Samstag, 27. April 2019

Selbsthass: Sich selbst der ärgste Feind zu sein

„Ich bin mir selbst mein ärgster Feind“, diesen Satz hören wir manchmal, und er führt uns auf die Spur des Selbsthasses. Tatsächlich können wir am unbarmherzigsten mit uns selber sein, denn wir können uns nie entkommen. Wenn uns jemand anderer schlecht behandelt, können wir ihm aus dem Weg gehen; wenn wir uns selber feindselig gegenübertreten, gibt es keine Ausweichmöglichkeit, und die Verteidigung gegen die Angriffe ist auch äußerst schwierig. Wir laufen herum wie spätmittelalterliche Selbstgeißler, die sich permanent für ihre Sünden bestrafen und nie überlegen, ob das, was sie da tun, nicht selbst sündhaft sein könnte.

Der Selbsthass ist die stärkste und ärgste Form der Selbstverleugnung und
Selbstabtrennung. Wir machen uns selbst zu unserem eigenen Gegner und Feind. Wir wünschen uns selbst die Auslöschung. Selbsthass äußert sich in quälenden und selbstabwertenden Gedanken und Gefühlen, Schuldkomplexen und Selbstanklagen. Wir sind uns selbst das leidende Opfer auf der einen Seite und der vernichtende Täter auf der anderen.


Selbstkritik am Anderssein


Die amerikanischen Psychologen Robert und Lisa Firestone haben herausgefunden, dass der am weitesten verbreitete selbstkritische Gedanke bei den Testpersonen ist: „Du bist anders als die anderen“, aber in der abwertenden Form: „Du gehörst nicht dazu, du bist schlechter, weniger hübsch oder intelligent“ usw. Natürlich ist jeder anders, aber im Grund gleich wertvoll und gut. Doch der innere Kritiker, die Instanz in uns, die diese Vergleiche vornimmt, gibt ihnen die negative Färbung. Dieser Persönlichkeitsteil agiert als Anti-Selbst, als perfider Coach, der nicht unseren Erfolg und unser Weiterkommen im Leben will, sondern unser Scheitern. Er kann Sätze erfinden wie: „Ich werde es nie schaffen.“ „Das wird nicht gut enden.“ „Ich werde nicht geliebt, die anderen tun nur so, also sollte ich ihnen nicht vertrauen.“ Damit kann der innere Kritiker unser Leben an allen Ecken und Enden sabotierten.

Eine US-Studie mit mehr als 3.000 jugendlichen Mädchen zeigte, dass sieben von zehn glauben, dass sie nicht gut genug sind. Sie haben das Gefühl, dass sie sich in Bezug auf ihr Aussehen, ihre Studienleistung und ihre persönlichen Beziehungen nicht mit anderen messen können. Die gleiche Studie zeigte, dass 75 Prozent der Mädchen mit geringem Selbstwertgefühl „negative Aktivitäten wie ungesunde Essensgewohnheiten, Ritzen, Mobbing, Rauchen oder Trinken ausüben, wenn sie sich schlecht fühlen“. Nach anderen Studien beschränkt sich dieser Mangel an Selbstwert nicht auf die Gruppe von adoleszenten Mädchen, sondern ist weit in vielen anderen Bereichen der Gesellschaft verbreitet. 

Es ist eben nicht überraschend, dass der Selbsthass leicht in selbstschädigendes Verhalten mündet: beginnend mit Fehlleistungen, Unfällen und Ungeschicklichkeiten über selbstverursachte Misserfolge und Karriereabbrüche bis zu Drogenabhängigkeit, Selbstverletzungen und Selbstmord. Hass will Vernichtung, und vernichtet werden soll alles Selbständige, Individuelle am eigenen Leben. 

