Der deutsche
Kulturphilosoph Michael Hampe fordert eine dritte Aufklärung, nach den
epochalen geistigen Revolutionen in der griechischen Antike und den geistigen
und gesellschaftlichen Umwälzungen im 18. Jahrhundert. Er spricht von einer
Inflation der Meinungen, mit der die Menschen heute mit ungeprüften und
verführerischen Informationen überschwemmt werden. Die Grenzen im inneren
Informationsmanagement werden immer schwerer zu ziehen: Zwischen Bildung, die
in einem Lernprozess erworben wird, Informationen über Fakten, die in
überprüfbaren Verfahren entstehen, und Manipulationen für Werbezwecke,
politisch, wirtschaftlich oder für die individuelle Eitelkeit („Instagramm-Selbstdarstellung“).
Während die Aufklärung
im 18. Jahrhundert nach dem berühmten Satz von Immanuel Kant „der Ausgang der
Menschheit aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit“ war, geht es heute darum,
Orientierung im Gewirr des medialen Geplappers, der bewusst gestreuten Lügen, der gezielten unterschwelligen
Manipulation und der angstgesteuerten Verschwörungstheorien zu finden. Denn
„die Überfüllung unseres Geistes mit nutzlosen Meinungen ist sogar gefährlich
für unser Leben, weil sie uns den Sinn für die orientierende Bedeutung von
Wahrheiten raubt. Ohne eine Wertschätzung von Wahrheiten durch die Mehrheit
derer, die ein aufgeklärtes Leben führen, ist diese Lebensform jedoch nicht
fortsetzbar. Eine Askese im Meinen ist deshalb ebenso empfehlenswert wie eine
gewisse Askese bei der Nahrungszufuhr.“ (S. 27)
Das Ziel
dieser Aufklärung ist nach Hampe der Schritt der Menschheit zum Subjekt ihrer
eigenen Geschichte, was die Ausweitung und Vertiefung der allgemeinen und vor
allem der interkulturellen Bildung und der Bildung in Medienkompetenz voraussetzt.
(S. 15) Diese Bildung besteht darin, dass wir bloße Meinungen in Wissen überführen: „Wissen aber wird dadurch hervorgebracht,
dass man Meinungen in bestimmten Verfahren überprüft. Die Ausführung dieser
Verfahren, der sogenannten Wahrheitspraktiken, ist mühsam und zeitraubend. Aber
an ihrem Ende steht etwas Verlässlicheres als die Meinung: Wissen.“ (S. 25)
Wissen ist ein Ergebnis von Bildung
Wissen ist
nicht nur praktischer als Meinungen, weil es längerfristig gültig ist und sich
besser in der Wirklichkeit bewährt, sondern auch, weil es mehr Bezug zu uns
selber hat, indem wir selbst für die Erzeugung des Wissens verantwortlich zeichnen.
Wir haben Lernenergie in den Bildungsprozess investiert, unser Gehirnschmalz, während
wir Meinungen irgendwo aufschnappen und ohne Denkbemühung wiederkäuen. Die
Anstrengungen des Wissens-Erwerbs lohnen sich, weil wir darin Sicherheit
gewinnen, unsere inneren Werte stärken und die Orientierungsperspektiven in die
Zukunft klären. Außerdem können wir auf dieser Basis unsere kommunikativen
Verbindungen und damit die zwischenmenschliche Solidarität vertiefen, indem
Räume des herrschaftsfreien Diskurses nach dem deutschen Philosophen Jürgen
Habermas (der übrigens dieser Tage 90 Jahre wird) eingerichtet werden. Dort
herrscht der „eigentümlich zwanglose Zwang des besseren Arguments“ statt Machtansprüchen,
die nicht argumentieren wollen, sondern blinden Glauben einfordern.
Hampe weist
darauf hin, dass die meisten Menschen von zwei Grundimpulsen angetrieben
werden: Einerseits dem Streben nach vertrauter Umgebung und nach der Absicherung
im Gewohnten, und andererseits dem Streben nach Intensität. Menschen lieben die
Beschaulichkeit, und sie suchen das Abenteuer. So ist es auch in der Welt der
Meinungen: Viele schätzen den Nervenkitzel von Verschwörungstheorien mehr als
deren wissenschaftliche Widerlegungen. Häufig befriedigen die Mythen und
Illusionen, die als Wirklichkeiten verkauft werden, das Bedürfnis nach Intensität
scheinbar leichter und besser im Vergleich zu Bildungsprozessen, die Mühe und
Disziplin erfordern.
Aufklärung hingegen
findet nicht in der Komfortzone beim abgestumpften Medienkonsum oder beim
mechanischen Scrollen auf einer bilderreichen digitalen Plattform statt,
sondern beim Abwägen, Reflektieren, Überprüfen, Vergleichen, also bei der
„Arbeit des Begriffs“ (nach Hegel), individuell und kommunikativ.
