Wer den ersten Stein wirft, war es möglicherweise gar nicht. So schreibt der amerikanische Psychologieprofessor Daniel Gilbert, der Autor des Buches „Stumbling on Happiness“ (dtsch.: „Ins Glück stolpern: Suche dein Glück nicht, dann findet es dich von selbst“), in einem Artikel. Dort geht es um die Struktur von alltäglichen Konflikten, die wir schon als Kinder mit unseren Geschwistern kennengelernt haben: Er hat mich gehaut! Sie war so gemein! Er hat angefangen! Usw.
Ähnlich, wenn auch in den Auswirkungen viel massiver, läuft es in den großen Konflikten auf dieser Welt. Die Antwort auf die Frage, wer schuld ist und wer begonnen hat, ist immer die gleiche: Die anderen.
Wir gehen von folgender Annahme als Grundlage einer allgemein menschlichen Ethik aus: Es gehört sich nicht, anzufangen (mit Gemeinheiten, mit Verletzungen, mit Beschimpfungen, mit Gewalt). Wenn wir aber angegriffen werden, haben wir das Recht uns zu verteidigen. Wir müssen uns nicht alles gefallen lassen; wir haben nur eine zweite Backe, die wir hinhalten können, und keine dritte. Also gilt Vergeltung für etwas, was uns angetan wurde, als gerechtfertigt. Allerdings sollte sie im Grad höchstens gleichwertig oder minimaler ausfallen und keinesfalls heftiger sein. Dann das würde nur die Rachespirale ankurbeln. Soziale Systeme müssen im Gleichgewicht gehalten werden, um zu funktionieren, deshalb braucht es ausgeglichene Kräfteverhältnisse.
Was haben nun die Psychologen herausgefunden? Jede Handlung hat eine Ursache und eine Wirkung: Etwas, das dazu geführt hat und etwas, das daraus folgt. Aber das menschliche Denken vereinfacht auf eine charakteristische Art: Die eigenen Handlungen werden als Konsequenzen aus den Handlungen anderer angesehen, während deren Handlungen als Ursache für Späteres gehalten werden. In einem Experiment wurden Versuchspersonen in Streitgespräche verwickelt. Wenn ihnen nachher eine ihrer Aussagen vorgehalten wurde, konnten sie sich daran erinnern, welches Argument der anderen Person sie dazu geführt hatte. Und wenn ihnen eine Aussage des Partners präsentiert wurde, erinnerten sie sich daran, wie sie darauf reagiert hatten. Ist also unsere Erinnerung völlig egoistisch und selbstbezogen?
Auch was die Angemessenheit der Reaktionen anbetrifft, fehlt diese Hinwendung zum sozialen Ausgleich. In einem Experiment sollten Versuchspersonen gegenseitig Druck auf die Finger ausüben. Wenn A drückte, sollte B gleichviel Druck auf Ab zurückgeben. Die Forscher maßen den Druck und stellten fest, dass, obwohl die Versuchspersonen glaubten, den gleichen Druck zurückzugeben, dieser um 40% höher war, sodass sofort die Spirale der Vergeltung in Gang kam.
Warum ist das so? Die einfache Erklärung liegt darin, dass wir unseren eigenen Schmerz stärker spüren als den anderer Personen. Deshalb fügen wir der anderen Person mehr Schmerz zu, weil wir glauben, sie versteht dann, wie weh es uns getan hat. Natürlich passiert das Gegenteil, und die Eskalation geht weiter. Es ist so simpel: wir verstehen uns selber immer besser als andere, weil wir unsere Gründe, Motive und Gefühle direkt wahrnehmen und ernstnehmen.
Der Ausweg liegt einzig darin, dass wir anfangen müssen, uns selbst zu misstrauen, also die Informationen, die unser Gehirn produziert, nicht als der Weisheit letzter Schluss zu nehmen, und statt dessen lernen, die Perspektive der anderen Person einzunehmen, indem wir darauf vertrauen, dass auch die anderen Menschen Motive und Gründe für ihr Verhalten haben, die wir vielleicht verstehen könnten. Unser Ego versucht uns immer weiszumachen, dass wir die Opfer der Bosheit oder Unbewusstheit der anderen sind und dass das Böse von dort kommt und nie von uns. Erst wenn wir erkennen, wie eng gestrickt die Netze der Selbsttäuschung sind, kommen wir aus den Spiralen heraus, auf die wir uns so leicht einlassen.
Der Klügere gibt nach, sagen die Eltern, wenn die Kinder streiten, damit der, der aufhört, den moralischen Bonus auf seiner Seite hat. Wenn wir uns selber sagen, dass wir nicht Recht haben müssen, sondern dass jeder andere in seiner Weise Rechthaber ist, kommen wir leichter aus der Verfangenheit und Abhängigkeit durch die Reaktionen der anderen heraus. Es ist ja nur unser Ego, das verliert, wenn es aus der Eskalationsspirale aussteigt und damit das destruktive Spiel beendet. Klugheit zahlt sich aus, weil sie uns aus einem Streit herausführt und schneller wieder mit dem inneren Frieden verbindet, der unserer Gesundheit und unserer Lebensfreude zuträglich ist.
Wir brauchen keine ethische Überlegenheit, die selber wieder ein Ego-Spiel ist. Wir müssen uns also nicht an unsere Fahnen heften, wie gut wir sind, weil wir jetzt nicht zurückschlagen, wo es doch unser Recht wäre. Vielmehr trägt der Racheverzicht den Lohn in sich: Wir entspannen uns und öffnen uns für konstruktive Möglichkeiten in unserem Leben.
Und wenn wir unsere innere Achtsamkeit weiter entwickeln, merken wir schneller, wann wir uns in Machtkämpfe verwickeln. So können wir auch schneller den Ausweg finden und damit die Dynamik der Eskalation im Keim unterbinden.
(Ich danke Renate Prigl für den Artikel von Daniel Gilbert, auf den dieser Beitrag Bezug nimmt.)
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