Mittwoch, 23. Juli 2014

Wachstum und Lernbeziehung



In der Entfaltung des inneren Wachsens verändert sich unsere Beziehungskultur - in uns und mit unseren Mitmenschen. Im gleichen Maß, wie wir lernen mit uns selber besser umzugehen, lernen wir, mit anderen Menschen besser umzugehen. Der Weg zu einer hohen Qualität mitmenschlicher Beziehungen, wie wir sie uns alle wünschen, ist allerdings lang, mit vielen Stolpersteinen gepflastert. Er hat damit zu tun, wie wir unsere Fähigkeit, die Toleranzspannung zwischen Gleichheit und Individualität auszuhalten und auszuweiten. Dieser Prozess der Weitung unserer Liebesfähigkeit führt uns "notwendigerweise" an Engpässe und zu Problemzonen, in denen wir unbewusst die Kraft der wertenden Unterscheidung mobilisieren, um uns vor den Risken der Veränderungen zu schützen. Das wertende Unterscheiden soll also eine innere Not wenden.

Eine der Quellen von solchen Themen liegt in der neuen Erfahrung einer Lernbeziehung, in die wir mit einem Therapeuten oder eine Lehrerin/Meisterin eintreten. Diese Personen bieten eine Qualität des Verstehens, der Präsenz, des Ernstnehmens und der liebevollen Zuwendung, die anfangs als etwas ganz außerordentlich Besonderes und Wertvolles begegnet. Denn es gibt in dieser Ausschließlichkeit dazu kein Vorbild, weder im Erwachsenenleben noch in der eigenen Kindheit. Da begegnet man nun auf einmal der idealen Mutter und dem idealen Vater, vereinigt in einer Person, und im Kontrast dazu verblassen alle anderen realen Beziehungen in der Gegenwart und in der Vergangenheit. 

Alle Mängel der aktuellen Kommunikationspartner werden vor dieser Folie überdeutlich negativ karikiert. Das führt zu unvermeidbaren Konflikten, weil bewusst oder unbewusst auch von den ungeübten und weniger bewussten Mitmenschen eine Güte an Klarheit und Herzenswärme eingefordert wird, zu der diese aufgrund ihrer eigenen frühen Beziehungsgeschichten nicht in der Lage sein können. Schließlich haben ja auch die vorbildhaften Meister der Kommunikation jahrelang an sich gearbeitet, um diese Qualitäten zu erwerben und zu entwickeln. Doch einmal in ihrer Wohltat erfahren, möchte man sie immer haben und versteht nicht, wenn sie einem von den Menschen, von denen man annimmt, dass sie einen liebhaben, "vorenthalten" wird. Diese Frustration schlägt schnell in Aggression um, die sich klarerweise aus den Wurzeln ähnlicher Erfahrungen aus den primären Beziehungen speist - kein gedeihlicher Boden für eine gelingende Kommunikation. 

In der Not geht die Fantasie zur Meisterin, die ganz anders und viel besser mit solchen Situationen umgehen würde. Wie liebevoll würde sie reagieren, wie offen und verständnisvoll. Die Fantasien verdoppeln die Frustration, weil die Meisterin, so wertvoll ihre Präsenz erfahren wird, nicht die ganze Zeit da ist und ihre außergewöhnliche Zuwendung nur in einer zeitlich begrenzten Form geben kann, während die Person, die die ganze Zeit da ist, ihr nicht nur nicht das Wasser reichen kann, sondern vielmehr noch ein negatives Abbild dazustellen scheint.

Vor allem in den Anfangszeiten einer therapeutischen und spirituellen Lernbeziehung entwickelt sich folglich eine imaginäre Dreiecksbeziehung. Der Therapeut oder die Meisterin ist fortwährend vorhanden, und die alltäglichen Beziehungserfahrungen werden andauernd bewusst und noch mehr unbewusst mit den Beziehungsqualitäten, die die bewunderte und verehrte Person aufweist, verglichen. Aufgrund der Herausgehobenheit der therapeutischen Kommunikation aus dem Alltag ist der Vergleich natürlich unfair. Mit einem spirituellen Lehrer muss keine Einigung über die Haushaltsverantwortlichkeiten oder andere Notwendigkeiten des Alltags getroffen werden. Er kann leicht der ideale Beziehungspartner für ein paar Minuten oder Stunden sein, wenn es um nichts anderes geht als darum, mit den eigenen Problemen und Schwierigkeiten verstanden zu werden.

