Dienstag, 19. November 2013

Prä- und transrationale Erfahrungen unterscheiden

Nach dem Modell von Ken Wilber gilt alles als prärational, was vor der Entwicklung der rationalen Fähigkeiten, also vor der Ausbildung des Großhirns, vor allem des präfrontalen Kortex geschehen ist sowie auch alle Inhalte des Bewusstseins, die zwar später auftauchen können, aber die Form des Prärationalen haben. Diese Form ist gekennzeichnet durch  eine assoziative, bildhafte und emotionale, in Bezug auf das Gehirn also eine dominant rechtshemisphärische Informationsverarbeitung. Sie kennt weder die verbale Sprache noch die Gesetzmäßigkeiten der Logik.

Die prärationale Phase der frühen Kindheit wird im Lauf des Aufwachsens durch die rationale ergänzt und weitgehend abgelöst, die durch eine Dominanz des logischen und abstrakten Denkens gekennzeichnet ist und das Vorherrschen der linken Gehirnhemisphäre anzeigt.

Dann zeigen sich in der Weiterentwicklung des Bewusstseins die transrationalen Bereiche, die durch Weite, Offenheit, innere Freiheit, vernetztes und systemisches Denken gekennzeichnet sind. Solche Zustände sind frei von Angst und Kontrolle, und sie können nur auftauchen, nicht gemacht werden. Psychodynamisch betrachtet, beruhen sie auf der erfolgreichen Auflösung von Traumatisierungen. Jedes aufgearbeitete und integrierte Trauma bringt einen Zugewinn an innerer Freiheit.

Prärationale Trans-Erfahrungen


Das Modell der Peakstates-Therapie nach Grant McFetridge relativiert dieses einfache Stufenmodell von Ken Wilber mit folgender Grundannahme: Peakstates, also Gipfelzustände, wie sie für die transrationale Erfahrungswelt kennzeichnend sind, sind nicht nur spätere Errungenschaften durch meditativen Übungen usw., sondern sie sind zuallererst der ursprüngliche Zustand des prärationalen Bewusstseins, der allerdings dann fast immer durch Traumatisierungen im Lauf der organischen und psychischen Entwicklung blockiert wird. Also gibt es nach diesem Modell weit zurück im prärationalen Bereich die Erfahrungsformen des Transrationalen, und was wir dann später als transrational erfahren, ist eigentlich „nur“ eine Wiederherstellung ursprünglich zugänglicher Gipfelzustände. Das deckt sich mit der von mir vertretenen Gefühlstheorie: Gipfelzustände sind Erlebensformen des Wachstumszustands und deshalb mit Wachstumsgefühlen (Glück, Lust, Freude etc.) verbunden. Im Schutzzustand, der vor allem durch Angst und andere “negative” Gefühle gekennzeichnet ist, sind sie allerdings blockiert. Traumatisierungen chronifizieren den Schutzzustand und führen dazu, dass wir den Schutzzustand als normal und den Wachstumszustand als Besonderheit oder Absonderheit erleben.

Damit wird das Modell von Wilber als Entwicklungslogik, die strukturelle Abläufe untersucht und die Phänomene nach ihrem Gehalt und ihrer Form einordnet, in seiner zeitlichen Struktur in Frage gestellt. Phänomene, die eigentlich erst nach der rationalen Phase auftauchen können, gibt es im Erleben schon vor ihr, sie werden nur im Wiedererleben nach der Traumalösung in einer mit der Erwachsenenrealität und ihren rationalen Strukturen verträglichen Form neu wahrgenommen. In der Bewusstseinsrekonstruktion können wir erkennen, dass aus dem Wiedererleben und Heilen von Traumatisierungen an Entwicklungspunkten, dass Gipfelzustände und damit transrationale Erfahrungen zum ursprünglichen Repertoire des Bewusstseins gehören. Prärationale Gipfelzustände unterscheiden sich von den transrationalen darin, dass sie ohne Rationalität und verbale Sprache auskommen. Sie benötigen nicht mehr als eine einfache Körperform wie die befruchtete Eizelle, um sich entfalten zu können. Also benötigen sie weder eine fortgeschrittene Zelldifferenzierung noch ausgeprägte Strukturen des Nervensystems, geschweige denn ein voll entwickeltes Großhirn als Grundlage. Deshalb sind prärationale Trans-Zustände in ihrer Struktur ganz einfach und haben keinen Bezug zur Paradoxie, die erst in der Spannung von Rationalität und Transrationalität entsteht.

