Dienstag, 30. April 2019

Über die Willkür im Umgang mit dem Absoluten

Die absolute Wahrheit überlebt die Übersetzung in die relative Sprache nicht. Und dennoch braucht sie immer wieder diese Übersetzung. Denn sonst bleibt sie privat und im Inneren der erlebenden Person verschlossen. Damit möglichst viel vom authentischen Gehalt der Wahrheit erhalten bleibt, ohne missverständlich zu werden, bedarf es der Sorgfalt bei der Übertragung vom Absoluten ins Relative.

Für diesen Zweck steht die spirituelle Vernunft zur Verfügung. Sie ist eine Instanz, die an der Grenze des Absoluten angesiedelt ist und die Vermittlung zur Alltagsrealität der Menschen darstellt. Im Lauf der gesamten Menschheitsgeschichte haben einzelne Personen versucht, tiefe spirituelle Erfahrungen an ihre Mitmenschen weiterzugeben – Schamanen, Propheten, Weisheitslehrer, Mystiker, Religionsgründer. Sie waren mit diesem Dilemma konfrontiert und haben es auf unterschiedliche Weise gelöst. In diesen Lösungsversuchen liegt der Reichtum der spirituellen Vernunft. Sie verhindert, dass sich die allzu menschliche Willkür in die spirituellen Belange einmischt und zu Missverständnissen führt, die dann Ideologisierungen jeder Art Tür und Tor öffnen können. Dafür gibt es auch jede Menge Beispiele aus der Geschichte.

Wir können uns das Wirken der spirituellen Vernunft wie ein Filter verstehen, der möglichst viel vom eigentlichen Gehalt bewahren und Unklarheiten beseitigen möchte. Gefiltert wird immer, wenn von einer Sprache in die andere, und erst recht, wenn von einem Bereich des Geistes in einen anderen übersetzt wird. Es kommt aber darauf an, wieviel an menschlicher Vernunft, Reflexivität und Klarheit in diesen Prozess einfließt.

Hier ein Beispiel: Der Blogger Frank schreibt als Niluxx auf seiner Seite
„Jeder von uns lebt das Leben, was er/sie vorab geplant hat. Als das Höhere Selbst schrieben wir vor langer Zeit unser Script des Lebens. Wir wussten genau, wie sich unser Leben zum kleinsten Detail erschöpfen würde. Wir, in unserer gegenwärtigen Ego-Bedingung, in diesem Körper lebend, sind einfach eine Verlängerung oder Aspekt unseres Höheren Selbsts, das hierhergekommen ist, um es zu erschöpfen. Es existiert ein „göttlicher“ Plan im Hintergrund. Das Höhere Selbst, was nichts anders ist als Sie, schrieb dieses (mentale) Drehbuch, und Sie in Ihrem jetzigen, irdischen Aspekt sind der Schauspieler, um es auszuspielen. Sie erleben es aus erster Hand, wie Ihr Leben durchgeführt wird.
In der linearen Zeit sehen wir Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft als getrennte „Geschäftsbereiche“ der Zeit. Aber in „sphärischer Zeit“ gibt es keine Divisionen. Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, alle existieren im gegenwärtigen Augenblick.
Die Zukunft ist bereits geschehen. Es ist wie ein Film, der bereits hergestellt wurde. Wir haben uns den Film in linearer Zeit, vom Anfang bis zum Ende, anzusehen. Aber das Ende ist bereits gefilmt worden. Also, wir leben unser Leben wie in einem Film, in linearer Zeit, vom Anfang bis zum Ende. Aus dieser Perspektive gibt es keinen freien Willen, trotzdem erscheint es so. Entscheidungen werden im Film wie im Leben getroffen.“

Subjektivität oder absolutes Wissen?


