„Ich habe heute zufällig XY getroffen…“ –
„Nein, nein, Zufälle gibt es nicht.“
So verläuft die Konversation vorhersehbar,
wenn wir es mit esoterisch vorgebildeten Menschen zu tun haben. Was hat es also
mit diesem Zufall auf sich, den es gar nicht geben soll?
Als zufällig bezeichnen wir Ereignisse, die
wir nicht vorhergesehen und erwartet haben, die nicht einer Folgerichtigkeit
oder, was häufig als Gegenbegriff zum Zufall gilt, einer Notwendigkeit
entspringen. Wenn mir ein Teller aus der Hand gleitet, kann ich mich schlecht
auf den Zufall ausreden, wenn dieser dann tatsächlich am Boden zerschellt. Wenn
ich das Geld in den Automaten werfe und der Fahrschein herauskommt, glaube ich
auch nicht an den Zufall, ebenso wenig, wenn sich jemand bedankt, dem ich einen
Gefallen getan habe.
Zufall ist es dann, wenn ich die Regel
nicht erkenne, nach der etwas abläuft und eine überraschende Wendung dadurch
eintritt. Zufällig habe ich XY getroffen, den ich etwas fragen wollte, noch
bevor ich ihn anrufen konnte. Zufällig schreibt die Zeitung über ein Thema, das
mich gerade beschäftigt. Zufällig fällt irgendjemandem der Lottogewinn zu und
nicht mir.
Manchmal spielt der Zufall gut mit mir,
manchmal nicht, d.h. manchmal bin ich zufrieden mit dem, was auf diese Art
passiert, manchmal nicht. Der Zufall liegt jedenfalls jenseits meiner
Verantwortung. Niemand kann mich zur Rechenschaft ziehen oder belangen, wenn
etwas aus Zufall geschieht, wenn z.B. der Bus verspätet war oder der Computer
abgestürzt ist.
Soweit unser Alltagsleben und der Zufall.
Welche Rolle spiegelt der Zufall in größeren Zusammenhängen, z.B. in der
Wirtschaft? Verläuft sie nach Gesetzmäßigkeiten, die vorausberechnet werden
können, oder sind die wirtschaftlichen Vorgänge regellos und ohne
Folgerichtigkeit? Jeder Produzent, der sich mit einer Ware auf den Markt
begibt, möchte damit Erfolg haben und einen guten Gewinn mit nach Hause nehmen.
Er wird dazu die Strategie auswählen, die ihm den größten Erfolg verspricht. Es
kann jedoch sein, dass die Kunden, die an seinem Produkt interessiert sind,
gerade an dem Tag, an dem er es feilbietet, keine Zeit haben und erst am
nächsten Tag vorbeikommen. Jedoch könnte der Produzent schon nach dem ersten
Tag wegen des Misserfolgs frustriert das Handtuch werfen und meinen, dass sich
niemand für sein Produkt interessiert. Woher soll er auch wissen, dass gerade
am nächsten Tag tolle Geschäfte winken? Die Zukunft ist nicht vorhersehbar.
Wir könnten unserem Produzenten raten, auf
seine Intuition zu hören. Sie verspricht uns ja, die Unvorhersehbarkeit der
Zukunft auszutricksen. Doch vielleicht ist es gerade seine Intuition, die ihm
sagt, dass er am nächsten Tag zuhause bleiben soll, statt den ganzen Tag am
Marktplatz zu verbringen? Woher soll die Intuition wissen, was am nächsten Tag
passieren wird? Vielleicht finden die potenziellen Kunden erst nach fünf Tagen
auf den Markt?
Natürlich versuchen die Marketing-Experten,
die Abläufe am Markt überschaubar zu halten. Bevor ein Produkt eingeführt wird,
finden umfangreiche Tests statt, ob es die Kunden annehmen. Doch gibt es keine
Garantie gegen einen Flop. Zuerst sind alle begeistert und wollen das neue
Produkt, doch bald rennen sie zur Konkurrenz, und die Ware muss verramscht
werden. Schlechtes Marketing oder einfach Pech? Notwendigkeit oder Zufall? Das
zeigt sich bei den wirtschaftlichen Entscheidungen immer erst im Nachhinein.
