Eine beliebte Masche in Debatten besteht darin, auf Kritik und Vorwürfe mit Ablenkungen zu reagieren. Leute, die diese Taktik verwenden, gehen nicht auf die Kritik ein, die ihnen entgegengebracht wird, sondern lenken sofort um auf Gegenkritik, um ihre Position zu schützen. Mit dem Gegenangriff wollen sie den Kritiker bloßstellen und sich selbst in die übergeordnete Position versetzen. Die moralische Schuld für das eigene Tun wird auf die andere Person abgewälzt, die eigene Verantwortung wird beiseitegeschoben und der anderen Person angelastet. Der Kritiker wird herabgesetzt, als jemand, der mit zweierlei Maß misst, und als Heuchler und oft sogar als Lügner verunglimpft. Durch die Abwertung sollte er als jemand dargestellt werden, der kein Recht hat, Kritik zu üben, weil er selbst ein schlechter Mensch ist.
Der Begriff des „Whataboutismus“ wurde ursprünglich im Nordirlandkrieg geprägt: Republikaner wurden auf ihre Gewalt hingewiesen und reagierten sofort mit dem Gewaltvorwurf an die Loyalisten und an die englischen Truppen und umgekehrt. Niemand kehrte vor der eigenen Tür, sondern wies auf den Dreck vor der Tür des anderen hin. Es wurde dann deutlich, dass die Sowjetpropaganda dieses Argumentationsmuster häufig verwendete. Wenn westliche Politiker oder Journalisten auf die Menschrechtsverletzungen in der Sowjetunion hinwiesen, lautete der Konter: „Und was ist mit der Rassendiskriminierung in den USA? Was ist mit den Kolonialverbrechen der Westmächte?“ Diskussionen zum Gazakrieg verlaufen kaum ohne die Ablenkungsstrategie: 8. Oktober gegen Genozid, mit diesen Begriffen werden die Schuld und die Verantwortung hin- und her geschoben. J.D. Vance hat bei seiner Rede vor der Sicherheitskonferenz in München u.a. behauptet, europäische demokratische Institutionen würden die freie Meinungsäußerung untergraben, während seine Regierung alles tut, um die Meinungsfreiheit in den USA zu beschränken. Er hat auch die hohen Zahlen von im Ausland geborenen Einwanderern in den EU-Ländern kritisiert, während die US-Bevölkerung außer den Ureinwohnern zur Gänze aus Migranten besteht.
Das Du-aber-auch-Argument
In der Rhetorik wird diese Argumentationsfigur auch als „Tu-quoque-Fehlschluss“ bezeichnet, der eine Variante des „Ad-hominem-Arguments“ darstellt, also das Umlenken einer Kritik auf die Person des Kritikers. Die Aufmerksamkeit des Publikums soll vom kritisierten Inhalt auf die Person des Kritikers verschoben werden, die auch Dreck am Stecken habe. Auf diese Weise soll der Kritiker als unglaubwürdig und unmoralisch hingestellt werden.
Innerpsychisch erleichtert der Whataboutismus das Umgehen mit der kognitiven Dissonanz, die durch jede Kritik entsteht. Denn sie weist auf einen Unterschied zwischen dem eigenen Tun und den eigenen ethischen Maßstäben hin. Sie ruft ein Schamgefühl hervor, das durch den Gegenangriff abgeschwächt wird. Der Selbstwert wird stabilisiert, indem eine überlegene Position eingenommen wird: Du hast mir gar nichts zu sagen, du bist viel schlimmer als ich.
Systematische Kritikabwehr
Autoritäre Regime setzen diese Strategie systematisch ein, um Kritik langfristig zu unterbinden: Es wird nie auf den Kritikpunkt eingegangen, sondern sofort der Kritiker als Person abgewertet und unter Umständen gleich verhaftet. Damit soll zumindest erreicht werden, dass das Publikum zu der Meinung kommt, es haben sowieso alle, die den Mund aufmachen, moralische Mängel, sodass es egal ist, wer an der Spitze ist. Die Gleichgültigkeit gegenüber der Politik erzeugt in der Demokratie ein Machtvakuum, das sich die rechten Gruppierungen aneignen und mit ihren Inhalten füllen, die sie gekonnt vor jeder Kritik abschotten. Es finden keine konstruktiven Auseinandersetzungen mehr statt, damit die Leute den Eindruck kriegen: Politiker streiten sowieso nur, sodass sie sich selbst in die Privatheit verkriechen. Die Arena ist frei für gerissene Machtpolitiker, die keine Rücksicht auf die öffentliche Meinung mehr nehmen müssen, weil es eine solche nicht mehr gibt.
Diskurszerstörung
Die Demokratie ist von Diskursen zur Willensbildung abhängig, die in einer Atmosphäre von gegenseitigem Respekt stattfinden sollen. Spielt eine Seite nicht mehr mit, indem sie sich aus vernunftgeleiteten Diskursen zurückzieht, so wird sie zunächst ausgegrenzt. Damit kriegt sie die Unterstützung von allen anderen, die sich in irgendeiner Weise ausgegrenzt fühlen, und bekommt einen Zulauf, ohne ihre programmatischen Forderungen im kritischen Diskurs bewähren zu müssen.
Die Demokratie wird mit diesen Taktiken systematisch geschwächt und ausgehöhlt, und sobald solche nicht diskursfähigen Parteien an der Macht sind, tun sie alles, was in ihrer Macht steht, um die Diskurse weiter zu unterbinden. Die Medien werden unter staatliche Kontrolle genommen und auf Regierungslinie gebracht, die Gegner werden abgewertet, lächerlich gemacht und schließlich verfolgt, und die eigene Wählerschaft wird mit Zuckerln beschenkt. Die Bevölkerung wird mit Propaganda überschüttet, bis sie in der politischen Gleichgültigkeit und Resignation versinkt.
Logischerweise gedeiht in Systemen, in denen die kritischen Kontrollmechanismen außer Kraft gesetzt werden, die Korruption. Die Machthaber bereichern sich nach Strich und Faden, wie es der gegenwärtige Präsident der USA vormacht und jener von Russland seit 25 Jahren praktiziert. Mit der Verweigerung des kritischen Diskurses durch konsequenten Whataboutismus beginnt die Entwicklung zur Beseitigung der Demokratie, im totalitären autokratischen Staat ohne Menschen- und Bürgerrechte endet sie.
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Kriegsverbrechen und Schamverdrängung
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