Mittwoch, 27. April 2016

Essenzdenken und Gewalt

Das Wesen geht der Existenz voraus, die „Tischheit“ ist vor dem wirklichen „Tisch“ da, soweit die Vorstellung von Platon, die nachhaltig die Geistes- und Denkgeschichte geprägt hat. Er war der Meinung, dass an einem jenseitigen Ort alle Ideen versammelt sind, nach denen sich dann die Wirklichkeiten ausbilden, nach dem Vorbild der Geometrie, wo es den idealen Kreis in der Wirklichkeit nicht gibt, aber der wirkliche Kreis nur deshalb für die Mathematik taugt, weil er ein Abbild des idealen Kreises ist.

Und weil in der Mathematik alles seine wunderschöne Ordnung hat, dient sie als Vorbild für die Angelegenheiten der Menschen. Auch da solle man sich an den Wesensbegriffen orientieren, um sich selbst als gut, wahr und schön zu verwirklichen. Ebenso solle sich die Gesellschaft und Kultur an den vordefinierten Idealen, die dem philosophischen Denken zugänglich sind, ausrichten und nach ihnen streben.

Erst im späten Mittelalter wurde auf der Ebene des Denkens der Bann dieser Festlegungen gebrochen und damit die modernen Wissenschaften begründet, mit ihrem Vorrang der Untersuchung dessen, was existiert, vor dem, was man sich darüber denken kann. Theorien werden also aus der Erfahrung abgeleitet und durch sie begründet. Jede Theoriebildung muss sich an der Wirklichkeit messen und in der Praxis bewähren, sonst muss sie verworfen werden.

Konservativismus und Essentialismus


Dennoch ist das Denken in Wesenheiten und vordefinierten Begriffen noch lange nicht verschwunden. Es wirkt in die meisten gesellschaftspolitischen Diskussionen hinein: Die klassischen konservativen Positionen zu Themen der Familie, Sexualität, Abtreibung und Euthanasie gehen von ideologischen Festlegungen aus, die weiter nicht begründet werden können. Die Familie ist die Keimzelle der Gesellschaft und nicht eine Form des Zusammenlebens, die sich im Lauf der Geschichte fortlaufend ändert und an äußere Bedingungen anpasst. Die Sexualität hat eine von der „Natur“ vorgegebene Funktion und Form und muss dieser entsprechend ausgeübt werden; während jede andere Form der sexuellen Betätigung als abnormal und abartig gebrandmarkt werden kann. Ähnliches gilt für die Geschlechtsrollen. In der Abtreibungsfrage wird die Debatte auf die Frage reduziert, wann ein Mensch ein Mensch ist und damit argumentiert, dass der Mensch von Anfang an über ein Wesen verfügt und sich nicht erst im Lauf des Wachstums entwickelt. Ähnlich wird in der Euthanasiefrage gedacht.
 

Der Rassebegriff


Unermesslichen Schaden hat der Rassebegriff in diesem Zusammenhang angerichtet. Seine Anhänger waren der Meinung, dass sich Rassen streng voneinander abgegrenzt definieren lassen und dass den jeweiligen Angehörigen kollektiv Eigenschaften zugesprochen werden können – von Körpermerkmalen bis zu Charaktereigenschaften und ethischen Werthaltungen. An diesem Beispiel wird auch die Nähe des Essentialismus zur Gewalt deutlich: Die Feinde können schnell identifiziert werden und müssen mit allen Mitteln bekämpft werden, denn sie sind durch ihr Wesen gefährlich, nicht durch Einstellungen, die sie auch ändern könnten. Deshalb geht es darum, sie zu vernichten, weil alles andere die Gefahr nicht eindämmen würde.

