Dienstag, 25. September 2012

Der freie Wille und die Ebenen der Bewusstseinsentwicklung

Selbstverständlich glaube ich an den freien Willen, ich habe ja gar keine andere Wahl. (Isaac B. Singer)


Ich folge hier der Frage, ob der freie Wille auf verschiedenen Ebenen der Bewusstseinsentwicklung verschiedene Bedeutung haben kann, womit der Streit um die „Existenz“ oder „Brauchbarkeit“ des freien Willens aufgelöst werden könnte. Denn dann ist jede Antwort auf die Frage immer auf eine der Ebenen bezogen und hat nur innerhalb dieses Rahmens einen Sinn. Ich verwende das Modell der Bewusstseinsentwicklung aus meinem Buch „Vom Mut zu wachsen“.

Die erste, tribale Stufe

Im Stammesgefüge hat immer im Zweifelsfall der Gesamtwille des Stammes den Vorrang vor dem, was der Einzelne möchte. Dieser Gesamtwille speist sich aus den tradierten Regeln und Weisheiten, über die vor allem die Älteren verfügen. Die Freiheit, aus diesen Regeln auszusteigen, sie zu ändern oder zu ignorieren, besteht nicht. Natürlich verfügen die Menschen in diesen Zusammenhängen über ein subjektives Gefühl der freien Entscheidung, doch sind sie so stark emotional und mental in das Stammesbewusstsein eingebunden, dass dieses individuelle Willensgefühl nur in den Bereichen des eigenen persönlichen Lebens zum Tragen kommt und zurückgestellt wird, wenn es um das Ganze des Stammes geht.

Die zweite, emanzipatorische Stufe

Hier geschieht genau das, was auf der ersten Stufe verwehrt war. Der Wille will sich aus der Vorherrschaft der Regeln befreien. Nichts mehr soll ihn beschränken. Der freie Wille wird zur Willkür, die nur dort Grenzen akzeptiert, wo die Macht größer ist als die eigene. Der freie Wille wird trotzig behauptet und gilt als Rechtfertigung des Handelns, auch wenn es die Regeln und auch wenn es andere Menschen verletzt. Er stellt sich gegen die tradierten Regeln und Normen und will sie aufbrechen. Die Menschen auf dieser Stufe prägen geradezu  ihre Identität mit dem Satz: „Ich will, also bin ich.“ 

Die dritte, hierarchische Stufe

Der freie Wille, der sich in der vorigen Stufe Bahn gebrochen hat, wird hier durch ein übergeordnetes Regelwerk eingedämmt und gezähmt. Dieses Regelwerk bemisst sich nicht mehr an Traditionen, sondern an den Erfordernissen von Großorganisationen, in welche die Menschen „eingepasst“ werden, indem sie ihren Willen zwar wahrnehmen, aber aus Angst und Vernunft auf seine Anwendung verzichten. 

Die Menschen werden „zur Verantwortung gezogen“, es wird ihnen der freie Wille zugemutet, und sie können sich nicht mehr auf andere ausreden. Sie „werden in die Pflicht genommen“. Bei jedem Regelverstoß drohen Strafen, und die Angst davor motiviert zum Verzicht auf die Durchsetzung der eigenen Wünsche. Die Loyalität, die die Machtträger einfordern, ist jedoch brüchig, weil die Untertanen bei der erstbesten Gelegenheit versuchen, aus dem System der Überwachung und Kontrolle auszubrechen.

Die vierte, materialistische Stufe

Der freie Wille bekommt wieder ein Betätigungsfeld im Bereich der wirtschaftlichen Entscheidungen. Er ist ein prägender Faktor am freien Markt. Jeder ist seines Glückes und seines Unglückes Schmied. Jeder kann Millionär werden oder Tellerwäscher bleiben.

Das ist der Zynismus des freien Willens: Die Individuen haben die volle Freiheit des autonomen Wirtschaftssubjekts und eine unendliche Möglichkeit zu wählen, andererseits können sie nie die Einsicht in die gesamten Zusammenhänge haben. Sie sind für all ihre Handlungen verantwortlich, und wenn sie Fehler machen, tragen sie die Verantwortung. Sie nehmen z.B. einen Kredit auf und können ihn nach einiger Zeit nicht mehr zurückzahlen, die Zinsen steigen, und irgendwann haben sie alles verloren. Und sie tragen die ganze Schuld an dieser Entwicklung, sie hätten sich ja auch anders entscheiden können. Der freie Wille wird als abstraktes Konstrukt zugemutet und diese Zumutung führt dazu, dass sich die Menschen noch mehr von sich selbst entfremden. 

Die Kritik an dieser Bewusstseinsstufe verdeutlicht, dass die Wirklichkeit der Willensfreiheit an materielle Bedingungen geknüpft ist. Für den einen bedeutet sie die Frage, ob sie ihre Villa auf diesem oder jenem Hügel bauen, für die anderen, ob sie eine Drecksarbeit machen oder verhungern.

Deshalb Herausforderung an die 5. Stufe, die Freiheit neu zu definieren, dort wird sie sich auch mit politischen Forderungen verbinden: Die Möglichkeitsräume für alle Menschen so zu erweitern, dass sie sich selbst mehr entfalten und verwirklichen können, dass sie also ihren freien Willen gestaltend einsetzen können.

