Samstag, 8. Juni 2019

Die Illusionsmaschine Internet und die Ethik

Mit illusionslosem Eifer und konzentrierter linkshemisphärischer Intelligenz hat die Menschheit eine immense digitale Welt erschaffen. Ihre Zugänglichkeit und Bedienbarkeit wurde soweit vereinfacht, dass sie schon Kinder verstehen und handhaben können, um sich in ihr wie einer zweiten Welt zu bewegen. Ein Medium ist entstanden, das beinahe alles enthält, was die Menschen an Wissen und an Illusionen hervorgebracht haben und laufend erweitern.

Wie viele Erfindungen und technologischen Neuerungen hat auch diese digitale Revolution ihre Licht- und Schattenseiten. Sie brachte uns Wissens- und Illusionsmaschinen. Zu den unbestreitbar positiven Errungenschaften zählen die niederschwellige Verfügbarkeit von Informationen und die kommunikativen Möglichkeiten der Vernetzung. In diesem Sinn ist die Menschheit mehr zusammengerückt, Bildung ist demokratischer und greifbarer für viele und es sind solidarische Aktionen weltweit möglich geworden. 

Auf der anderen Seite spiegeln sich im Netz auch die dunklen Seiten der Menschen. Es wird zur Information genauso genutzt wie zur Desinformation, zur Aufklärung wie zur Irreführung und Manipulation, zur harmlosen Unterhalten und zum Vorspiegeln von Illusionen und . Zwar hat es Betrügereien und Täuschung schon immer gegeben, aber in der digitalen Welt sind die Möglichkeiten um riesige Dimensionen gewachsen. Die ungeheure und stets wachsende Fülle an Informationen, die abgerufen werden können, steht im krassen Gegensatz zur schwindenden Orientierungsfähigkeit der Nutzer. Unsinnigkeiten, Dummheiten, Lügen und Gemeinheiten stehen nahezu ununterscheidbar neben Weisheiten, Fakten und  nützlichen Informationen. 

Damit wird die Urteilskraft zur wichtigsten digitalen Kompetenz: Wie kann der Spreu vom Weizen unterschieden werden? Wie erkennen wir Desinformation? Wie finden wir zu abgesicherten und vertrauenswürdigen Quellen? Wie können wir uns im Wust und Getümmel der Angebote an Produkten, Dienstleistungen und Informationen orientieren, ohne uns selbst – und unser Selbst – zu verlieren?

Die Schwierigkeit liegt darin, dass das Medium selbst eine starke Tendenz unterstützt, vom eigenen Inneren abgelenkt zu werden. Nichts in unserem Inneren funktioniert digital, wir sind rein analoge Organismen. Das Digitale ist ein unkörperliches Produkt unseres Geistes. In seiner Sphäre spüren wir uns selbst nicht, außer wir nutzen unsere bewusste Aufmerksamkeit. D.h. die gesamte Welt des Digitalen hat einen illusionären und irrealen Charakter, auch wenn Realität und Aufklärung über das Medium transportiert werden kann. Mit diesem Widerspruch müssen wir leben lernen, insoferne als die Digitalität zu unserem Leben gehört. Das Umgehen mit dem Widerspruch kann darin bestehen, bei jeder Beschäftigung mit den digitalen Maschinen uns unserer selbst bewusst zu bleiben, indem wir z.B. immer wieder die Aufmerksamkeit auf den Atem und auf unser Fühlen lenken.


Wissen und Unwissen verbreiten


Information und Wissen haben den Dingen eine Eigentümlichkeit voraus. Wenn wir Wissen weitergeben, wird es mehr. Ich erkläre jemandem die Polyvagaltheorie. Damit entsteht ein neues Wissen in dieser Person, und auch mehr Verständnis für die Theorie in meinem Kopf. Gebe ich jemandem einen Apfel, so bleibt das ein Apfel, den ich jetzt nicht mehr habe. Ich verliere also durch das Geben. Wissen hingegen vermehrt sich mit der Weitergabe. Es wird im genauen Sinn nicht geteilt, sondern wandert mehr oder weniger als Ganzes zur anderen Person, während es bei der mitteilenden Person als Ganzes verbleibt und unter Umständen durch das Mitteilen sogar noch weiter wächst.