Aber auch Störungen und Krankheiten können der Ausdruck einer zerstörerischen Beziehung zu sich selbst sein, am augenfälligsten am Beispiel der Bulimie und der Magersucht. Viele andere Erkrankungen können auch durch die Komponente einer aggressiv abwertenden Selbstbeziehung verursacht oder mitverursacht sein, z.B. Krebs, bei dem sich bestimmte Körperzellen aggressiv auf Kosten der anderen vermehren, oder Autoimmunerkrankungen, bei denen das Immunsystem Entzündungen produziert statt sie zu heilen. Wie auch soll sich ein Körper gesund entwickeln können, wenn derart massive Spannungen und Konflikte zwischen Körper und Geist vorherrschen?

Fast unweigerlich wird auch die Seele in Mitleidenschaft gezogen. Der Selbsthass geht sehr oft mit Depressionen einher, weil die in sich kreisenden selbstabwertenden Gedanken soviel Energie in Anspruch nehmen, dass die eigene Lebendigkeit immer geringer wird und die Quellen und Ressourcen immer unzugänglicher werden. Zudem wird es immer schwieriger, nach außen zu gehen, um selbstwertstärkende Beziehungen zu anderen Menschen aufzunehmen, was wieder die Spirale nach unten zieht. Im extremen Fall kann sich die Persönlichkeit multipel in voneinander unabhängige Teile aufspalten.



Die Wurzeln des Selbsthasses


Wer die früheren Beiträge über den Hass gelesen hat, wird nicht verwundert sein, dass auch beim Selbsthass die Ursachen in den frühen Lebensjahren liegen und den Hass und die Ablehnung spiegeln, die von den Bezugspersonen entgegengebracht wurden. Kinder, die hochgesteckten Erwartungen entsprechen sollen und nicht können, die für Ungeschicklichkeiten strenge Kritik bekommen, die laufend auf Fehler hingewiesen werden, ohne dass ihre Leistungen Anerkennung finden, können schwer einen stabilen Selbstwert entwickeln. Die Grundlagen für die Unterbrechung der Selbstbeziehung können noch früher angelegt sein, z.B. wenn ein Kind nicht gewollt war oder einen Abtreibungsversuch überleben musste. Die Ablehnung des eigenen Lebens oder des eigenen Wesens zieht schwere Verletzungen der eigenen Integrität und Würde nach sich, Wunden, aus denen dann der Selbsthass entstehen kann. 

Denn der eigene Wert bemisst sich daran, wieviel Wertschätzung entgegengebracht wurde, vor allem in den frühen Lebensphasen. Besteht ein hoher Mangel, wird auch die Basis für die Selbstachtung sehr schwach und die Wurzel für Selbsthass ist gelegt. Es kann sein, dass das Kind dann besonders bedürftig nach Anerkennung wird, aber sich dadurch noch mehr Ablehnung einhandelt, vor allem in den Kinder- und Jugendlichengruppen, in die es dann kommt. Denn Kinder können oft erbarmungslos auf die Schwächen ihrer Gleichaltrigen reagieren, und dann kommt es schnell zum Mobbing. Wer nicht genügend Selbstbewusstsein aufbringt, wird von der Gruppe an den Rand gespielt. Das kann den Selbsthass noch weiter steigern, weil die Betroffenen die ganze Schuld an der Ausgrenzung auf sich nehmen.


Narzisstische Netze


Was ist der Grund, warum der Selbsthass so viel mit dem Anderssein und Nicht-Dazugehören zu tun hat? All die Abwertungen und Herabsetzungen, die wir im Lauf der Kindheit erleben, all die Bedrohungen, denen wir durch Ablehnung und Nicht-Gewolltsein ausgesetzt sind, haben damit zu tun, dass wir meinen, nicht so sein zu dürfen, wie wir sind. Wir sind in unserem Wesen geschaffen und entwickeln uns auf unsere Weise. Wir haben es aber mit Menschen zu tun, von denen unser Überleben abhängt, die ihre Erwartungen und Projektionen wichtiger nehmen als uns und unser Sein. Wir sollen uns diesen Erwartungen anpassen und schaffen es immer wieder nicht, weil wir nicht dauernd gegen uns selbst agieren können. 

