Im Erzählen wird der Kontinuität Sinn gegeben. Damit wir uns nicht nur als existent erleben, brauchen wir den Sinn, der sich aus unserer erzählten Geschichte ergibt. Die Abfolge der Ereignisse ist kein blindes Stolpern vom Einen zum Nächsten, sondern ein sich Ineinanderfügen von Sinnerfahrungen. Dann fühlt sich ein Leben als gelungen an, als in sich stimmig. Selbst Brüche, wie sie z.B. durch Krisenzeiten entstehen, können im Durcherzählen überbrückt werden und damit innerlich zusammenwachsen.
Kreative Geschichten sind auch nicht die Summe von historischen Fakten, sondern die Wiedergabe von lebendigen Prozessen, die selbst wieder in sich lebendig sind. Denn sie überraschen den Erzähler und die Zuhörer. Es sind Geschichten, die ihre eigenen Wendungen nehmen, ohne nach vorgegebenen Absichten konstruiert zu werden. Damit gleichen sie sich den vom Leben selber geschriebenen Geschichten an, die im Nacherzählen neu erschaffen und mit neuem Sinn versehen werden.
Der Zusammenhang der Geschichte
Geschichten können und müssen nie lückenlos erzählt werden. Eine Geschichte ist immer eine Auswahl aus der Fülle des Geschehenen. Der Zusammenhang ergibt sich aus der inhaltlichen Abfolge der Ereignisse, die in sich verständlich sein soll, um Sinn zu ergeben. Details, die dazu nicht notwendig sind, können weggelassen werden.
Lücken sind nur dort störend und verstörend, wo der Sinnzusammenhang unterbrochen ist. Dann bleiben Fragen offen: Warum musste dies passieren? Wie konnte mir solches zustoßen? Hier kommt es zum Hadern, Klagen und Anklagen. An die Stelle der Erzählung tritt das rekursive, auf sich selbst gerichtete Kreisen der Abwertung – von sich selbst, von anderen, vom Leben, so wie es verlaufen ist. Statt zuzulassen, dass sich die Geschichte selbst erzählt und damit immer wieder verändert, wird Geschichte festgenagelt auf eine, allzu oft negative Sichtweise und Interpretation. Der Sinn kann dann nicht mehr aus der Geschichte und der Erzählung entstehen, sondern bleibt wie die Inschrift auf einem Monument eingemeißelt.
Diese Starrheit überträgt sich auf die Identität, die aus einer solchen Geschichtslähmung ergibt. Sie wird in Teilen unbeweglich, irreversibel und ragt in die Gegenwart hinein, indem sie daran erinnert, was unabgeschlossen und unverarbeitet ist. Sie bindet Energien und Denkvorgänge, sie engt das Fließen des momentanen Erlebens ein.
Wenn die Geschichte keinen oder nur einen unvollständigen Sinn ergibt, weil die Lücken nicht aufgefüllt wurden, bleibt alles, was nachfolgt und was darauf folgt, unvollständig. Es fehlt der ganze Sinn, und ein halber Sinn grenzt schnell an Unsinn. Eine Identität, die auf einem unvollständigen Sinnerleben ruht, ist in lebendige und unlebendige Teile fragmentiert. Die unlebendigen Teile sind diejenigen, die Probleme machen und Leiden bringen.
Der Weg zur Lösung öffnet sich dort, wo wir beginnen, aktiv nach den Lücken in unseren eigenen Biographien zu forschen. Wenn wir die Schutzhüllen, die über diesen Lücken abgelagert sind, sorgfältig lüften und die darunter liegenden Inhalte freilegen, dann können wir die Erzählung dort fortsetzen, wo sie unterbrochen worden war, und sie an die schon vorliegenden Erzählstränge anhängen. Jeder weiße Fleck, der durch eine Geschichte ersetzt wird, bereichert die Wirklichkeit und macht sie vollständiger. Das Wort „heil“ hängt mit Ganzsein zusammen. Vervollständigte Geschichten sind heilsam.
Die Geschichte und der Moment
Das Unerzählte hindert uns daran, im Moment zu sein, weil es unsere Aufmerksamkeit in die Vergangenheit abzieht. Wenn wir also nicht im Moment sind, präsent mit dem, was gerade ist, dann heißt es, dass uns eine Geschichte ruft, die fertig oder neu erzählt werden möchte. Wenn wir dem Raum geben können und zulassen, dass die Geschichte ihre Form findet, gibt sie uns den Sinn, den wir brauchen, um wieder in den Moment zu kommen. Auf diesem Weg gewinnen wir immer mehr Frieden in uns selbst, der aus der Versöhnung mit unserer Geschichte erwächst.
Vgl. Erzählend sind wir und erzählt
Narrative Rekonstruktion und Traumaverarbeitung
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