Jede Beziehung beruht auf "Abmachungen", auf unbewusst getroffenen Vereinbarungen, die das Beziehungsleben regulieren. Wenn sich eine der Beteiligten an diesen Übereinkommen in ihren Einstellungen verändert, verändert sich das Grundgefüge der Beziehung. Es muss neu geregelt werden, was deshalb komplex ist, weil es um die unbewussten Dynamiken geht. Hier kommen ebenso unbewusste Kräfte ins Spiel, die neue Vereinbarungen erzeugen wollen. Sie bedienen sich u.a. der Methode des Vergleichens, die geeignet erscheint, unter Berücksichtigung der neuen Kräfteverhältnisse ein Gleichgewicht herzustellen.
Allerdings kann die Einstellung entstehen: "Ich bin besser (bewusster, empfindsamer, menschlicher, ...) als du." Diese Einstellung erzeugt ein Gefälle in der Beziehung, die Spannungen und Streit hervorrufen kann. Inneres Wachstum ist sowohl vom Tempo als auch von der Entwicklungsrichtung eine sehr individuelle Angelegenheit. Wie schon festgestellt, gibt es keine vergleichbaren inneren Entwicklungsprozesse, sondern äußerst individuelle Abläufe. Dennoch wirken bei den meisten, die auf dieser Heerstraße unterwegs sind, die unbewussten Mechanismen des Vergleichens weiter, und oft werden sie sogar noch zusätzlich angeheizt.
Ein Beispiel, wie das Vergleichen Schwierigkeiten in den aktuellen Beziehungen bewirken kann: Das neu erlernte Vokabular der Selbsterforschung wird als Waffe im Beziehungskampf eingesetzt. Die Einsicht in das Gestrüpp von Dysfunktionalitäten und Neurosen, das der Blick ins eigene Innere offenbarte, offenbart nun auch die "Gestörtheit" des Beziehungspartners. Daraus erklärt sich dessen Unfähigkeit im Verstehen und Harmonieren. "Schon wieder projizierst du deine Mutter auf mich", "das machst du nur, weil du die Verstrickung mit deinem Vater noch immer nicht gelöst hast", in dieser Art wird das partnerschaftliche Streitgespräch psychologisch aufgeladen. Die "Muster" der anderen Person werden bloßgestellt, und es ist diese, die sich in ihrer Eingeschränktheit dringend und schleunigst verändern muss. Denn sie hat ja wohl das eigene Unglück verschuldet und durch ihre Unbewusstheiten die eigenen Leidenszustände verursacht.
Der Beziehungspartner wird im Extremfall dämonisiert und pathologisiert, um sich selber als "heiler", als "normaler" und als weniger gestört darzustellen. Damit will man sich selber sicherer fühlen. Wiederum ist diese Sicherheit trügerisch, weil sie am Fundament der Beziehung rüttelt. Nicht selten kommt es gerade in der zweiten Phase des inneren Wachsens zu Beziehungstrennungen, häufig aus dem Eindruck heraus, dass sich die andere Person nicht oder nur zu wenig, bzw. in die falsche Richtung bewegt, sodass kein Zusammenklang mehr möglich erscheint. Die Schere klafft immer weiter auseinander: Auf der einen Seite ein wachstumsorientiertes Ich, auf der anderen das beharrende Du.
Je mehr und öfter man sich "besser" fühlt im Vergleich zum Partner, desto wahrscheinlicher wendet sich der Blick auf Ausweichmöglichkeiten. Die Qualitäten, die am Partner vermisst werden, sind ja keine utopischen Wunschträume, vielmehr gibt es Menschen, die gerade über diese Qualitäten verfügen und denen zuzutrauen ist, dass sie sie auch in eine Beziehung einbringen können. Man trifft solche Menschen in Selbsterfahrungsgruppen und anderen Veranstaltungen der Szene. Warum also in der angestammten Beziehung bleiben, wo andere mehr und Besseres versprechen?
Erfahrene Therapeuten und Lehrer legen nahe, gerade in den turbulenten Phasen des inneren Wachsens keine weitreichenden äußeren Entscheidungen zu treffen, also keine neuen (oder zusätzlichen) Beziehungen einzugehen, keine lange bestehenden Bindungen zu beenden usw. Sie wissen, dass die im Inneren aufbrechenden Konflikte gerne nach außen verlagert werden, um hier eine scheinbare Entlastung vom Problemdruck zu erreichen. Werden solche gravierenden Lebensveränderungen vorgenommen, verschärfen sie nur die innere Belastung und verkomplizieren den inneren Weg. Manchmal kann die Empfehlung hilfreich sein, eine "Beziehungspause" einzuführen, wenn die Beziehungssituation aktuell auswegslos erscheint. Denn in der Distanz kann sich leichter aussortieren, was in die Beziehung und was zur eigenen inneren Entwicklungsarbeit gehört.
Unterschiede im Wachsen
Tatsächlich ist es schwer, das Ungleichgewicht auszuhalten, das entsteht, wenn nur ein Partner am inneren Wachstum interessiert ist. Die Sichtweisen auf das Leben differenzieren und verfeinern sich, und stoßen auf Unverständnis, wenn sie vom Beziehungspartner nicht geteilt werden. Ebenso kommen im Zug der Innenerforschung Wünsche und Bedürfnisse an die Oberfläche, die lange Zeit zurückgedrängt oder vergessen waren, und die der Beziehungspartner, der auf das bisherige Niveau des Austausches eingestellt war, nicht gleich automatisch verstehen und erfüllen kann.