Prärationale Gipfelerfahrung versus dissoziative Zustände


Allerdings, und da meldet sich wieder die Wilber’sche Prä-Trans-Schere, müssen prärationale Gipfelzustände von prärationalen dissoziativen Zuständen unterschieden werden. Denn gerade traumatische Erfahrungen hinterlassen die starke Neigung zu dissoziativen Abspaltungen. In der Dissoziation können wir Phänomene erleben, die Erfahrungen, wie wir sie aus der transrationalen Bewusstseinswelt kennen, „zum Verwechseln“ ähnlich sind. Ein Beispiel ist die Erfahrung von Leere: Sie kann die Folge einer Erfahrung des Abgeschnittenseins sein, wenn etwa eine werdende Mutter dem fötalen Leben keine Aufmerksamkeit und Zuwendung geben kann. Diese prärationale traumatische Erfahrung wird als Leere aus Mangel erlebt, häufig verbunden mit einem Gefühl der Einengung, mit Angst und Grauen. Die transrationale Leereerfahrung dagegen ist verbunden mit einem Gefühl der inneren Freiheit. Sie ist keine Mangel- oder Verlusterfahrung, sondern  die Befreiung von Ballast, unnützen Gedanken usw.

So ist also tatsächliche die prärationale Landschaft gekennzeichnet von heil gebliebenen Inseln der Freude und Glückseligkeit und von dissoziativen Bruchstücken.

Wenn wir die Phänomene der Dissoziation betrachten: Ihrem Sinn nach dienen sie dazu, das Bewusstsein vom körperlichen Erleben, das im Trauma von massivem Schmerz überwältigt wird, abzutrennen, um in einen Bereich der Schmerzfreiheit und Gelöstheit zu gelangen. Das Bewusstsein trennt sich also vom Körper, um sich zu schützen.

Wenn wir solche Zustände wiedererleben, ist die Erfahrung der Körperlosigkeit, des Aus-dem-Körper-Gehens typisch. Die innere Verbindung zum körperlichen Dasein ist abgeschnitten. Ähnlich wie bei Nahtoderfahrungen kann der eigene Körper nur von außen wahrgenommen werden, es gelingt aber nicht mehr, mit der Aufmerksamkeit in ihm drinnen zu sein.

Deshalb sind solche Erfahrungsräume durch eine scharfe Außengrenze geschützt, und wenn sie überschritten wird, (z.B. durch eine Störung von außen), bricht der Zustand ab und es kommt zu einer tiefgreifenden Irritation und Verwirrung, bis erst nach einiger Zeit wieder der Kontakt zur Realität hergestellt werden kann. Es gibt also keine graduellen Übergänge, kein langsames Auftauchen aus der Erfahrung, sondern das Gefühl, herausgerissen zu werden und darauf mit einem Schock zu reagieren. Äußere Störungen wirken also als Zerstörungen des Bewusstseinszustandes und lösen Angst oder Aggressionen aus.

Typisch für solche dissoziativen Erfahrungen ist demnach das Fehlen von Empfindungen, oft sind auch die Gefühle nur vage, es besteht keine Verbindung zur Sprache. Der Kontakt nach außen, also zur umgebenden Realität oder zu anwesenden Menschen ist kaum oder gar nicht vorhanden. Dazu kann ein Gefühl der Unwirklichkeit kommen, das sich auf das eigene Selbst oder auf die Außenwelt bezieht. Statt dessen tritt das Erleben eines mentalen Zustandes, in dem Bilder und assoziativ ablaufende Filme sowie traumartige Sequenzen vorkommen können.

Da die Sensibilität für die Innen-Außenunterscheidung verlorengeht, verschwimmt das Innere und das Äußere. Deshalb können Innenerfahrungen leicht mit Außenerfahrungen verwechselt werden, was ja auch eine Form der Prä-Trans-Verwechslung darstellt und zu den Vorformen von Psychosen gerechnet werden kann.

Im Modell der Peakstates-Therapie, sind Gipfelzustände, zum Unterschied von Dissoziationen, durch die Buchstaben „CPL-BL“ gekennzeichnet: Calm, Peace, Light, Bright, Large. Gipfelzustände fühlen sich also ruhig und friedlich an, leicht, unbeschwert, sowie hell und weit. Diese Merkmale bezeichnen einen traumafreien Zustand. Solange noch eine Spannung im Körper wahrgenommen wird, handelt es sich nicht um einen transrationaler Zustand. Vielmehr ist es ein Hinweis darauf, dass das Trauma noch nicht gelöst ist.