Islamisten und Jihadisten bedienen sich dieses Modells, um es pauschal und kollektiv gegen die „westliche Gesellschaft“ zu richten, die vernichtet werden muss, sodass jede Gewaltaktion gerechtfertigt ist. Da das Modell in sich willkürlich ist und nicht für einen offenen Diskurs taugt, passt es zur Begründung und Absegnung des eigenen Handelns und der damit verbundenen Zerstörungen.

Die implizierte Gewalt


Die platonische Ideenphilosophie und jedes von ihr abgeleitete Denken ist in sich gewalttätig. Sie tut der Wirklichkeit Gewalt an, indem sie deren Phänomene und Zusammenhänge einem abstrakten Raster unterordnet, der den eigenen Vorstellungen entspringt. Hegel, ein Philosoph mit fundamentalistischen Neigungen, soll einmal auf den Vorwurf, dass es in der Realität mehr Papageienarten gebe als es seiner Theorie nach geben könne, gesagt haben, das sei umso schlimmer für die Realität.

Auch in der Politik sind Essenz-Definitionen gebräuchlich. Menschen werden politischen Richtungen zugeordnet („Ein Linker“ oder „ein Rechter“ usw.) und entsprechend bewertet und wahrgenommen. Mein Vater sagte über einen Kollegen, dieser sei ein fähiger Mensch, allerdings sei er bei der falschen Partei (nämlich nicht der, der sich mein Vater zugehörig fühlte). Die gegenseitig aufgebauten Feindbilder erlauben dann jede Form von Abwertung und Diffamierung der Gegner.

Ein absurdes Beispiel aus dem gegenwärtigen Wahlkampf zum österreichischen Bundespräsidenten illustriert dieses Arbeiten mit Feindbildern und die dabei immer wirksame Projektionstendenz: Der Kandidat der rechten Partei, Norbert Hofer, bezichtigte den unabhängigen, von den Grünen unterstützten Kandidaten Alexander van der Bellen, eine faschistische Diktatur errichten zu wollen (weil dieser angekündigt hat, einen Mehrheitsführer mit dezidiert antieuropäischen Zielen nicht automatisch mit der Regierungsbildung zu betrauen). Selber hat der rechte Kandidat angekündigt, im Fall der Wahl alle Mittel seines Amtes auszuschöpfen, um seine Vorstellungen durchzusetzen, und diese reichen bis zur Absetzung der bestehenden und der Einsetzung einer neuen Regierung sowie der Auflösung des Parlaments auf deren Vorschlag, also alles Schritte, die zu einer faschistischen Diktatur führen. Die Faschisten der 1920-er Jahre nutzen diese rhetorische Figur skrupellos für ihre eigenen Zwecke: Indem sie die linken Parteien der Absicht zur bolschewistischen Machtergreifung beschuldigten, rechtfertigten sie alle Mittel, um selbst ihre Gewaltherrschaft zu errichten. Selbstverständlich laufen die Prozesse 90 Jahre später etwas anders, aber die Verwendung von essentialen Ideologien ist gleichgeblieben, weil diese in sich gewalttätig sind.

Starre und unveränderbare Begriffsfestlegungen geben Sicherheit und ersparen Differenzierungen und sorgfältiges Überlegen. Sie reduzieren die Unübersichtlichkeit der Wirklichkeit und ihre dauernde Veränderungstendenz auf stabile und einfache Markierungen. Sie suggerieren die Befreiung von Ängsten, indem die Quellen der Bedrohung eindeutig benannt und bekämpft werden.

Die Wirklichkeit ist in gradueller Veränderung, in der Evolution, wie in jeder anderen natürlichen Entwicklung. Es gibt keine kategorialen Unterschiede unter den Menschen und ihren Motiven. Wenn wir das ernst nehmen, machen wir uns auf, die Wirklichkeit in ihren Nuancen und Spielarten zu erforschen und erkennen, dass wir ihrer begrifflich nie habhaft werden. Wir erkennen auch, dass jeder Versuch, solche Kategorien einzuführen, willkürlich und potenziell gewalttätig ist.

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