Deshalb ist es so schlimm, anders zu sein als die anderen. Wir meinen, nur wenn wir so sind, wie es die anderen, vor allem die Eltern, später die anderen Kinder, die Lehrer und andere Autoritätspersonen, von uns wollen, werden wir akzeptiert und dürfen dazugehören und uns sicher fühlen. Weichen wir davon ab, dann steht unser Überleben in Frage und wir sind mit Existenzängsten konfrontiert. 

Dazu kommt, dass Kinder die Selbstkritik und Selbstablehnung, die die Eltern sich selber gegenüber bewusst oder unbewusst entgegenbringen, spüren können und auf sich selber beziehen. Wenn die Eltern an sich selber leiden, meinen die Kinder häufig, sie würden an ihnen und ihrem Verhalten leiden. Um den Eltern ihr Leben leichter zu machen, übernehmen die Kinder den Hass, indem sie – auf der unbewussten Ebene – zu sich selber sagen: Ich hasse mich ohnehin selber, da braucht ihr euch nicht mehr so viel über euch selber und über mich zu ärgern. Was die Eltern an sich selbst nicht mögen, möchten die Kinder besser machen, scheitern aber oft daran, und lehnen sich dann gleich selber wieder mehr ab.

Immer also, wo Kinder in die Netze des Narzissmus geraten, in die Fänge der Projektionen, opfern sie ihre eigenständige Entwicklung und ihre Selbstannahme. Statt dass sich ein autonomer Wille aufbaut, werden die äußeren Erwartungen als innere Autorität errichtet. Der innere Kritiker etabliert seine Diktatur mit der Überzeugung, das Überleben zu sichern. Selbstzweifel und Selbsthass dienen wie ein scheinbar natürliches und notwendiges Mittel für diesen Zweck. 

Das Leben wird zunehmend zu einem mühsamen Überlebenskampf, mit wenig Hoffnung auf Besserung, viel Selbstzweifel und Verzweiflung und subjektiv überinterpretierten Misserfolgserlebnissen. Mehr und mehr dominiert der innere Kritiker, manchmal in seiner harschen und direkten Form: „Was bin ich für ein Idiot?“, manchmal versteckt: „Ach, jetzt gönn ich mir noch ein Bier, wenn das Leben schon so schwer ist!“ Um gleich drauf wieder loszuschlagen: „Jetzt habe ich schon wieder über den Durst getrunken, was bin ich für ein Charakterschwächling.“ 

Auf diese Weise wird der innere Abwerter von einem Persönlichkeitsaspekt zu dominanten, tonangebenden Stimme im inneren Konzert, zum Scheinselbst, mit dem die stärkste Identifikation vorliegt: „So bin ich eben, ich kann nicht anders. Ich werde mich nie ändern.“ Der Pessimismus und die Resignation, die mit der Herrschaft des inneren Kritikers einhergeht, werden auf das ganze eigene Leben und auf die Umgebung ausgedehnt – auch die Entwicklung der Menschheit und der Gesellschaft wird pessimistisch und resignativ gesehen.


