Dienstag, 25. Juni 2019

Gibt es Gesetzmäßigkeiten in der Geschichte?

Gibt es im Geschichtsverlauf Notwendigkeiten oder sind all die Abläufe rein von Zufällen gesteuert? Das Thema erscheint reichlich abstrakt – dennoch wirkt es bis in unsere kollektive und individuelle gegenwärtige Verfasstheit hinein. Wir Menschen sind geschichtliche Wesen, und die Art und Weise, wie wir diese Geschichtlichkeit für uns selber definieren, bestimmt, wie wir uns fühlen und wie wir die Gegenwart erleben und in die Zukunft schauen. 

Die Annahme von Notwendigkeiten im Geschichtsverlauf geht aus von der Auffassung, dass es menschenmöglich ist, den Gang der Geschichte vorherzusagen. Prinzipiell ist die Zukunft für uns unkontrollierbar und unverfügbar. Dennoch kann es Sinn machen, Modelle zu entwerfen und daraus Prognosen abzuleiten, wie bei der Wettervorhersage. In der Geschichtsphilosophie wird versucht, gesetzmäßige Abläufe oder Stufenabfolgen herauszudestillieren und daraus wahrscheinliche Weiterentwicklungen zu prognostizieren, also eine Art von Trendprognose zu erstellen. Die Grundlage liegt dabei nicht in einer summierten Auswertung von empirischen Daten, sondern in einer selektiven Auswahl unter bestimmten vorgegebenen Gesichtspunkten, um daraus einen übergeordneten Sinn zu gewinnen. 

Geschichtsdeterminismus und Gewalt 


Für Hegel, einem der einflussreichsten  Geschichtsphilosophen, bestand das Entwicklungsgesetz der Geschichte im „Fortschritt im Bewusstsein der Freiheit“. Für Fakten, die dem unerbittlichen Fortschreiten des Weltgeistes im Weg standen, hatte er wenig Verständnis. In seinem Geschichtsbild spiegelt sich der Optimismus der Aufklärung, aber auch die konservative Zufriedenheit mit dem preußischen Staatswesen der nachrevolutionären Zeit – und eine distanzierte Überheblichkeit angesichts des Leidens der Menschen („Aber auch indem wir die Geschichte als diese Schlachtbank betrachten, auf welcher das Glück der Völker, die Weisheit der Staaten und die Tugend der Individuen zum Opfer gebracht worden, so entsteht dem Gedanken notwendig auch die Frage, wem, welchem Endzwecke diese ungeheuersten Opfer gebracht worden sind.“ Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte, 1. Kapitel, hg. 1837). Karl Marx übernahm den Hegel‘schen Geschichtsdeterminismus, ersetzte aber die Bewusstseinsentwicklung durch die Entwicklung von Gesellschaftsformen auf der Grundlage von ökonomischen Zwängen. Mit dem Anspruch, Hegel vom Kopf auf die Füße zu stellen, („Das gesellschaftliche Sein bestimmt das Bewusstsein“: Vorwort zur Kritik der politischen Ökonomie, Marx-Engels-Werke Bd. 13) proklamierte er den notwendigen und unausweichlichen Fortschritt vom Kapitalismus zum Kommunismus.  

Solche Notwendigkeitsannahmen haben Umstürze und Revolutionen angestiftet, aber auch eine riesige Zahl an Todesopfern auf dem Gewissen, denn ihre Vertreter gingen oft von den Annahme aus, dass der Fortschritt keine Grausamkeiten zu scheuen hätte, weil das Leiden einer kleinen Zahl von Menschen nichts zähle im Vergleich zum Paradies für die vielen, das um jeden Preis erreicht werden muss.

Der Geschichtsdeterminismus ist aber nicht nur auf der politisch linken Seite zu finden. Auch rechte Ideologen verbreiten ihre Geschichtsmythen mit dem Anspruch der gesetzmäßigen Notwendigkeit. Hitlers „Mein Kampf“ ist voll von solchen Theorien, die einer Rasse die Vorherrschaft über alle anderen sichern sollten, was immer es auch an Menschenleben kostet. 

Deshalb aber ist Vorsicht geboten mit Theorien, die Notwendigkeiten im Geschichtsablauf dekretieren. Denn sie eignen sich in der politischen Praxis zur Tarnung von Machtgelüsten und zur Rechtfertigung von Gewalttaten. Theorien, denen eine Bereitschaft innewohnt, über Leichen zu gehen, sind an einem gefährlichen ideologischen Virus erkrankt und sollten dringend in Quarantäne gesperrt werden.

