Der langsame und achtsame Sex ist ein Weg, der bei der intimen Begegnung begangen werden kann. Er geht zurück auf den australischen Lehrer Barry Long und wurde vor allem von Diana Richardson in mehreren Büchern und vielen Seminaren verbreitet.
Es geht dabei um eine meditative Begegnung der Partner, die mit einem verfeinerten Spüren und langsamen Bewegungen verbunden ist. Es soll nicht primär die sexuelle Lust durch Reibung und intensive Bewegungen erzeugt werden, sondern das Aufeinander-Einlassen auf allen Ebenen zugelassen werden: Atemrhythmus, Augenkontakt, Herzverbindung und genitales Spüren. Damit wird die sexuelle Begegnung zu einer geteilten ganzheitlichen Erfahrung. Das Schwergewicht liegt auf der Entspannung und dem achtsamen Zulassen aller Empfindungen und Gefühle.
Das Prinzip, langsam genießen, statt schnell zum Höhepunkt zu kommen, steht im Widerspruch zur Leistungsorientierung, die diese Gesellschaft so stark prägt, dass damit auch der Bereich der intimen Begegnung schon längst durchdrungen wurde. Die Fixierung auf den Orgasmus als Ziel hat sich über die gemeinsame Erfahrung in der Begegnung gestellt, was leicht zum Stress führt: Sex muss gelingen, wenn er nicht gelingt, kommt es zu Vorwürfen und Streitigkeiten.
Längst haben die allgegenwärtigen Bilder von intensiver Leidenschaft und hemmungsloser Lust unsere Gehirne okkupiert und halten uns in Geiselhaft. Wenn wir es nicht schaffen und bringen wie die Vorbilder auf der Leinwand oder am Computerschirm, sind wir Versager. Wir verfangen uns in Kreisläufen: Je mehr wir versuchen zu erzwingen, was uns als Ideal vorgegeben wurde, desto schwieriger wird es. Denn die sexuelle Lust lässt sich nicht unter Druck erzeugen, sondern entsteht in der gemeinsamen Entspannung. Je größer die Erwartungen, desto größer die Enttäuschungen.
Der langsame Sex nimmt den Erwartungsdruck aus der Begegnung und führt die Aufmerksamkeit auf den gegenwärtigen Moment zurück. Es geht darum, das, was gerade ist, zu genießen, statt irgendein ein Ziel in der Zukunft anzustreben. Es geht um Erleben und nicht um Leistung. Was geschieht, wird gemeinsam erschaffen, und beide Partner bringen ihre Aktivität und ihre Passivität ein, ihr Tun und ihr Zulassen.
Wenn diese Form der Begegnung gelingt, kann sie sehr heilsam für beide sein, nicht nur darin, dass die Sexualität von den vorgefertigten Prägungen befreit wird, sondern dass auch Verwundungen und Verletzungen, die in diesem empfindlichen Bereich stattgefunden haben, zur Heilung finden.
Die Übung dieser Form der achtsamen sexuellen Erfahrung führt dazu, dass Sexualität und Spannung entkoppelt werden und damit das vorherrschende und medial aufgedrängte Lustmaximierungsdiktat durch eine intensivere Erfahrung im Bereich des verfeinerten Spürens übertroffen und damit außer Kraft gesetzt wird. Statt der aufgeladenen Spannung, die irgendwo und irgendwie eine Entspannung sucht, tritt die Erfahrung des Strömens und Fließens, die keinen Höhepunkt braucht, weil jeder Moment für sich einen Gipfel darstellt.
Damit erleben wir in dieser Erfahrung eine Gegenwelt, die uns zurück zu unserem Wesen führt statt uns in die Richtung abzulenken, in die uns die Konsumwirtschaft drängen will. Diese Welt ist voller Aufladung und Anspannung, die sie selber kreiert, um uns dann weiszumachen, dass wir die Spannung nur über die Angebote, die uns vor die Nase gehängt werden, wieder loswerden können. Wir brauchen kein sexualisiertes Konsumparadies mehr, wenn wir von den einfachen und viel tieferen Genüssen der achtsamen sexuellen Begegnung gekostet haben. Wir können uns auch eine Oase im Geschwindigkeitsrausch unserer Lebenswelt erschaffen, indem wir behutsam und langsam ineinander eintauchen und diese Form der Entschleunigung in unseren Alltag übernehmen.
Die Konditionierungen, die sich durch diese Form der Sexualität auflösen lassen, geben Anlass zur Hoffnung, dass dieser Weg der innerlich befreiten Sexualität eine große Hilfe für das Beenden der Geschlechterkämpfe und der sexualisierten Konsumgesellschaft leisten kann. Wenn die sexuelle Energie keinen inneren Druck mehr verursacht und statt dessen zu einer Form der frei fließenden Lebendigkeit und Kommunikation wird, fällt jede Notwendigkeit, den Druck nach außen zu lenken, weg. Die so gelebte Sexualität reinigt sich von der Verdinglichung durch alle möglichen gesellschaftlichen Themen wie Gewalt, Macht, Ausbeutung, Unterwerfung, Statuserwerb, Leistung usw. Sie macht Sexarbeit ebenso überflüssig wie Pornographie. Subjektiv entkoppelt sie das sexuelle Erleben von Gier, Selbstbestätigung, Selbstausbeutung und Versagensängsten.
Video mit Diana Richardson
Literatur:
Diana Richardson: Slow Sex: The Path to Fulfilling and Sustainable Sexuality. Destiny Books 2011 (deutsch: Slow Sex: Zeit finden für die Liebe. Integral)
Lieber Wilfried
AntwortenLöschenschön wie du die Yin-Art des Vereinigens beschreibst.Was mir noch fehlt, ist die Erwähnung, dass es energetisch und physisch um vieles intensiver und leidenschaftlicher erlebt werden kann im ganzen Körper, weil es die Möglichkeit eröffnet, ins orgasmische Sein eintauchen zu können. Dann ist jeder Atemzug so bombstisch und er-füllend mit kosmischer Energie! ich habe das etliche Jahre praktiziert und erfahren. Je entspannter wir sind, je weniger wir wollen und je unbehinderter (vom Verstand) unser innerer Energiefluss sein darf, umso mehr kann die Lust aus einer tieferen Quelle aufsteigen.
Diese Ergänzung scheint mir wichtig. Denn es kann leicht die Vorstellung entstehen, dass die entspannte Art Liebe und Sex zu machen, eher NUR was Entspannendes ist. Das Gegenteil habe ich erlebt. Es kann uns für Tage mit Energie und Liebe auffüllen, sodass wir aus einem anderen Energielevel den Alltag erleben!
liebe Grüße
Selina K. Haag