Die fünfte, personalistische Stufe

Hier kommt die Willensfreiheit zu ihrer höchsten Blüte. Der Mensch der fünften Stufe kann sagen: „Ich bin frei, also bin ich“. Freiheit ist der zentrale Begriff dieser Bewusstseinsstufe, als innere Erfahrung und als Forderung, individuell wie gesellschaftlich. Ich kann alles aus mir machen, was ich nur will. Ich muss nur richtig wollen und fest daran glauben. Die Freiheit des Willens drückt sich in der kreativen Gestaltung des Lebens aus, wie sie im künstlerischen Ausdruck vorgelebt wird. Dennoch: Auch wenn die Künstlerin frei ist, wie sie die Pinselstriche setzt, muss sie sich ein Stück dem Kunstwerk unterordnen, das ihr vorschreibt, was ins Bild passt und was nicht. Damit erfährt sie bereits ein Element der nächsten Bewusstseinsstufe. 

Die ethische Reflexion wird in alle Bereiche des Lebens eingeführt. Alles ist Gegenstand der eigenen Entscheidung, des eigenen Lebensentwurfs. Wir erleben uns als SchöpferIn unseres Lebens. Jeder Moment stellt die Herausforderung, unser Leben neu zu beginnen und zu orientieren. Weder die Vergangenheit noch die Erwartungen anderer Menschen können uns davon abhalten, das zu tun, was wir für richtig halten und wofür wir uns entscheiden. 

Hierher gehört auch die Entscheidungsfreiheit, die uns auf den spirituellen Weg führt. Die personalistische Ebene erinnert uns daran, dass wir spirituelle Weisheiten nicht als Ausrede verwenden sollten, wie z.B. dass ja alles vorherbestimmt ist und wir deshalb tun und lassen können, was wir gerade wollen, auch wenn es uns oder anderen schadet und Leid zufügt. Auch auf dem Weg nach innen stehen wir immer wieder vor einer persönlichen Entscheidung, das Gute zu wählen statt dem Bösen oder Schlechten.

Die sechste, systemische Stufe

Der freie Wille verliert seine dominante Stellung und ordnet sich den systemischen Zusammenhängen unter. Zwar kann jeder aus einem System ausscheren, wenn er will, aber die systemische Vernunft lehrt, dass es sinnvoller und nützlicher ist, immer wieder den eigenen Willen zurückzustellen und der Kraft des Systems Raum zu geben. Sich im rechten Moment einbringen und dann wieder zurücknehmen, gehört zu den Tugenden dieser Stufe. Damit werden die Grandiosität und der Pathos des freien Willens eingeschränkt und aus dem Zentrum der eigenen Identität an die Peripherie verschoben. Wichtig ist es nicht, den eigenen Willen durchzusetzen, sondern mit den eigenen Mitteln zum Gelingen des Ganzen beizutragen.

Die siebte, holistische Stufe

Auf dieser Stufe werden alle Ideen von Freiheit, wie sie auf den früheren Stufen gebildet worden waren, überprüft und revidiert. Hier geht es darum, wie sich das Ich und die Welt darstellen, wenn es keine Ängste und starren Festlegungen mehr gibt und wenn statt dessen das volle Vertrauen in die fließende Entwicklung des Lebens und der Wirklichkeit zugelassen werden kann. Die Befreiung von der Freiheit des Willens lässt uns hier in einen größeren Raum fallen, in dem wir alles nur als Ballast empfinden, was wir uns an Grundprinzipien und Wesenserkenntnissen aufgebaut haben.

Der freie Wille wird jetzt als Instanz des Egos entlarvt, als Wichtigtuer, der nur Hindernisse auf dem Weg zur eigentlichen inneren Freiheit auftürmt. Denn er vermeint, alles aus eigenem Antrieb und eigener Kraft schaffen zu müssen, während ihm in Wirklichkeit selber nichts gehört und alles gegeben wird. Es gibt keine eigene Leistung mehr, weil das Eigene nicht Eigenes ist, sondern Geschenktes. Also braucht es keinen freien Willen mehr, der sich solche Leistungen zuschreiben will.

Wenn sich die Ängste aufgelöst haben, erkennen wir, dass wir auf die Konzepte und Konstrukte verzichten und uns statt dessen dem Strom des Lebens anvertrauen können. Ist es für den Wassertropfen im Ozean wichtig, ob er sich entscheidet, ein wenig nach unten oder nach oben zu schweben? Er hat schon alles und ist schon alles, in einer willenslosen oder willentlichen, jedenfalls grenzenlosen Freiheit.

2 Kommentare:

  1. Ist dir bewusst was Erleuchtung ist lieber Wilfried?

    In Liebe

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    1. Liebe Elisabeth, ich bin schon oft Menschen begegnet, die von sich gesagt haben, dass sie erleuchtet sind. Deshalb ist mir bewusst, dass es möglich ist, sich ganz der inneren Freiheit zu überantworten.
      Ich selber suche und brauche keine Bezeichnung, weiß aber um die Geschenke der inneren Freiheit.
      Ich würde noch gerne wissen, was hinter deiner Frage steckt!

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