Das Ende der Grausamkeit
Ein
treibendes Motiv der Aufklärer war es immer, das Leben der Menschen
menschengerechter zu machen. Dazu gehört ganz zentral das Anliegen, die
Ausübung von Gewalt zurückzudrängen. All die Bewegungen des gewaltfreien
Widerstandes, die das 20. Jahrhundert hervorgebracht haben, sind eine Folge der
Aufklärung, weil sie zur Durchsetzung von Menschenrechten gegen eine ungerechte
und repressive Staatsmacht angetreten sind und bis heute antreten. Sie zeigen
die Macht der Gewaltlosigkeit gegenüber der Grausamkeit, die in einem Mehr an
Menschlichkeit besteht.
Das ist die
immer wiederkehrende Botschaft der Aufklärung: Brutale Machtausübung darf nicht
das Maß der gesellschaftlichen Ordnung sein, sondern kann nur eine primitive
Form der Konfliktregelung darstellen, die dringend eingeschränkt und überwunden
werden muss. Nur so kann eine Gesellschaft gebildet werden, die dem entspricht,
was Menschen aus ihrer sozialen Natur heraus wollen und brauchen. Auf der Basis
von Gewalt kann es nie zur Gleichheit der Menschen und zum sozialen Ausgleich kommen.
Der Drang
zur Intensität, der nach Hampe für den Menschen konstitutiv ist, kann leicht zu
Gewalt und Grausamkeit verführen. Die Bereitschaft, sich in Gefahr zu bringen,
wird etwa von Extrembergsteigern oder Klippenspringern ausgelebt, die
allerdings wissen, dass sie ein diszipliniertes Training für ihre Aktionen benötigen.
Sie riskieren die Erfahrung von Leid und gehen an Grenzen, freilich gestützt
auf fleißig erworbene Kompetenzen. Demgegenüber haben ungeübte und
undisziplinierte Intensitätssucher die Möglichkeiten, ihren Hang zum Abenteuer scheinbar
gefahrlos auszuleben, indem sie in den Weiten der sozialen Netzwerke ihre
Meinungen in riskanter Weise ausbreiten, nämlich hasserfüllt und grausam und
ohne persönliche Verantwortung.
Die
Hintergründe von Hassäußerungen im Internet habe ich schon eigens thematisiert.
In diesem Zusammenhang wird noch die Komponente der Grausamkeit näher beleuchtet.
Grausamkeit bedeutet, dass anderen Menschen Leid zugefügt werden soll, aus
welchen Motiven auch immer, oft auch verbunden mit einer Lust an der Demütigung
und am Leiden anderer. Für Grausamkeiten gibt es keine Rechtfertigung, sondern es
handelt sich um ein Laster, eine gravierende menschliche Schwäche, die in allen
Bereichen individuell und kollektiv überwunden werden muss. Die Frage, ob die
Menschen eine Disposition zur Grausamkeit in ihrer Erbsubstanz haben oder ob
Grausamkeit nur entsteht, wenn aufgearbeitete Traumatisierungen wirksam werden,
muss hier nicht geklärt werden; klar ist, dass äußere Umstände notwendig sind,
die die Ausübung von Grausamkeit erlauben, wie z.B. der Krieg, und wie auch in
geringerer Ausprägung die anonyme Welt der sozialen Medien.
Kultur der Intensität
Deshalb muss
die Aufklärung auch und gerade in diese Bereiche hineinwirken. Zum einen besteht
sie im täglichen Geschäft der Informationsprüfung, um Klarheit in den Fluss der
konkurrierenden Meinungen zu bringen. Zum anderen braucht es eine Kultur der
Intensität, also eine Bildung im Bereich der Sensationslust und der
Ereignisfixierung. Sie kann darin bestehen, herkömmliche Kulturtechniken wie
das Lesen von Büchern, das Argumentieren und das Recherchieren mehr zu pflegen
und damit einen Ausgleich zur digitalen Reizüberflutung zu schaffen. Wir sind
auch gefordert, neue Formen des Austausches und der Kommunikation zu erfinden,
die die Prinzipien des herrschaftsfreien Diskurses beachten und wirksame
Gegengewichte gegen die Gewaltaufladung in den Netzwerken bilden können. Wir
können die Intensität in der Bildung und im gewaltfreien Diskurs, in der
Neugier und im Interesse finden, und werden in diesen Formen mehr Befriedigung
als im Ausleben von Grausamkeit finden.
Literatur:
Michael Hampe: Die Dritte Aufklärung. Nicolai, Berlin 2019
Jürgen Habermas: Theorie des kommunikativen Handelns. Suhrkamp, Frankfurt 1981
Zum Weiterlesen:
Die soziale Utopie als Hoffnungsträger
Die Illusionsmaschine Internet und die Ethik
Hass im Internetzeitalter
Michael Hampe: Die Dritte Aufklärung. Nicolai, Berlin 2019
Jürgen Habermas: Theorie des kommunikativen Handelns. Suhrkamp, Frankfurt 1981
Zum Weiterlesen:
Die soziale Utopie als Hoffnungsträger
Die Illusionsmaschine Internet und die Ethik
Hass im Internetzeitalter
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