Durch das Entdecken der eigenen Individualität werden die eigenen Konturen schärfer und prägnanter wahrgenommen und akzentuiert. Die Unterschiede zeichnen sich deutlicher ab, während häufig die Gemeinsamkeiten verblassen. Manchmal fragen dann Menschen, ob sie in einer Beziehung bleiben sollen, die immer mehr auseinander zu driften erscheint. Sie fühlen sich ausgebeutet und missverstanden, emotional unterernährt oder fortwährend abgewertet.
Die Liebe im Relativen ist immer störanfällig, weil sie an Bedingungen hängt. Die Suche nach mehr Sichterheit in einer Beziehung ist eigentlich eine Suche nach der Liebe, die aber nur in der Bedingungslosigkeit besteht und wirkt. In den ersten Phasen des inneren Wachsens werden nur die Bedingungen verfeinert und differenziert, und es bedarf weiterer innerer Klärung, bis die Seele so weit ist, Bedingung nach Bedingung fallen zu lassen. Dann breitet sich die bedingungslose Liebe von selber aus.
Meins ist besser als deins
Doch auch dann, wenn beide Partner an der Innenentwicklung interessiert sind, kann es zu Spannungen kommen. Besuchen die beiden die gleiche Schule oder arbeiten sie mit der gleichen Methode, kann es offen oder insgeheim zur Konkurrenz kommen, wer sich schneller und intensiver weiterbewegt. Sind die Methoden und Zugänge unterschiedlich, wird leicht ein Streit darüber ausbrechen, welche Richtung die bessere und effektivere ist. Schwachstellen der anderen Person, wie sie im Alltag auftreten, können dann als Mängel in der entsprechenden Wachstumsdisziplin dargestellt werden, um die eigene Methode und damit sich selber als besser herauszustellen.
Über das Vergleichen hinauswachsen
Jeder tiefgehende und weitreichende innere Weg führt irgendwann zur Erkenntnis, dass Vergleiche zwischen Menschen nicht weiterhelfen. Denn sie beinhalten Bewertungen und konstruieren Konzepte, die bei der Einordnung von Menschen helfen sollen, aber gleichzeitig Gräben zwischen ihnen ausheben. Irgendwann leuchtet ein, dass solche Kategorisierungen Unrecht und Unfug sind. Sie werden der Individualität und Besonderheit jedes Menschen nicht gerecht, und sie beschränken die eigenen Wahrnehmungsmöglichkeiten und damit die innere Freiheit des Wachsens.
Irgendwann kommt die Erfahrung dazu, dass je mehr Druck auf den Partner ausgeübt wird, sich in eine bestimmte Richtung zu bewegen, umso mehr Gegendruck erzeugt wird, gerade das nicht zu tun. Die Einsicht, durch die eigenen Bemühungen das zu erschweren, was sie bewirken sollen, ist ernüchternd. Dann kann die Hilflosigkeit, die angesichts der erfolglosen Bestrebungen entstanden ist, dem Verständnis weichen, dass der Impuls zur Veränderung nur dann wirksam werden kann, wenn er von innen kommt. So fällt es leichter, zu akzeptieren statt zu agieren. Die Erleichterung kann sich dann entspannend auf die Beziehungsgestaltung auswirken - und, wunderbarerweise, nicht so selten dazu führen, dass sich der Partner doch zu bewegen anfängt.
Solche Erkenntnisse sind ein klares Zeichen für das Eintreten in die dritte, systemische Phase der inneren Entwicklung. Die systemische Denkweise belehrt darüber, dass sich die eigenen Beziehungsthemen nicht durch einen Partnerwechsel verändern. Sie sind das Gepäck, das wir aus den frühen Erlebnissen mit Bezugspersonen aufgeladen haben. Darin findet sich das Grundrepertoire dessen, was wir in Beziehungen einbringen können, und darauf greifen wir immer wieder zurück, vor allem, wenn wir in Stress und Anspannung geraten.
Also steht neben der Option, den Partner zu wechseln, "weil es nicht mehr passt", auch die Option, die Verantwortung für die eigenen Anteile an den Themen zu übernehmen und für sich selbst und auch mit dem Partner zusammen Licht auf diese Themen zu werfen. In der Paartherapie, in Beziehungsgruppen oder anderen paarorientierten Veranstaltungen und Kursen treffen sich dann die wachstumsorientierten Beziehungspartner, um die Themen, die sich zwischen ihnen immer wieder auftun, zu bearbeiten.
Das funktioniert nur dann, wenn es ihnen gelingt, die systemische Sichtweise einzunehmen. Sie führt aus den Verirrungen des Vergleichens heraus, indem sie hilft, "in die Mokkasins des Feindes" zu schlüpfen. Die Perspektive des anderen einzunehmen öffnet die Augen für die eigenen Schwächen, die sich hinter dem Sich-Besser-als-der-andere-Fühlen-Müssen verbergen. Es wird deutlich, dass in den Themen, die am Beziehungspartner stören, eigene vergessene Verletzungen festgemacht sind, die der Partner ohne Absicht aktiviert. Hier kann gelernt werden, dem Partner für das Bewusstmachen eigener Themen zu danken, statt ihn dafür zu bekämpfen oder ihn zur eigenen Sichtweise zu erziehen.
Doch erst in der vierten Phase des inneren Wachstums wird die Kraft nutzbar, die darin besteht, die Partner in den Beziehungen in ihrer Werthaftigkeit zu schätzen, gleich ob sie sich einem Weg des inneren Wachsens verschrieben haben oder nicht. Für die bedingungslose Liebe gibt es keine Unterschiede zwischen den Menschen mehr, und jedes Bedürfnis, besser oder weiter zu sein als jemand anderer, ist verschwunden.
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