Was für die Information gilt, gilt auch für die Desinformation und Manipulation. Unwissen oder Antiwissen wird mehr durchs Verbreiten. Dazu kommt, dass sich die unethischen Motive (Gier, Hass, Machtstreben), die hinter dem Täuschen stecken, mit jeder Weitergabe der Falschinformation ebenfalls fortpflanzen, meist ohne Wissen der weitergebenden Menschen. Das Netz hat die Eigenschaft, dass es bestimmte Nachrichten in Windeseile und an große Menschenmengen verbreiten kann, ohne Kontrolle, ob sich die Nachricht auf erfundene oder reale Gegebenheiten bezieht. Es kann damit auch schnell enormer Schaden angerichtet werden. Denn Missinformationen schaffen Misstrauen, Desorientierung, Vorurteile, Verwirrung und Illusionen. Wo immer die Realitätsprüfung fehlt, entsteht ein Stück geistiger Welt, die keine Verbindung zur Wirklichkeit hat, sondern umgekehrt mittels ihrer Fehldeutungen die Wirklichkeitswahrnehmung verzerrt. 

Wo der Wirklichkeitsbezug fehlt, wird nicht nur die innere Wirklichkeit (die Fantasien, Illusionen, Fehldeutungen) mit der äußeren Wirklichkeit verwechselt. Außerdem werden Einstellungen geprägt, die in Handlungen übersetzt werden. Wird z.B. bei einem Menschen die Angst vor einer Katastrophe durch eine Fehlinformation erzeugt, wird die Person ihre Handlungen gemäß der Fehlinformationen ausrichten, um sich vor der vermeintlichen Gefahr zu schützen. Tendenziell wird sie auch die Menschen in ihrer Umgebung mit der Angst anstecken und auf diese Weise den emotionalen Gehalt der gefälschten Nachricht weiterverbreiten.

Es ist leicht ersichtlich, dass alle Radikalismen und extremen politischen Einstellungen sowie alle daraus resultierenden Gewaltakte und zerstörerischen Handlungen aus solchen Wirklichkeitsverwechslungen entstehen: Was im Inneren ist, wird für etwas im Außen gehalten. Die innere Wirklichkeit wird in die Umwelt projiziert. Das Böse wird im Außen identifiziert und damit wird jedes Mittel legitimiert, um es zu bekämpfen.

Damit hat die Täuschung ihr Ziel erreicht, eine Parallelwelt wurde erschaffen, die nicht mehr auf realen Gegebenheiten oder Ereignissen, sondern auf „alternativen Fakten“, also auf Fantasieprodukten beruht. Die Verwirrung ist komplett, und die Menschen sagen dann: „Man kann niemandem mehr vertrauen. Es gibt so viele Meinungen, und ich halte an dem fest, was ich glaube (also an meinen Vorurteilen).“ „Es gibt zu allem Studien, die einen sagen das, die anderen das Gegenteil, also kann man auch den Wissenschaften nicht mehr trauen. Außerdem sind die Wissenschaftler alle gekauft.“

Um die alternativen Fakten gruppieren sich die „alternativen Blasen“, die ihre Formen des Aberglaubens und der Mythologie für real halten und sich gegenseitig bestätigen. Es entstehen mehr und mehr Paralleluniversen, ähnlich wie die Bereiche unterschiedlicher Konfessionen, die nach unterschiedlichen Grundsätzen und Wirklichkeitsauffassung leben.


Paradox am rechten Rand


Paradoxon am Rande: Diejenigen, die in der gesellschaftspolitischen Diskussion die Entstehung von Ghettos und Parallelgesellschaften als Beispiele der Unmöglichkeit der Integration von Fremden kritisieren, sind jene, die sich besonders leicht in illusionären Zirkeln zusammenfinden, d.h. die, ohne es zu merken, selber in eine Parallelgesellschaft abdriften. Sie spielen zwar in einigen Belangen weiter in den allgemeinen Zusammenhängen mit, indem sie ihrer Arbeit nachgehen, Steuern zahlen und zur Wahl gehen, aber in ihrem geistigen Horizont schließen sie sich ab von dem, was in der Realität abläuft. 

