Donnerstag, 20. April 2017

Sind Frauen emotional kompetenter als Männer?

Häufig heißt es, dass Frauen über mehr emotionale Intelligenz oder Kompetenz verfügen als die Männer. Es wird z.B. darauf hingewiesen, dass schon als Babys die Mädchen mehr Interesse an Stimmen als an Objekten haben als die Jungen, dass sie früher das Sprechen erlernen usw. Aus der Anthropologie wissen wir, dass in allen frühen Kulturen die Frauen für die Kindererziehung, d.h. auch für deren emotionale Regulation zuständig waren. Insofern ist es verständlich anzunehmen, dass das weibliche Geschlecht für das Erleben, Verstehen und Kommunizieren von Gefühlen besser ausgerüstet ist. Was dazu führt, dass sich Frauen gern über das männliche Geschlecht wegen dessen mangelhafter Fähigkeiten im Gefühlsbereich beklagen.

Emotionen sind ein Grundbestandteil des Menschen, beim männlichen wie beim weiblichen Geschlecht. Beide Geschlechter verfügen über die ganze Bandbreite an Gefühlen, und beide über Formen, mit diesen Gefühlen umzugehen, sodass das Sozialsystem in Stabilität bleiben kann. Alle Gefühle haben eine Funktion für die Regelung des Zusammenlebens, und alle, die dazu beitragen, brauchen ein Verständnis für die eigenen Gefühle und die anderer Mitglieder.

Diese Formen haben sich im Lauf der Geschichte stark verändert. Ein großer Einschnitt ist durch die Zurückdrängung des Patriarchats seit dem 19. Jahrhundert erfolgt. Grob vereinfacht könnte man sagen, dass die Frauen im Bekämpfen des Patriarchats mehr zu ihrer Wut gefunden haben, während die Männer durch den Verlust von Machtpositionen zu lernen hatten, ihren Schmerz und ihre Traurigkeit auszudrücken. Diese Entwicklungen sollten langfristig zu einer Entspannung in den Mann-Frau-Verhältnissen beitragen.

Allerdings tragen beide Geschlechter die Spuren des Patriarchats in sich, mit unterschiedlichen Auswirkungen auf die emotionalen Muster. Es scheint, dass es noch lange brauchen könnte, bis hier ein nachpatriarchalisches Miteinander und Zueinander gefunden werden kann. 


Frauen brauchen Zuwendung, Männer suchen Lösungen


Ein typisches Beispiel, das sich in fast jedem der zahlreichen Beziehungsbücher findet, lautet, dass Frauen, wenn sie Probleme haben, jemanden brauchen, der ihnen zuhört, und Männer jemanden, der ihnen Lösungen aufzeigt. Das spielt sich im Zusammenleben dann häufig so ab, dass Frau ein Problem schildert und Mann darauf einen Lösungsweg vorschlägt. Frau ist verstimmt, weil ihr Bedürfnis nach Zuwendung nicht erfüllt wurde. Mann ist daraufhin verstimmt, weil Frau nicht erkennt, wie sehr er sich bemüht hat, Frau zu helfen und ihn statt dessen kritisiert. Frau nimmt an, dass Mann über keine Gefühlskompetenz verfügt, und Mann nimmt das gleiche an. Tatsächlich sind bei beiden Erwartungen enttäuscht worden, die aus der eigenen Prägungen heraus für selbstverständlich gehalten werden: Frau meint, dass es die natürliche Form von Liebe ist, auf die Schilderung von Problemen Zuwendung und Trost zu bekommen, während Mann annimmt, dass sich Liebe darin ausdrückt, für Probleme eine Lösung vorzuschlagen.