Der Autor bedient sich einer Darstellungsweise voll von absoluten Feststellungen, ohne Ausweis der Berechtigung, z.B.: „Es existiert ein „göttlicher“ Plan im Hintergrund.“ Die Überzeugung, die hier zum Ausdruck kommt, gründet auf nichts als auf der Behauptung selbst: Etwas existiert, weil ich es sage. Es ist nicht einmal unterscheidbar, ob es sich hier um eine subjektiven Gewissheit handelt oder einfach nur um eine willkürliche spontane Aussage, die unsinnig ist. Jedenfalls geht es um eine Einsicht, die keine Wirklichkeit als Erkenntnisgrund ausweisen kann als die eigene Subjektivität. Denn die Existenz des „göttlichen Plans“ entzieht sich der Verifizierung. Sie ist ja nirgends auffindbar, außer als Idee in unserem Kopf, der alles Mögliche und Unmögliche erfinden kann. 

Andere Menschen können sich dieser Einsicht anschließen und sie teilen oder auch nicht, ohne dass ein Grund für das Eine oder das Andere genannt werden kann. Es bleibt also dem persönlichen Geschmack oder der individuellen Denkgewohnheit und ideologischen Vorprägung vorbehalten, dieser Sichtweise etwas abzugewinnen oder sie von sich zu weisen, ohne dass damit ein Fortschritt im Verständnis der geistigen Realität stattfinden würde.


Kontexte und Meta-Kontexte


Darum geht es allerdings dem Autor offenbar: Verbesserungen im Denken zu erzeugen. Der Leser soll die „Welt“ anders wahrnehmen und die Dinge, die er erlebt, anders einordnen. Das ist ein berechtigtes Anliegen: Wir erleben die Wirklichkeit nicht als solche, sondern eingebaut in Kontexte, die die Bedeutung der erlebten Wirklichkeit beinhalten. Und diese Kontexte sind im Grund beliebig und können verändert werden. Der Nachbar runzelt die Stirn, als wir ihm am Morgen begegnen. Wir bilden den Kontext, dass er sauer auf uns ist, weil wir gestern Abend laut waren. Wir fragen ihn, wie es ihm geht, und er sagt, dass er gerade Sorgen wegen der Firma hat. Und schon ändert sich unser Kontext, wir ordnen unsere Wahrnehmung in einen neuen Bedeutungsrahmen ein.

So läuft es in der Welt des Relativen: Vorläufige und veränderbare Annahmen über diese Welt bestimmen unsere Wirklichkeitserfahrung und unser inneres Erleben. Wenn wir bereit sind, unsere Annahmen relativ zu sehen, gewinnen wir an Freiheit. Wir sind nicht mehr sklavisch an die Kontexte gebunden, die unsere Weltsicht prägen, sondern können sie adaptiv und flexibel verändern.

Um solche Kontexte geht es auch in dem Text. Sie sind nur allgemeiner und abstrakter als Kontexte, die wir zu unseren Alltagserfahrungen bilden. Wir verfügen über viele solche Meta-Kontexte, z.B. all unsere Glaubensannahmen – die Unsterblichkeit der Seele, die Existenz Gottes, die Entwicklung der Welt zum Besseren usw. zählen dazu. Der Text handelt von solchen übergreifenden Wirklichkeitsinterpretationen. Er behauptet die Geltung der Vorherbestimmung (für alles, was geschieht, gilt: Es ist schon vorher festgelegt, wie es geschehen wird) sowie die Existenz einer Instanz (das „Höhere Selbst“), welche die Inhalte der Vorherbestimmung, das sogenannte Skript, festgelegt hat. 


Der Prüfstand der spirituellen Rationalität


Schauen wir uns nun an, was passiert, wenn die absolut gesetzte Wahrheit auf den Prüfstand der relativen Rationalität gerät: Sie muss sich in Frage stellen lassen und sich mit Kritik auseinandersetzen. Im Folgenden nutzen wir ein paar der Prüfinstrumente.


Vergleiche

Zunächst wird verglichen: Im Rahmen der Theorien über die Vorherbestimmung gibt es aktive und passive Positionen. Die einen glauben, dass die Bestimmungsmacht bei einer äußeren Instanz, z.B. bei Gott oder bei anderen geistigen Entitäten liegt, während die anderen eine innere Instanz als Urheber der Vorplanung vorschlagen, wie in diesem Fall das „Höhere Selbst“. An diesem Punkt erwartet der Leser eine Erklärung und Erläuterung, weshalb dem höheren Selbst und nicht jemand anderem diese entscheidende Rolle zukommt. Und warum gerade diese Sichtweise eine absolute Geltung beanspruchen kann, sodass konkurrierende Auffassungen notwendigerweise absolut falsch sein müssen. Doch der Text bleibt die Begründung schuldig. 


