Wie üblich, wenn die Meinungen und Positionen in einer
politischen Frage aufeinanderprallen und wenn heftig gestritten wird, werden
verschiedene Schichten unseres Bewusstseins aktiv und bringen ihre Sichtweisen
und Ängste ein. So kann es auch an der Frage der Wehrplicht in Österreich
beobachtet werden. Sie überforderte offenbar die politischen
Entscheidungsträger unseres Landes, sodass sie sie dem Volk zur Entscheidung vorlegen
wollen.
Die wichtigen Fragen unserer Gesellschaft haben praktisch
immer einen Bezug zur tribalen Bewusstseinsstufe. Immer wenn Politiker den
Begriff der „Heimat“ strapazieren, appellieren sie an diese tiefe Schicht
unserer Entwicklung. Der Heimatbegriff suggeriert eine Gemeinsamkeit und
Verbundenheit, wie sie die frühen Stammeskulturen geprägt hat. Die Sehnsucht
nach dieser Form der sozialen Sicherheit ist noch immer in uns lebendig, da wir
aber über keine Stämme mehr verfügen, weichen wir auf abstrakte Ersatzbegriffe
aus, die dann gerne sentimental beladen werden. (Wenn z.B. ein Oberösterreicher
seine Landeshymne hört - Hoamatland,
Hoamatland, dann sollten ihm die Augen feucht werden.)
Vielleicht sprechen wir auch deshalb vom Vaterland (und
nicht vom Mutterland – die Erde, also das Land, ist ja dem Weiblichen
zugeordnet), weil das Land, auf dem der Stamm herumwanderte, mit Hilfe des
Wissens der alten Männer erschlossen und nutzbar gemacht wurde. Ohne dieses
tradierte Wissen gab es kein Überleben des Stammes. In einer Stammeskultur
konnte es in extremen Gefahrensituationen vorkommen, dass einzelne
Stammesmitglieder ihr Leben für die Gemeinschaft hingaben, meist junge Männer
oder, in Zeiten von Nahrungsknappheit, auch alte Menschen.
Auf der zweiten Stufe bildet sich der Heldenmythos. Der Held
bricht aus der Enge der „Heimat“ aus und riskiert sein Leben für ein Ziel, das nur
mehr rhethorisch in die Rahmenbedingungen des Stammesdenkens passt, und statt
dessen zunehmend aus Quellen wie dem Streben nach individuellem Ruhm oder
Abenteuerlust gespeist ist. Gewalt zur aggressiven Aneignung des Fremden, also
das Erobern anderer Gebiete, wird dadurch legitimiert, dass sie zur Regel wird,
und dadurch, dass der Held selber sein Leben aufs Spiel setzt. Teil des
Heldenmythos ist die Skrupellosigkeit und die Aggressivität und das Riskieren
des eigenen Lebens.
Das Motiv, dass die Preisgabe des eigenen Lebens für ein
selbstgesetztes Ziel in Kauf genommen werden kann, das nur scheinbar dem Ganzen
dient, pflanzt sich bis in die Ideologien der Selbstmordattentäter unserer Tage
weiter. Gewalt gegen andere wird legitimiert dadurch, dass der Täter bereit
ist, sich selbst Gewalt anzutun.
Auf der dritten Stufe bilden sich dann der Begriff der
abstrakten Pflicht. Die Menschen werden vom Herrscher oder vom Staat in die
Pflicht genommen. Er legt fest, was sie zu tun haben – Pyramiden zu bauen,
Kanäle auszubuddeln, in den Krieg ziehen und dort zu sterben. Verstöße gegen
die Anordnungen werden bestraft, die Einhaltung der Pflichten wird mit allen
Mitteln erzwungen. Die Individuen haben dagegen keine Rechte und kaum
Möglichkeiten, sich der Verpflichtung zu entziehen. Sie haben jedoch den „Vorteil“,
dass sie nicht mehr persönlich für das verantwortlich sind, was sie bei ihrer
Pflichterfüllung anrichten, sie haben ja nur ausgeführt, was ihnen befohlen
wurde, und sei das auch die Ermordung von Babys. Wenn jemand seine Taten (oder
Untaten) damit rechtfertigt, dass er „nur seine Pflicht“ getan habe, dann
bezieht er sich auf diese Bewusstseinsschicht.