Die Notwendigkeit zur Weltverbesserung 


Mit diesem Befund hat das Notwendigkeitsmodell allerdings noch nicht abgedankt. Denn wir können andererseits erkennen, dass es eine mächtige Entwicklungsdimension zu mehr Menschlichkeit, zur Verbesserung des Zusammenlebens und zur Achtung der Individuen gibt, zu einem Fortschritt im Bewusstsein der Freiheit und in der Freiheit selbst. Ein Beispiel sind die Fortschritte in der Gleichberechtigung von Minderheiten, unterschiedlichen Rassen und geschlechtlichen Orientierungen, die mehr und mehr Staaten in ihre Gesetze übernehmen, weil es von den Zivilgesellschaften gefordert wird. Die Entwicklung und Weiterentwicklung der Menschenrechte, für die Menschen auf der ganzen Welt auf die Straße gehen und oft ihr Leben riskieren, ist keine Beliebigkeit, sondern wird von vielen als Lebensnotwendigkeit empfunden. Das Gleiche gilt für die Wiederherstellung eines ausgeglichenen Zusammenlebens zwischen der Menschheit und der übrigen Natur.

Diese Orientierung ist nicht durch etwas anderes ersetzbar. Sie kann nicht einfach außer Kraft gesetzt werden. Sie unterliegt nicht individuellen oder kollektiven Machtfantasien. Sie fügt sich nicht unserer Willkür und Geschmacksrichtung. Sie ist sogar stärker als der individuelle Überlebenstrieb. Denn als Menschen können wir uns nicht aussuchen, unmenschlich zu leben, so wie sich die Birke nicht entscheiden kann, unbirkengemäß zu leben. Menschlichkeit ist das, was Menschen zu Menschen macht und was deshalb ihrem Wesen und ihrem innersten Wollen entspricht. Folgen sie diesen Impulsen nicht, geraten sie mit sich selber auseinander, weil sie ihr Wesen verraten.

Natürlich kommt gleich der Einwand, dass viele Menschen ungeheuer unmenschliche Taten vollbracht haben und bis heute vollbringen. Das Handeln aus Gewalt, Grausamkeit, Ausbeutung, Unterwerfung, Ungleichbehandlung usw. ist nicht zu tolerieren. Es ist offensichtlich auch ein Teil des Menschseins. Im Lauf der Geschichte sind immer wieder solche Handlungen geschehen, und es wird sie wohl auch in Zukunft im Leben der meisten Menschen, uns selbst miteingeschlossen, geben, wenn wir genauer hinschauen.

Gleichzeitig ist uns klar, dass es um Willen der Menschlichkeit darum geht, solche Handlungen zu unterbinden und die Motivationen, die dahinter stecken, zu überwinden und in prosoziale Absichten umzuwandeln. Und darin sind sich tatsächlich alle einig, selbst die Täter von Untaten, sobald sie einen Schritt aus der Selbstbezogenheit setzen. Wir verstehen alle, dass ein menschenwürdiges Leben von den Prinzipien der Achtung und des gemeinsamen Wohlergehens getragen sein müsste. Und wir verstehen alle, dass wir ein solches Leben wollen und anstreben sollten. 

Einschränkung oder Offenheit 


Wir unterscheiden uns freilich darin, wie wir vom jetzigen Zustand zu dieser Utopie kommen können. Die einen meinen, dass die Menschlichkeit nur im Rahmen von sicher abgeschotteten Räumen – Nationalstaaten, Wohlstandsinseln, Reichenvierteln usw. praktiziert werden kann. Die anderen gehen davon aus, dass sich die Menschlichkeit nicht abgeschottet für eine auserwählte Gruppe verwirklicht werden kann, also mit dem Prinzip der Ausgrenzung, sondern dass die Menschlichkeit nur global, unter Einschluss aller Menschen, erreicht werden kann.

Es gibt auch unterschiedliche Auffassungen darüber, ob wir glauben, dass ein derartiges Leben der Gewaltfreiheit und gegenseitigen Achtung Überhaupt jemals eintreten könne. Manche meinen, dass der in der Natur des Menschen gelegene Egoismus immer wieder verhindern wird, dass es zu einer Menschengemeinschaft im Zeichen der Gerechtigkeit kommen würde. Andere, zu denen ich mich zähle, glauben, dass dem Menschen der Drang innewohnt, das Ego mit seinen Antrieben zu überwinden und Auswege aus den Neigungen zum Bösen zu suchen.

Die letztere Auffassung wird nicht nur durch den common sense, sondern auch durch viele empirische Befunde gestärkt, während die erstere ihre Wurzeln in der Ideologie des Wirtschaftsliberalismus nicht verleugnen kann. Gerade neulich wurde übrigens eine Studie veröffentlicht, bei der die Ehrlichkeit von Findern untersucht wurde. Die Ergebnisse waren für alle überraschend, die an den Egoismus der Menschen glaubten, denn es zeigte sich, dass die Leute gefundene Geldbörsen mit mehr Geld häufiger zurückgaben als solche ohne. (Quelle) Wir sind viel weniger “wirtschaftliberal” und viel solidarischer als viele glauben. 

Spreu und Weizen 


Wie können wir willkürlich ersonnene Ideologien und anthropologisch verankerte Notwendigkeiten im Geschichtsverlauf unterscheiden?