Widersprüche

Dann werden Widersprüche oder Verkürzungen aufgezeigt: Wenn wir einen Schritt zurück machen, erkennen wir, dass wir uns ohnehin in einem Zirkel befinden, gleich wie die Urheberschaft der Vorherbestimmung benannt wird. Denn die Macht des Urhebers zeigt sich in dem, was geschieht. Ich putze meine Nase. Das, was aktuell geschieht, mein Schnäuzen, ist laut Theorie durch eine Planung meines höheren Selbsts verursacht, das zu irgendeinem früheren Zeitpunkt beschlossen hat, dass ich mir jetzt die Nase putze. Dass das höhere Selbst diese Macht hat, zeigt sich eben an dem, was geschieht, aber auch nur daran. Es hat also das, was aktuell geschieht, genauso die Macht über die vorherbestimmende Instanz, weil sie ihre einzige Bestätigung ist, so wie diese Macht über das jetzige Geschehen ausübt. Das höhere Selbst hat immer Recht, und das Geschehen im Jetzt ebenso.


Praktischer Nutzen

Im nächsten Schritt kommt die Frage nach dem Nutzen: Macht uns die Theorie das Leben leichter? Sie verdoppelt das Erleben, indem jeder Moment zwei Ebenen enthält: Das aktuelle Geschehen und die Vorgeplantheit. 

Allerdings stellt sich dann die Frage, wozu es diese Verdoppelung braucht. Die Antwort lautet, dass ich damit eine Erklärung habe, warum das geschieht, was geschieht: Warum putze ich mir die Nase? Weil es so vorherbestimmt ist. Damit verfüge ich über einen Universalschlüssel, der alles aufschlüsselt, was sich in meinem Leben abspielt. Allerdings ist er nicht sehr kreativ. Er hat nur eine Erklärung, die auf alles angewendet wird. Meistens möchte ich detailliertere und spezifischere Erklärungen: Muss ich die Nase putzen, weil ich eine Verkühlung bekomme? 

Nun, die gibt es ja auch, und die generelle Erklärung macht den kosmologischen Rahmen, in dem sich unser Leben abspielt, im Sinn von absoluten Wahrheiten bewusst. Sie fungiert als Vergewisserung, dass alles, was ist, auch so sein soll, weil es vorab so festgelegt wurde. Das kann mir dann Sicherheit geben, wenn ich an mir und an dem, was ich tue, zweifle oder keinen Sinn darin finde. Sie kann aber auch ins Leere gehen, weil sie die zweifelnde Frage nur nach hinten verschiebt, zu der Instanz hin, die für das, was geschieht, verantwortlich gemacht wird. Insoferne erweist sich dieser Kontext wirkungslos bei Zuständen einer existentiellen Verzweiflung.


Versteckter Nutzen

Was ist der versteckte Nutzen? Da drängt sich sogleich die Psychologie vor, denn mit ihren Augen erkennen wir unschwer, dass ein Wunsch nach einer universalen Elternfigur in der Theorie verborgen ist. Nachdem wir von unseren Eltern immer wieder Kritik und Infragestellung erlebt haben, wäre es schön, wenn es einen Kontext gibt, der allem, was geschieht, was wir tun oder was uns widerfährt, bedingungslos zustimmt. Dazu eignet sich die Prädestinationslehre. Die eigentliche Verantwortung liegt dann nicht mehr bei uns selbst, sondern dort, wo die Entscheidungen für alles Spätere ursprünglich festgelegt wurden. Somit sind wir aus dem Schneider, wenn wir etwas ausgefressen haben, haben allerdings auch keinen Anlass mehr uns zu beschweren, wenn wir schlecht behandelt werden.