Dennoch übertragen wir die Erfahrung, so besonders gut oder tief verstanden worden zu sein, auf die Menschen um uns herum. Der Wunsch nach Begegnung in einer solchen Atmosphäre ist ein stark in uns verwurzeltes Bedürfnis, das uns vom Anfang unseres Lebens an begleitet, dass klar ist, dass wir uns das wünschen müssen. Wir haben im Lauf unseres Aufwachsens gelernt, darauf zu verzichten, weil sie so spärlich vorhanden war. Irgendwann haben wir vergessen, wie bitter wir sie  notwendig haben, um uns geliebt zu fühlen. Bis zu dem Zeitpunkt, wo uns dieses Gesehenwerden wieder zuteil wurde, haben wir angenommen, dass es eine derartige Qualität der Begegnung für uns ohnehin nie geben wird.

Nun, da sich gezeigt hat, dass sie uns doch geschenkt wird, erwachen unsere Wünsche und Sehnsüchte wieder, und wir erkennen, dass es zu unserem Geburtsrecht gehört, in unserem Sein und Wesen vorbehaltlos und bedingungslos angenommen und wertgeschätzt zu sein. Dieses Recht fordern wir damit logischerweise von unseren Mitmenschen ein. Sonst ist ja niemand da, der diesen Rechtsanspruch einlösen könnte. Je näher uns jemand steht, desto mehr sollte er zur Stillung dieses Bedürfnisses beitragen und desto mehr verletzt der Mangel daran. So wird die Erfahrung des Mangels proportional mit dem Grad an Vertrautheit aktiviert, was häufig dazu führt, dass die Konfliktintensität ebenso mit dem Grad an Nähe ansteigt. 

Der Ausweg aus Idealisierung und Abwertung


Es braucht weitere Schritte in der inneren Entwicklung, um sowohl die Idealisierung, die der Lehrperson gegenüber aufgebaut wird, wie auch die Irrealität der Forderungen an unsere Mitmenschen, insbesondere der uns Nahestehenden, zu durchschauen und loszulassen. Nach dem Modell der Phasen des inneren Wachsens geschieht es bei der Einübung in die dritte, die systemische Phase, dass wir die Relativität unserer Erfahrungen annehmen lernen. Wir erkennen die Beschränktheit der therapeutischen Kommunikation und ihre Nichtvergleichbarkeit mit anderen Situationen des sozialen Austausches. Wir erkennen, dass die Menschen um uns herum die gleichen oder ähnliche Mangelerfahrungen und Sehnsüchte haben wie wir selber. So nehmen wir die Ansprüche zurück, die wir an sie richten und tun uns damit leichter, die Kirchen im Dorf zu lassen: Wir können aus der therapeutischen oder spirituellen Kommunikation lernen und aufnehmen, was sie uns bieten kann, und zugleich wertschätzen, was uns die anderen Kommunikations- und Begegnungserfahrungen unseres Lebens tagtäglich schenken oder auch zu lösen aufgeben. Wir müssen nicht mehr das eine mit dem anderen vergleichen, sondern lernen, mit den unterschiedlichen Herausforderungen unterschiedlich umzugehen. 

So können wir unsere Lebenspartner von den Forderungen entlasten, die eigentlich unseren Eltern und frühen Erziehungspersonen gelten. Wir richten den Blick darauf, was sie uns geben können und wie sie für uns dasein können, um dafür die gebührende Dankbarkeit zu entwickeln, statt die Beschränktheit und Bedingtheit dieses Gebens zu bemängeln. Wir erwarten nicht mehr von den Partnern unseres Alltagslebens, dass sie unsere frühkindlichen Defizite ausgleichen, noch dass sie zu Kopien von Meistern, Lehrern oder Therapeuten werden, die wir kennenlernen konnten. Vielmehr erkennen wir, dass wir ihnen für das, was sie sind und wie sie sind, - wie sie für sich sind, und auch, wie sie für uns sind -, Anerkennung und Wertschätzung entgegenbringen können.