Es ist wohl so, dass beide Geschlechter über emotionale Kompetenz und Intelligenz verfügen, die nur geschlechtstypisch unterschiedlich gewichtet ist. Diese Unterschiede dienen offenbar dazu, eine optimale Ergänzung zu ermöglichen, ähnlich wie jeder Mensch über zwei Gehirnhälften verfügt, die sich die Aufgaben aufteilen und ein gutes Zusammenspiel brauchen. So wie keine der Gehirnhälften besser ist, verhält es sich auch mit der Spezialisierung der Gefühlskompetenz zwischen den Geschlechtern: Männer und Frauen verfügen über gemeinsamen und über unterschiedliche Fähigkeiten im Gefühlsbereich und in der Gefühlsverarbeitung.

Wenn der Begriff der emotionalen Intelligenz, wie er von Daniel Goleman vorgeschlagen wurde, überhaupt einen Sinn macht, dann weniger in Hinblick auf eine Hierarchie zwischen Frauen und Männern, sondern auf die Betrachtung von individuellen Unterschieden. Was den Begriff der emotionalen Intelligenz fragwürdig macht, ist die Annahme, dass diese ähnlich genau gemessen werden kann wie die kognitive Intelligenz, denn die Psychologen stoßen auf erhebliche Probleme, das Erleben und Verarbeiten von Emotionen in messbare Strukturen zu übersetzen. Auch stellt sich die Frage, was überhaupt als optimaler Wert angesehen wird: Ist es emotional kompetent, jedes Gefühl sofort auszudrücken, oder ist das hysterisch? Ist es statt dessen das Optimum emotionaler Intelligenz, immer gelassen zu wirken, oder handelt es sich hier um einen pathologischen Fall von Gefühlsunterdrückung?

Die Fähigkeit, kochen zu können, ist nicht besser oder schlechter als die Fähigkeit, Waschmaschinen reparieren zu können. Wohl kann einer oder eine besser oder schlechter kochen und reparieren als andere, aber das muss nichts zu tun haben mit der Zugehörigkeit zum einen oder anderen Geschlecht.

Wir sind unendlich verschieden, auch in Hinblick auf das Gefühlserleben. Offenbar bringen wir unterschiedliche Gefühlsgeschichten mit, die sich aus genetischen Veranlagungen, ererbten und übertragenen Mustern, Lernprozessen im Umgang mit den Bezugspersonen und Peergroups, Traumatisierungen und Ressourcenerfahrungen usw. zusammensetzen. Unsere Gefühlskompetenz ist offenbar eine äußerst komplexe und sehr individuelle Fähigkeit, die sich im Lauf unseres Lebens entwickelt hat und weiter entwickelt. Sie enthält auf der Grundlage all der prägenden Voraussetzungen immer auch eine Lernrichtung, z.B. zu lernen, aggressive Gefühle zu zügeln oder traurige Gefühle ausdrücken zu können, feinere Gefühlsregungen wahrnehmen zu können oder heftige Gefühle zum Ausdruck bringen zu können.


Animus und Anima im 21. Jahrhundert


All das, was in diesem Artikel formuliert wurde, sollte außerdem noch mit der Brille gelesen werden, die aus der Beobachtung der Veränderung der Animus-Anima-Beziehungen im 21. Jahrhundert stammt. Wir sehen eine Entwicklung, in der die herkömmlichen stereotypen Zuordnungen von Eigenschaften zum einen wie zum anderen Geschlecht immer fraglicher werden und die Grenzen und Abgrenzungen dazwischen insgesamt durchlässiger und unübersichtlicher werden. Es gibt z.B. gefühlsoffene, romantisch eingestellte Männer und sachlich orientierte, gefühlskühle Frauen, und all die anderen Spielarten, in einer unendlichen Variabilität, gegen die das „Typisch-Mann“ und „Typisch-Frau“ blass und oberflächlich klingt.

Deshalb liegt die Aufgabe mehr und mehr darin, die speziellen emotionalen Fähigkeiten bei sich und bei den anderen Menschen wertzuschätzen und zugleich an der Weiterentwicklung dieser Fähigkeiten zu arbeiten.


Zum Weiterlesen:
Animus und Anima im 21. Jahrhundert

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