Ideologiekritik

Schließlich kommt die Ideologie-Frage. All diese Überlegungen, die sich stellen, sobald eine absolute Aussage ins Reich des Relativen gerät, erspart man sich, indem man die absolute Aussage in sich selbst begründet: Es ist die Wahrheit, weil es die Wahrheit ist. Wer es nicht versteht, ist dazu vorherbestimmt und kann nicht anders. Es macht deshalb gar keinen Sinn, die Theorie näher zu begründen oder zu erklären. Es gibt dann nur die Gläubigen und die Ungläubigen. Die Menschheit wird in zwei Gruppen unterteilt und jeder Diskurs zwischen den beiden Seiten ist fruchtlos (selbst wenn er aufgrund der Vorherbestimmung stattfindet). Es gibt keinen Unterschied mehr zwischen einem spirituellen Meta-Kontext und einer religiösen Ideologie: Es geht nur um ein Bekenntnis, das ohne Nutzung der diskursiven Vernunft, gewählt oder abgelehnt werden kann, mit blindem Glauben als einzige Voraussetzung.


Vorsicht bei übergeordneten Sinninstanzen


Mit der Vorherbestimmungstheorie stülpen wir dem, was geschieht, einen Kontext über, indem wir einen bestimmender Verursacher dahinter annehmen. Diese verursachende Instanz verkörpert den Kontext, in dem alle Ereignisse in unserem Leben eingeordnet werden. Sie wird zur allbedeutenden Instanz für den Lebenssinn, die über allem thront. 

Aber gerade deshalb sollten wir bei unserer Wahl für solche Meta-Kontexte vorsichtig sein, damit wir nicht eine x-beliebige Idee ungeprüft in einen Universalkontext einschleusen. Wenn wir uns eine Wohnung suchen, nehmen wir nicht blind das erstbeste Angebot, das uns ein Makler aufschwatzen will, sondern prüfen, ob das Objekt solide und gut gebaut ist, ob sein Inneres und seine Umgebung passt und ob der Preis stimmt. Erst nach eingehender Überlegung fällen wir eine Entscheidung. So sollten wir es auch mit den Meta-Kontexten halten.

Denn wenn solche Kontexte für alles gelten, interpretieren sie alles, was in unserem Leben geschieht. Somit hängt unser ganzes In-der-Welt-Sein von der Stimmigkeit, Richtigkeit und Tragfähigkeit der Grundannahmen ab, denn wenn sie falsch wären, erscheint alles im falschen Licht, und unser Leben beruht auf schwankenden Grundlagen und wir orientieren uns nach einem möglicherweise trügerischen Kompass. Also brauchen wir gerade bei Universalkontexten schlüssige und diskursiv haltbare Begründungen. Wir sollten uns nicht damit begnügen, dass uns irgendwer mit der Kraft seiner Überzeugungskraft oder Sprachgewalt vorbetet, was die Wahrheit sei, damit wir sie gefälligst zur Kenntnis nehmen. Wir sollten uns eingehend mit solchen Sinnangeboten auseinandersetzen, unser Inneres auf mehreren Ebenen befragen und unter Einbeziehung unserer kritischen Denk- und Reflexionsfähigkeit unsere eigenen Festlegungen treffen, außer wir wollen irgendjemandem blind hinterhertrotten. 

Dann allerdings verkaufen wir unser eigenes Ingenium an dieses Angebot, viel zu billig. Und diese blindgläubige Haltung hat alle Radikalitäten der Menschheitsgeschichte auf dem Gewissen. Millionen von Menschen wurden das Opfer solcher Verblendungen, während die Täter glaubten, den Willen des Absoluten zu vollstrecken. Davor kann uns die spirituelle Vernunft bewahren.

Zum Weiterlesen:
Die mystische Leere
Gott und das Absolute
Die zwei Wahrheiten
Wahrheit und Illusion
Die Ko-Produktion der Wirklichkeit und das Absolute
Das Absolute im Beschränkten
Spirituelle Wahrheit und Kritik
Spirituelle Kreissätze
Die zwei Wahrheiten: Relatives verkleidet als Absolutes

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