Kein Marketing-Manager plant eine schlechte Kampagne. Nur erkennt er manchmal
erst dann, was falsch läuft, wenn es zu spät ist. Also macht er es beim
nächsten Mal anders, berücksichtigt den Fehler, aber kann diesmal aus ganz
anderen, wieder unvorhersehbaren Gründen, scheitern. Und dann steht der
Firmenchef vor der Frage, den Marketing-Leiter zu feuern oder darauf zu hoffen,
dass die nächste Kampagne endlich den Durchbruch bringt. Was denkt der Chef,
wenn er den Mann verabschiedet und erfährt, dass dieser bei der neuen Firma als
Genie gefeiert wird?
Ist also der, der in der Wirtschaft
erfolgreich ist, einfach jemand, der Glück hat, dem die Zufälle zufallen?
Natürlich muss die Basis stimmen, das, was wir die Leistung nennen, das Wissen,
die Arbeit, der unermüdliche Einsatz. Aber ob das alles zum großen Durchbruch
führt, zum Supergewinn, steht auf einem anderen Blatt. So viele Menschen
bringen ihre Leistung, und so wenige kommen nach oben, und ganz nach oben fast
keiner.
Vielleicht schauen wir deshalb so gerne
Quiz-Sendungen im Fernsehen an: Die Kandidaten müssen etwas leisten, sie müssen
im Schweiß ihres Angesichts Antworten auf die belanglosesten Fragen finden, die
sie sich in ihrem Leben sonst nie stellen würden. Die Aufgaben sind
unvorhersehbar und tauchen zufällig aus einer Kiste oder aus einem Computer
auf. Die Kandidaten können sich auf vieles vorbereiten, aber nie auf alles. Und
wenn dann der klügste und wissendste Kopf an einer Frage scheitert, wer wann
gegen wen welches Tor geschossen hat oder wer wann in wen verschossen war,
spüren wir Bedauern und gleichzeitig Erleichterung – niemand ist gegen den
Zufall gefeit. Er ist mächtiger als alle unsere Leistungen. Wenn wir in unserem
Leben gewinnen oder wenn wir verlieren, verdanken wir es nicht unseren
Fähigkeiten, sondern den Wechselfällen des Glücks oder Unglücks, dem, was wir Zufall
nennen. Der Zufall entschuldigt uns vor unserem inneren Kritiker, dem
verinnerlichten Wirtschaftssystem.
Also spiegelt die Quiz-Sendung dieses Wirtschaftssystem
und seine Gegebenheiten. Der Tüchtige bringt es weiter als der Untüchtige und
scheitert doch irgendwann selber an den Undurchschaubarkeiten des Marktes. Dazu
kommt: Wo der Tüchtige nicht mehr weiter kommt, gibt es einen objektiven Grund,
eine schicksalshafte Notwendigkeit: Es gibt nur den einen höchsten Berg von
Patagonien und den einen Erfinder der Schaumrolle, und wer das nicht weiß, ist
nicht für die höchsten Weihen ausersehen. Deshalb empfinden wir auch eine
Befriedigung des Gerechtigkeitssinns, wenn der Tüchtige scheitert. Unser
eigenes Scheitern ist dann nicht mehr so schlimm. Und: Tüchtig ist, wer den
Erfordernissen des Systems am besten entsprechen kann. Sobald sich diese
ändern, und der Tüchtige diese Änderung nicht mitmachen kann, geht auch er
unter. Das System ist immer mächtiger, dagegen haben wir nie eine Chance.
Ähnlich bei den Talenteshows, bei denen die
Kandidaten nacheinander rausfliegen: die Kriterien sind „objektiv“, eine
allmächtige Jury oder ein anonymes Publikum entscheiden, die Talente bringen
ihre Leistung, mag sie noch so toll sein, irgendwann ist dann Schluss, und das alles
entzieht sich ihrer Macht und Kontrolle.
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