Aktuelles österreichisches Beispiel: Ein führender Politiker breitet in einem Gespräch seine Pläne zum Aufbau einer Mediendiktatur und zur Korruption aus. Nachdem diese Realität an die Öffentlichkeit kommt, beginnt die Blase schnell zu reagieren, konstruiert einen Opfermythos und bagatellisiert die Realität als „besoffene Geschichte“. Auf diese Weise wird die moralische Wertung und die Zuteilung von Verantwortung verhindert und das eigene vorkonstruierte Weltbild zwischen den Guten und den Bösen bleibt bestehen, ja wird noch zusätzlich bestätigt. Viele andere sind entsetzt über das, was sich an Realität geoffenbart hat, doch die Blase hat schon längst ihre Rechtfertigung und ihren Mythos erzeugt, der sich über die Wirklichkeit stülpt wie eine Nebelwolke. Ähnlich wie eine türkische Community in einer mitteleuropäischen Großstadt, die die heimische Sprache nicht verwendet, ihre eigenen Gebräuche, Religion und Normenwelt beibehält, bildet die Blase der rechten Politikerfans eine verschworene Gemeinschaft (deshalb auch der Wahlslogan: „Wir halten jetzt erst recht zusammen!“) mit eigenen Normen und Wirklichkeitskonstruktionen, die vom Rest der Gesellschaft abgeschottet ist.


Integrität und wirkliche Wirklichkeit


Persönliche Integrität braucht einen Halt in der Realität, der verloren geht, wenn die Wirklichkeit nicht mehr von eigenen Angst- oder Wunschfantasien unterschieden werden kann. Aus Integrität wird dann moralische Beliebigkeit. Die ethischen Werte erodieren. Schließlich kann jeder alles tun, ohne dass es Folgen hat, und das, was offensichtlich amoralisch ist, wird umgedeutet, umgewertet und schließlich verherrlicht. Das ist auch das verheerende Image, das der gegenwärtigen US-Präsident pflegt und damit vielen als Vorbild für die eigene Unverschämtheit dient. 

In einer Demokratie ist es möglich, dass respektslose und unhöfliche Menschen von respektslosen und unhöflichen Menschen in die höchsten Ämter gewählt werden und von dort aus die Respektslosigkeit und Unhöflichkeit bei ihren Wählern und darüber hinaus verstärken. Im Internet bedarf es nicht einmal mehr einer Wahl, um zum Influenzer, zum Meinungsführer zu werden.  Es braucht nur genügend Clicks, Shares und Likes, schon wird der eigene Stil zum Trend und manifestiert sich in der gesellschaftlichen Wirklichkeit. Integrität und ethisches Bewusstsein ist kein Kriterium.

Umso mehr braucht es die Kraft und Klarheit der Integrität, den Anspruch der Verantwortung und Integrität hochzuhalten, ohne Kompromisse.   verträgt keine Verwaschenheit und ist immun gegen Täuschung und Verwirrtaktiken. Wollen wir die Integrität in diesem Bereich wahren, gilt es, die Mühen der Ebene auf sich zu nehmen: Quellen überprüfen, recherchieren, vergleichen, publizieren. Auch das wird durch das Internet erleichtert, es gibt mehr und mehr seriöse Seiten, die die Fake-Seiten, Hoaxes und Betrügereien beobachten und dokumentieren. Dies gilt für Propaganda, die im Netz als seriöse Information getarnt ist, Halbwahrheiten, die als ganze präsentiert werden, Wirtschaftsinteressen, die sich als Wissenschaft verkleiden, Vorurteile, die als objektive Wahrheiten verkauft werden, Fantasien, die als Wirklichkeiten dargestellt werden usw. Die kritische Prüfung braucht es überall dort, wo Meinungen und Einstellungen geprägt werden – in den sozialen Medien, bei Internet-Zeitungen, Blogs und Foren. 

Wir können uns in virtuellen oder face-to-face-Gemeinschaften gegenseitig unterstützen, um Irrtümer, Irreführungen und Täuschungen zu korrigieren und Manipulationen zu entlarven. Es geht nicht darum, neue Blasen zu bilden, sondern die bestehenden zu öffnen, sodass sie mit Realitäten und Wahrheiten konfrontiert werden. Es geht darum, integre, offene und tolerante Gemeinschaften zu bilden, Foren der Öffentlichkeit, in denen kritische Diskurse geführt stattfinden und der Prozess der Wahrheitsfindung hochgehalten wird. Selbstreflexion und Selbstkorrektur sind die unabdingbaren Voraussetzung für die ethische Verantwortungsübernahme auch im Bereich des digitalen Datennetzes und seiner kommunikativen Auswirkungen.

Zum Weiterlesen:
Hass im Internet
Der trügerische Zauber der Illusion

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