Wenn uns Prä-Trans-Verwechselungen begegnen


Wie können wir bei anderen Menschen unterscheiden, ob das, was sie uns mitteilen, aus einer dissoziativ-prärationalen oder aus einer transrationalen Quelle stammt? Zu dieser Frage ein paar Beispiele:

Manche Menschen neigen dazu, ihre Lehrer oder Gurus zu idealisieren, und so erzählen sie von ihren Erfahrungen und von dem Wissen, das sie davon mitnehmen, ohne rationale Distanz und Differenzierung. Es wird deutlich, dass sie sich keine eigene Meinung mehr erlauben. Vielmehr neigen sie dazu, sich einem fremden Wissen unterzuordnen, das sie selber nicht prüfen, sondern ihm wie einem Dogma folgen. Damit verzichten sie auf ihre eigene erwachsene Rationalität und erfüllen sich als Ersatz ein narzisstisches kindliches Bedürfnis nach Klarheit und Sicherheit. (vgl. Narzissmus)

Wenn sich Menschen bei der Begründung ihrer Ansichten, Einsichten oder Entscheidungen auf eine Eingebung aus einer höheren Quelle berufen und, so kann es sich zwar um Informationen des inneren Sinnes handeln, der Zugang zum eigenen Unbewussten hat. Wenn sie dabei allerdings die Frage nach rationalen Begründungen aggressiv abwehren, kann das ein Hinweis sein, dass die Einsichten weniger mit einer höheren Realität oder einer tieferen Erkenntnis über die Zusammenhänge der äußeren Realität oder mit verlässlichen Prognosen für die Zukunft zu tun haben, sondern dass es um Verschlüsselungen oder assoziativ symbolisierten Erfahrungen aus unbewältigten Erfahrungen der eigenen Lebensgeschichte geht, die in spirituellem Gewand ihren Ausdruck suchen und mit Hilfe von Aggressionen verteidigt werden müssen.

Die Quellen der menschlichen Fantasie können unbegrenzt sprudeln. Für viele Menschen war von früher Kindheit an die Flucht ins Reich der Fantasie ein Ausweg aus Situationen des Unverstandenseins, der Hilflosigkeit und Verzweiflung. Damit wird die Fantasie zu einer vertrauten Ressource, die jederzeit mobilisiert werden kann, um sich tieferen inneren Konflikten nicht stellen zu müssen. Solche Tendenzen können die Verunsicherungen und Störungen im Realitätsbezug und im Selbstbezug verstärken, was den Hintergrund für die Attraktivität von esoterischen Angeboten der Welterklärung abgeben kann. Modelle, wie sie z.B. in esoterischen Geschichtsdarstellungen oder Zukunftsszenarien angeboten werden, spiegeln diese verschwommene Unterscheidung von Fantasie und Realität wider.

Da solche Modelle in rational strukturierten Kreisen auf Ablehnung und Unverständnis stoßen, bestätigt sich das Gefühl des Unverstandenseins, was wiederum die Fluchttendenz verstärkt und die pseudospirituelle Welterklärung noch vehementer vor rationaler Überprüfung und Infragestellung abschottet.

6 Kommentare:

  1. ganz ein toller Artikel Wilfried. Versteh ich das richtig, durch den Rückzug in die Dissoziation wie z.B. das Erklären eines Zustandes mit Geschichten, die man gelesen, gehört und erzählt bekommen hat zieht man sich aus der "Gefahr" des eigenen Wiedererlebens und damit Auflösung eines Traumas zurück weil es einfach zu dem jetzigen Zeitpunkt noch zu schmerzhaft wäre hinzusehen?

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    1. Genauso sehe ich das, danke sehr für die gute Zusammenfassung!

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  2. ein weites Betätigungsfeld, ist ein permanentes assoziieren durch den Berater zielführend und hilfreich oder ist das zu massiv?

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    1. Lieber Gernot,
      ich denke, ab und zu kann der Berater seine Assoziationen mitteilen und als solche kennzeichnen. Permanent zu assoziieren hieße, die ganze Zeit im eigenen Kopfkino unterwegs sein, was einem Klienten außer Unterhaltungswert nichts bringt.
      Wenn Klienten assoziieren, finde ich es hilfreich, die Einfälle immer wieder mit der Körpererfahrung zu verbinden, dann kann man sicher sein, dass es sich nicht um Dissoziationen geht.

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  3. Danke, Wilfried, für den interessanten Artikel!
    Du hast die Nahtoderfahrung erwähnt: Ist das "Aus-dem-Körper-gehen" im Anfangsstadium dieser Erfahrung dann eigentlich auch "nur" eine Dissoziation? Oder ist das abhängig davon, wie es weitergeht?
    Und was sage ich am besten meinem Kind, das mich fragt, was beim Sterben und danach passiert?
    LG Elisabeth

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