Und so können wir anfangen, die Orientierung umzudrehen: Statt auf die Füllung unserer eigenen Mangelerfahrungen zu dringen, die emotionale und kommunikative Unterernährung unserer Mitlebenden als Aufgabe für unsere eigene Liebesfähigkeit zu sehen. Wir schauen mehr darauf, was wir geben können, auch aus dem heraus, was wir im Lauf unseres bewussten inneren Wachsens gelernt und entwickelt haben, und weniger darauf, wo wir am meisten für uns selber profitieren könnten. Schließlich erfahren wir, wie viel Erfüllung darin liegen kann, die Qualität des Ernstnehmens und Akzeptierens, die wir in speziellen Kommunikationssituationen erleben durften, anderen weiterzugeben. Auf diesem Weg wird diese Qualität mehr und mehr zum Standardrepertoire unseres Beziehungslebens.

Damit nähern wir uns der vierten Stufe der inneren Entwicklung an, die im Teilen der bedingungslosen Form der Liebe besteht. Wir sind dann nicht mehr von unserer Bedürftigkeit gelenkt, sondern fühlen uns mit der Fülle des Seins verbunden, das uns immer genau das gibt, was für uns gut ist und uns immer einen Weg zeigt, wie wir besser für die Menschen um uns herum dasein können.

Beziehungsfallen für die Lehrperson


Aus der Not von Missverständnissen und Konfliktsituationen in den Beziehungen des täglichen Lebens wird der idealisierten Lehrperson ein besonderes Beziehungsangebot unterbreitet. Wiederum ist es vermutlich zum größten Teil unbewusst. Es besteht darin, dieser Beziehung eine herausragende Wichtigkeit und Bedeutsamkeit vor allen anderen Beziehungen einzuräumen. 

Je nachdem, wie gründlich sich ein Therapeut oder eine spirituelle Lehrerin mit den entsprechenden Ego-Anteilen auseinandergesetzt hat, die auf solche Beziehungsangebote reagieren, bemisst sich der Grad an Verantwortung, wie damit umgegangen werden kann. Im Fall einer unbewussten Schwäche im Bereich des eigenen Narzissmus wird das Angebot missbräuchlich aufgenommen: Der Lehrer nutzt die Bewunderung, die ihm entgegengebracht wird, zur Füllung des eigenen Bedürfnisses nach Anerkennung aus. Entsprechend wird er die Beziehung zur Schülerin gestalten, sodass in ihr das Gefühl verstärkt wird, nur in dieser Beziehung ihr Heil finden zu können, statt ihre Fähigkeit zu stärken, alle ihre Beziehungen im Leben besser gestalten zu können und sich damit gut aus der Idealisierungsbeziehung zur Lehrperson lösen zu können.

Die Reife der Persönlichkeit zeigt sich daran, dass die Rahmenbedingungen der Lehrbeziehung klar unterschieden werden können von den Rahmenbedingungen der anderen Beziehungen, in denen sich die hilfe- und ratsuchende Person in ihrem Leben befindet. Ein weiterer Gradmesser dieser Reife liegt darin, die Stärkung der Autonomie und universellen Liebesfähigkeit in der Schülerin als oberste Richtschnur ihrer Förderung und Unterstützung zu nehmen. Es liegt an der Lehrperson, sich selber in dieser Rolle strittweise zurückzunehmen und überflüssig zu machen. Nur wenn sie die dafür notwendige Kraft und Bewusstheit hat, ist sie wirklich geeignet, das innere Wachstum von anderen Menschen zu begleiten und zur Entfaltung zu bringen. Wenn sie über diese Qualitäten verfügt, sorgt sie auch dafür, dass sich die zu Beginn des Beitrags geschilderten Projektionsphänomene nur im möglichst geringen Grad ausbilden. Je klarer also ein Therapeut oder spiritueller Lehrer die Besonderheit des individuellen Weges einer Schülerin erkennt auf und alles in seinen Kräften Stehende dafür einsetzt, damit dieser Weg zur Auflösung aller Abhängigkeiten von ihm selbst und damit zur Auflösung der Lehrbeziehung als solcher führt, desto leichter wird es der Schülerin fallen, sich in ihrem eigenen Beziehungsnetz harmonisch entwickeln zu können. 

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