drängenden Probleme unserer Zeit, vor allem die unaufhaltsam weiter schreitende Erderwärmung, wenn moralische Verurteilungen aus vorantiken Quellen die Empörungswellen steuern. Die mediale Aufmerksamkeit und damit die öffentliche Meinung gehen dorthin, wo am meisten Lärm gemacht wird. Zum anderen wird der Fortschritt in der Moral behindert und bekämpft, der nötig wäre, um die weltweiten Probleme mit weltweitem Engagement anzugehen. Statt Hungersnöte, Flüchtlingselend, soziale Benachteiligungen einzudämmen, werden Probleme reproduziert, deren Lösungen schon längst am Tisch liegen und deren Umsetzung nur zugelassen werden müsste. 

Zum Weiterlesen:
Ethik aus der Steinzeit in der Rechtspropaganda
Religion und Vertreibung
Religion - ein Relikt?



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