In unserem Leben haben wir es immer mit einer Mischung aus Notwendigkeiten und Zufällen zu tun. Alle Ereignisse, die wir in Muster und Strukturen einordnen können, erhalten den Charakter von Notwendigkeit, weil wir sie als Bestätigung für die jeweilige Struktur verstehen können. Alle Ereignisse, für die wir keine Muster und keine Strukturen haben, erleben wir als Zufälle. Wenn wir auch dafür Muster gefunden haben, in die wir sie einfügen können, sagen wir gerne: „Es gibt ja doch keine Zufälle.“ 

Sowohl das Notwendige wie das Zufällige sind Konzepte, die wir zum Verstehen der Wirklichkeit einsetzen. Die Wirklichkeit – die Natur wie die Menschheitsgeschichte – ist weder notwendig noch zufällig, oder ist beides zugleich, je nachdem, was wir in ihr finden wollen, je nachdem, wie wir sie sehen wollen. Wir müssen nur aufpassen, wenn solche Konzepte als Wirklichkeiten verkauft werden, wenn also etwas, das im Inneren produziert wurde, als Äußeres, als vorgegebene Wirklichkeit angepriesen wird. Es geht darum, herauszufinden, was die Absicht dahinter ist und wovon die Absicht gesteuert ist.

Es gibt klare Unterschiede unter den Absichten. Sind sie auf uns selber und die Vermehrung des eigenen Seins ausgerichtet oder dienen sie einem größeren Ganzen; sind sie von Überlebensängsten gesteuert oder vom Wunsch nach mehr Menschlichkeit? Das Konzept der Notwendigkeit kann in Zusammenhang mit einem Grundpessimismus gebracht werden, indem z.B. jemand Weltuntergangsideen predigt, und in der Absicht, andere Leute zu warnen, innere unaufgearbeitete Ängste in ein theoretisches Kleid steckt. Das Konzept des Zufalls kann mit der Absicht verbunden sein, die eigene Bequemlichkeit und Verantwortungsscheu zu pflegen, indem jemand z.B. in Bezug auf die Vorgänge in der Geschichte jede strukturelle Gesetzmäßigkeit ablehnt, woraus sich dann die Unsinnigkeit von jedem Engagement für eine bessere Zukunft ableitet. 

Wird hingegen das Konzept der Notwendigkeit als Ausdruck der Wachstumsbereitschaft der Menschen als Einzelne und als Gesamtheit verstanden, dann stärkt es die Kräfte, wieder im Individuum und in der Gesellschaft, die die Unmenschlichkeiten verringern und überwinden und das Menschliche vermehren wollen. 

Geschichtsbrillen 


Wir können die Geschichte mit verschiedenen Brillen lesen – mit der Brille des Pessimismus und Fatalismus, mit der Brille der Selbstbestätigung oder mit der Brille des Lernens über das Menschliche, das im Menschen liegt und damit unser Ego oder unsere kollektive Verantwortung stärken. Wir können sie mit einer rückwärts oder einer vorwärts gerichteten Brille lesen, und damit den Rückschritt oder den Fortschritt unterstützen.  

In allen Fällen sind wir gut beraten zu berücksichtigen, dass sich in der Geschichte wie in allen menschlichen Belangen Notwendigkeiten und Zufälligkeiten zeigen und dass wir beide Sichtweisen brauchen, um mit gutem Geist in die Zukunft weiterzuschreiten. Denn das Anerkennen von Notwendigkeiten kann unser Engagement für die Verbesserung der Welt anfeuern, um die Geburt des Neuen zu erleichtern. Das Anerkennen von Zufälligkeiten wird uns die nötige Bescheidenheit und den nüchternen Realitätssinn vermitteln, den wir benötigen, um angesichts der Wechselfälle des Lebens auf Kurs zu bleiben.
  
Wichtig ist es zudem, unsere Intentionen zu reflektieren, um die Gefühle aufzuspüren, die hinter unseren Einstellungen stecken und diese lenken. Bewusstheit und innere Achtsamkeit sind die Schlüsselelemente, die uns helfen, aus der Geschichte, d.h. aus unserem Gewordensein als Individuen und als Gesellschaft, die richtigen und stimmigen Schlüsse zu ziehen und auf dieser Grundlage die Entscheidungen für die Zukunft zu fällen, die unserem tiefsten Inneren entsprechen.

Wie wollen wir miteinander umgehen? Wie wollen wir zusammenleben? Die Antworten auf diese Fragen finden wir in uns selber, in der Weise, wie wir mit uns selber umgehen wollen, wie es für uns selber gut und stimmig ist. In unserem Inneren gibt es diesen Platz, aus dem Antworten kommen, die nicht beliebig und zufällig sind, sondern die nicht anders sein können. Von dort aus können wir einen klaren Blick auf die Geschichte und auf die Zukunft der Menschheit richten und unser Leben danach ausrichten. Je mehr Menschen diesen Weg gehen, desto stärker wird ein kollektives Subjekt, das die Geschichte mit den Notwendigkeiten des Menschseins in Übereinstimmung bringen kann. 

Zum Weiterlesen:
Die Dritte Aufklärung
Die Illusionsmaschine Internet
Links-Rechts - Versuch einer Unterscheidung
Evolution und Zufall
Über den Zufall

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen