Donnerstag, 10. Juli 2014

Aus Unterschieden lernen

Das Wahrnehmen von Unterschieden zwischen den Menschen, das mit einer Wertung verbunden ist, führt zu inneren Problemen. Denn Menschen haben ein tiefsitzendes Bedürfnis, mit Ihresgleichen auf der Basis von Gleichheit verbunden zu sein. Jeder Unterschied, der mit einer Bewertung einhergeht, stellt eine Bedrohung dar und löst Ängste aus. Wenn einige in der Gemeinschaft anders sind und dieses Anderssein als schlechter gewertet wird, wird eine Grenze gezogen: Die einen bleiben innen, die anderen kommen an den Rand. Wer am Rand ist, läuft Gefahr, irgendwann überhaupt nicht mehr dazu zu gehören, also ausgestoßen zu werden.

Wenn wir das Leiden an den Unterschieden auflösen wollen, müssen wir zuerst verstehen, wie es zu bewerteten Unterschieden kommt. Dazu diente das Modell des inneren Wachstums. Es zeigt uns, dass der innere Impuls zum Wachsen zur Veränderung des Gefüges mit unseren Mitmenschen führt, der zunächst fast notwendigermaßen mit Bewertungen einhergeht.

Erst wenn es gelingt, diese Bewertungen zu beenden, hört auch das Leiden an den Unterschieden auf. Deshalb stellt sich hier die Frage, wie es möglich ist, aus der Falle des Bewertens auszusteigen, ohne die entsprechenden Impulse einfach zu unterdrücken oder sich das Bewerten einfach zu verbieten. Es muss ein Weg sein, auf dem sich zeigt, dass es angenehmer und lohnender ist, auf Bewertungen zu verzichten, sodass diese mit der Zeit von selber aufhören, im eigenen Innenleben eine Rolle zu spielen.

Zunächst: Es macht keinen Sinn, wenn wir uns selber dafür bewerten, dass wir Unterschiede bewerten. Besser ist es, uns bewusst zu machen, was dabei abläuft und wie wir dabei mit uns selber umgehen. Wir können aus allem, was wir tun oder unterlassen, lernen.


Lernen aus Vergleichen


Für das Vergleichen ist ein Bewertungsvorgang notwendig. Jeder Vergleich braucht einen Maßstab, an dem der Unterschied abgelesen werden kann. Ein Maßstab ist eine Bewertungsskala, auf der es Abstufungen gibt zwischen Mehr/Weniger, Besser/Schlechter, Heller/Dunkler, Schneller/Langsamer, Sympathischer/ Unsympathischer usw.

Wenn wir uns auf den Weg der Bewusstheit begeben, erkennen wir erst, wie viele Vergleichsmaßstäbe wir in uns tragen. Solche Einstufungsprogramme arbeiten die ganze Zeit, von früh bis spät. Jedes Mal, wenn wir einem Menschen begegnen, werden sie aktiv, es genügt aber auch nur, dass wir an andere Menschen denken, oder an uns selbst, schon legen wir einen Maßstab der Bewertung an.

Wir wollen ja wissen, ob wir auf dem richtigen Weg sind. Und dazu brauchen wir einen Vergleich mit anderen Wegen oder mit anderen Menschen, die andere Wege gehen. So machen wir uns eine Skala zwischen effektiven und uneffektiven Wegen, zwischen schnellen und langsamen, gründlichen und oberflächlichen usw. Die nächste Skala entsteht zwischen den Anfängern und Fortgeschrittenen auf einem bestimmten Weg oder auf dem allgemeinen Weg der Bewusstwerdung überhaupt. Manche Schulen erleichtern diese Aufgabe, indem sie verschiedene Grade der Einweihung oder der Meisterschaft vergeben, wie die Gürtel bei ostasiatischen Kampfkünsten.

Je tiefer wir in einen bestimmten Bereich der Innenerfahrung eindringen, desto deutlicher werden die Unterschiede zu den "Laien", den Menschen, die ihren Alltag scheinbar oder anscheinend ohne jeden Anspruch auf Selbsterforschung bewältigen. Wir, die wir uns auf dem inneren Weg abmühen, Zeit, Geld und Herzblut investieren, brauchen auch eine Bestätigung für die Sinnhaftigkeit unserer Anstrengungen. Wir holen sie uns, indem wir bestimmte Vorzüge an uns selber im Vergleich zu den Alltagsmenschen herausstreichen oder indem wir uns von solchen Leuten abgrenzen, weil wir unter ihrer "Grobstofflichkeit", "Unbewusstheit", "dunklen Energie" usw. leiden.


Übungen


Die einfachste Übung, die uns hilft, aus dem Vergleichen zu lernen, besteht darin, in jedem Menschen, der uns über den Weg läuft, sei es im Außen oder im Innen, einen inneren Kern zu sehen, der heil und unversehrt ist, hinter den Masken und Verhärtungen, die die Oberfläche bilden. Dann merken wir, dass die Unterschiede unwesentlich sind und das Gemeinsame wichtiger. Diese Übung ist zwar einfach, aber nicht immer fällt sie uns leicht. Wir hängen oft stark in unseren Gewohnheiten, Menschen nach Äußerlichkeiten einzuordnen.

Wenn wir bei jemandem "nicht weiter kommen", d.h. wenn wir an der Oberfläche kleben bleiben und kein Inneres wahrnehmen können, dann gilt es, die Erforschung dessen, was uns an der Person irritiert und abstößt, bei uns selbst zu vertiefen. Dabei kann die Übung helfen, Ähnlichkeiten zu mir selbst zu entdecken. Wenn jemand z.B. uns durch sein ungepflegtes Äußeres anwidert, dann können wir darüber kontemplieren, in welchen Bereichen wir uns selber zu wenig pflegen, oder ob es Bestrebungen und Wünsche in uns gibt, unsere möglicherweise übertriebenen Reinlichkeitsansprüche einmal nicht so ernst zu nehmen. Vielleicht entdecken wir an allem, was uns auf die Nerven geht, etwas Ähnliches, das in uns selber steckt, sei es auch nur dessen radikales Gegenteil.

Jeder Unterschied ist ein Beitrag zur Vielfalt des Lebens. Wenn wir die Bewertung weglassen, können wir die Schönheit an der Vielfalt erkennen. Wollen wir wirklich, dass jeder andere so denkt, ausschaut, empfindet wie wir selber? Das wäre ja äußerst monoton und langweilig. Unterschiede beleben und erzeugen Neues. Uniformität lähmt die Kreativität.

Wenn ich also einem Unterschied begegne, der mir auffällt, zum Denken gibt und negative Gefühle aufsteigen lässt, kann ich mich, statt gleich ein bewertendes Etikett darauf zu kleben, darauf konzentrieren, was ich an diesem Mitmenschen oder seinen Eigenschaften wertschätzen und bewundern könnte. Dann fällt es mir leichter, mit dem Phänomen Frieden zu schließen, ja, ich kann sogar noch an dem, was mir vorher ein Problem war, einen Gewinn an Lebensqualität erfahren. Zudem bin ich ein Stück weiser und menschenfreundlicher geworden.


Im Zusammenleben


Ein Problem kann sich ergeben, wenn eine Person systemisch denkt, und die andere personalistisch. Dann kommen die beiden nicht weiter. Das personalistische Denken bleibt auf sich bezogen und gibt dem anderen die Schuld am Zerwürfnis, systemisch gedacht liegt es an einem Missverständnis, an dem beide Personen einen Anteil haben.

A (personalistisch): Du musst dich ändern, damit es mir besser geht.
B (systemisch): Wie können wir unsere Interaktion besser verstehen und ändern, so, dass jeder etwas davon hat?

Die Kraft des Systemischen wirkt allerdings unterschwellig. Sie braucht Zeit, führt aber dann zu einer Entspannung, die bei der "personalistischen" Person ein implizites Wissen über das Systemische hervorruft.

Systemisch betrachtet, kann eine Person, die sich nicht verändern will, nicht verändert werden. Sie kann so akzeptiert werden, wie sie ist, inklusive ihrem Wunsch, sich nicht zu verändern und bei Gewohnheiten zu bleiben, die vom anderen als störend erfahren werden. Wenn jedoch die Erfahrung kommt, dass die andere Person auf die problematisierte Handlungsgewohnheit nicht mehr ablehnend, sondern neutral reagiert, kann sich „wie von selber“ eine Änderung einstellen. Das Unbewusste hat keinen Nutzen mehr daran, dem anderen eines auszuwischen, weil es merkt, dass die Provokation nicht mehr ankommt – wie schon Shakespeare erkannt hat: „Zum Raube lächeln, heißt den Dieb bestehlen“.

So kann durch Nachsicht und Einsicht ein Stück Frieden durch systemische Weisheit entstehen.


Die elementare Toleranzspannung


Im Grund geht es darum, eine elementare Spannung auszuhalten: Das radikale Anderssein, das aus der Einzigartigkeit jedes Menschen stammt, mit der radikalen Gleichheit, die aus dem Menschsein kommt, zusammenzuhalten. Beides müsste in jeder Begegnung, ja schon in jedem Gedanken an andere Menschen als Grundgefühl vorhanden sein. Mussten wir in tribalen Gesellschaften mit dieser Spannung für eine überschaubare Anzahl von bekannten Stammesmitgliedern zurechtkommen, sind wir heute, in der globalisierten Welt, gefordert, sie mit jedem Mitglied der Menschheit zu verbinden. Jeder Mensch darf genau so sein, wie er/sie ist, und ist gerade deshalb wesensgleich mit uns selber.

Und das ist erst der Anfang der Toleranzspannung. Da wir selber gewissermaßen unterhalb unseres Menschseins auch Naturwesen sind, braucht es diese Spannung auch im Verhältnis zu allen anderen Naturwesen. Dafür ist es erst ein kleiner Beginn, wenn wir damit aufhören, unsere nächsten Naturgenossen, die Tiere, zu verzehren.

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