Aus dem Selbsthass entrinnen


Hier folgt ein Übungsprozess, der dazu dient, die Macht des inneren Kritikers zu schwächen und damit den Selbsthass zu befrieden. Er ist einem Leitfaden von Robert und Lisa Firestone nachempfunden.
1. Schritt: Die Stimme des inneren Kritikers wird zuerst distanziert und damit die Identifikation gelockert. Die Sätze, die mit Ich beginnen, werden auf Du-Botschaften umformuliert: Statt: „Ich habe schon wieder versagt“, kommt „Du hast schon wieder versagt.“ Damit wird die kritische Stimme von ganz innen ein Stück nach außen gerückt und verliert an Macht. Es fällt dann leichter, auf den Ton der Stimme zu hören und herauszufinden, welche Person aus der früheren Zeit dahintersteckt. 
2. Schritt: In einem zweiten Schritt kann dann der Abwertung eine Aufwertung gegenübergestellt werden. „Du bist ein Idiot!“ „Nein, ich bin ein intelligenter Mensch und lasse mich nicht abwerten.“ Es kommt also zur Gegenwehr, der Selbsthass wird nicht einfach mehr geschluckt, sondern aktiv zurückgewiesen. 
3. Schritt: Im nächsten Übungsteil kann dann ein realistisches Selbstbild aufgebaut werden. „Ich bin nicht vollkommen und mache manchmal Fehler, wie alle anderen auch. Ich bin ein netter Mensch, auch wenn ich mich manchmal ärgere …“ An die Stelle der einseitigen negativen Selbstsicht tritt eine differenzierte und abgewogene Selbsteinschätzung, womit sich die Person mental wieder mehr in die menschliche Umgebung eingliedert. Menschen sind unterschiedlich, jeder ist anders, jeder hat Schwächen und Stärken.
4. Schritt: Das Verhalten kann sich jetzt zunehmend dem neuen Selbstbild anpassen. Die Handlungen erfolgen nicht mehr unter dem Druck des inneren Kritikers, sondern aus dem eigenen Wollen und aus der Rücksichtnahme auf unsere Umgebung. 


Zurück zu uns selber kommen


Diese Schritte in der Distanzierung des inneren Kritikers sind zugleich Schritte auf sich selbst zu, sie nehmen Bezug auf die wertvollen Aspekte und Seiten der eigenen Persönlichkeit. Sie erleichtern die Veränderung des eigenen Verhaltens. Wenn der innere Kritiker mit seiner Macht oft bewirkt hat, Fehler zu machen, um sich in seiner Kritik bestätigen zu können, so gelingt es jetzt, weniger Fehler zu machen und mehr aus ihnen zu lernen. Wenn der innere Kritiker behauptet hat, es mit einem Idioten zu tun zu haben und deshalb Handlungen initiiert hat, die idiotisch waren, so ist jetzt Schluss damit und die eigene Vernunft kann wieder mehr Einfluss auf die eigenen Handlungen gewinnen. Dadurch wird es möglich, in der Außenwelt ein besseres Bild abzugeben und dadurch mehr Anerkennung zu bekommen. Auf diese Weise wird ein positiver, selbst bestätigender Regelkreis in Gang gesetzt. Der Selbsthass wird schwächer und es wird deutlicher wahrgenommen, wenn er sich wieder einmischen möchte. Mehr und mehr gelingt es, seine destruktive Stimme gleich im Ansatz zum Verstummen zu bringen.

Zugleich wird die eigene kreative Lebensorientierung gestärkt, das Leben gemäß den eigenen Werten, Zielen und Visionen. Der innere Kritiker wird zu einer Instanz unter vielen, der nur mehr für die Korrektur von Fehlern, Irrtümern und Irrwegen im Manifestationsprozess herangezogen wird. Die steuernde Instanz ist das eigene, von innen kommende Wollen, das sich mit den Impulsen, die aus der Umgebung kommen, verbindet.

Überall dort, wo sich der Selbsthass zurückzieht, fließt automatisch die Selbstliebe ein, die gewissermaßen nur darauf wartet gespürt zu werden, weil sie unser eigentliches Wesen zum Ausdruck bringt und unsere gesunde Selbstbeziehung verkörpert, an der wir uns mit uns selber erfreuen können. Statt uns selbst abzulehnen, genießen und freuen wir uns an uns selbst. Wir werden zu den besten Freunden von uns selbst. 

Aus dem Feld der Selbstannahme entstehen die sinnvollen und kreativen, unseren Mitmenschen gegenüber respektvollen Handlungen. Gerne tragen wir unseren kleinen Teil zur Weiterentwicklung bei und fühlen uns dabei wertvoll und verbunden.

Zum Weiterlesen: 
Hass und Liebe: Vom Mangel zur Fülle
Mitgefühl mit uns selbst
Über den Ursprung des Bösen und des Hasses
Liebe und Hass: Eine Polarität

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