Jedenfalls schafft es das hierarchische Denken, die Dienstverpflichtung
der Menschen zunehmend zu abstrahieren, indem sie nicht mehr auf konkrete
Personen bezogen ist (wie im mittelalterlichen Lehenswesen), sondern auf „alle“
oder auf „alle in einem bestimmten Alter“ usw. So kam es zum ersten Aufruf zur
allgemeinen Wehrpflicht in der modernen Zeit während der französischen
Revolution, genannt „levée en masse“, also Erhebung der Massen. Begründet wurde
dieser Aufruf mit der Notwendigkeit, die Errungenschaften der Revolution und
die Integrität der Nation zu verteidigen. Hier mischen sich Elemente aus dem tribalen
Bewusstsein („Verteidigung der Heimat“) mit hierarchisch-totalitären Ansprüchen
(„alle müssen zu den Waffen“) unter dem Schirm von Ideen aus der
personalistischen Stufe („Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit“).
In diesem Cocktail an Motiven geht es mit der Wehrpflicht im
19. und 20. Jahrhundert weiter. Nach dem Ende des Kalten Krieges ab 1989 wenden
sich viele Länder vor allem in der sogenannten freien Welt von der Wehrpflicht
ab, während sie vor allem nur mehr in totalitären Staaten beibehalten wird. Das
entspricht der Verwurzelung des Wehrpflichtgedankens in der
hierarchisch-autoritäten Bewusstseinsstufe, die Wehrpflicht als Disziplinierung
der Menschen und der Demonstration der Macht des Staates über seine Bürger.
Österreich ist hier ein Spezialfall mit manchen
Skurrilitäten. Es hinkt in der Abschaffung der Wehrpflicht den meisten
EU-Staaten hinten nach. Ein Grund liegt in der Vequickung mit dem Zivildienst.
Lange Zeit gesellschaftlich abgewertet und zurückgedrängt, ist er mittlerweile
von der Partei, die ihn immer am meisten bekämpft hat und einschränken wollte,
der ÖVP, zu einem Hauptargument für die Beibehaltung der Wehrpflicht gemacht
worden. Die Organisation der Rettungsdienste sei ohne
Wehrpflicht-Zivildienstpflicht nicht mehr zu gewährleisten. Wie schaffen das
die anderen Länder in Europa und sonstwo, wo es einen funktionierenden
Rettungsdienst gibt?
Interessant und verwunderlich ist auch, dass die genannte
Regierungspartei ÖVP über längere Zeit die Idee eines Berufsheeres propagiert
hat, aber am Widerstand der Regierungspartei SPÖ gescheitert ist. Nun haben
beide Parteien die Fronten gewechselt, um sich mit ausgetauschten Argumenten
gegenüber zu stehen, bereit zum nächsten Scharmützel. Die SPÖ will mit dem
Berufsheer punkten, zu dem niemand mehr gezwungen wird, und die ÖVP mit Rettungs-Zivildienern
und Soldaten als Katastrophenhelfer.
Auch hier passt wieder einiges nicht zusammen: Für Katastrophen
braucht es Katastrophenhelfer, aber keine Soldaten, die braucht man für Kriege.
Ein Katastrophenhelfer muss nicht schießen und Panzerfahren können. Aber auch
andere Länder schaffen es, mit ihren Katastrophen zurecht zu kommen, ohne
verpflichtenden Einsatz von jungen Männern, die quasi als Bereitschaftstruppe ihre
Zeit absitzen sollen, bis die nächste Naturkatastrophe kommt.
Ich denke, wir sollten uns die Elemente des tribalen Bewusstseins
in dieser Debatte bewusst machen und erkennen, dass wir im 21. Jahrhundert
mitten in einem integrierten Europa keine Landesverteidigung brauchen. Unsere
Heimat ist so sicher vor ausländischen Aggressoren wie noch nie in der
Geschichte zuvor. Wir können uns unseres Landes erfreuen wie die Einwohner von
Costa Rica, die schon lange kein Heer unterhalten und dennoch oder deshalb in
Frieden leben.
Wir können die Motive des emanzipatorischen Bewusstseins
aufgreifen und transformieren, indem wir Heldentum überall dort zulassen, wo es
dem Gemeinwohl und der Gesellschaft dient, im Einsatz für Minderheiten oder
sozial Ausgegrenzte, in der Stärkung der Zivilgesellschaft und alternativen
ökonomischen und ökologischen Modellen.
Wir sollten den Brocken des Zwangsdienstes für junge Männer aus
dem hierarchischen Bewusstsein verabschieden. Er passt nicht in eine
demokratische Gesellschaft, er passt nicht in eine Gesellschaft der
Geschlechtergleichheit, er passt nicht in eine ökonomisch und organisatorisch fortgeschrittene
Gesellschaft, die alle Dienstleistungen öffentlich oder privat so gestalten
kann, dass sie finanzierbar sind und funktionieren.
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