Die Rechtspropaganda will uns glaubhaft machen, dass die LBTQ+-Phänomene Folge und Ausdruck von Dekadenz und Verweichlichung wären. Sie nutzt ein Verunsicherungsgefühl, das viele Menschen beschlichen hat, die den Eindruck haben, dass die Fundamente der westlichen Gesellschaftsordnung brüchig werden, wenn die Geschlechtsidentität uneindeutig wird.
Tatsächlich war die Frage des Geschlechts nie so eindeutig, wie es früher den Anschein hatte. Die Phänomene der von der Norm abweichenden sexuellen Orientierungen und geschlechtlichen Identitäten hat es immer schon gegeben, ihre Ursachen sind in der Biologie zu finden. Im Lauf der gesellschaftlichen Öffnung und der wachsenden Toleranz haben aber immer mehr Menschen begonnen, sich zu ihrer abweichenden Geschlechtsidentität zu bekennen. Manche konservativ gestimmte Menschen meinen deshalb, das Wechseln des Geschlechts wäre ein modernes Phänomen, und sie wünschen sich eine Vergangenheit zurück, in der es diese Unsicherheiten nicht gegeben habe. Allerdings übersehen sie, dass in den früheren Zeiten viel mehr Unterdrückung und Kontrolle bestanden hat, sodass von der Norm abweichende Geschlechtsidentitäten, von schweren Strafen bedroht, im Verborgenen bleiben mussten. Die Homosexualität war lange Zeit unter Strafe gestellt, noch unter den Nazis wurden Homosexuelle ins Konzentrationslager gesteckt, und in Österreich wurde die Gleichgeschlechtlichkeit in der Sexualität erst 2002 völlig straffrei. Inzwischen sind in vielen Ländern Eheschließungen für gleichgeschlechtliche Partner möglich, und selbst rechte Parteien rütteln nicht mehr an diesen Liberalisierungen.
Transidentitäten als ideologisierte Angriffsfläche aus dem rechten Eck
Das Thema in diesen Zusammenhängen, das aber noch immer für Aufregung, Aggression und Gewaltaufrufe sorgt, ist das der Trans-Identitäten. Hier geht es um Menschen, die sich, obwohl „als männliches Wesen geboren“, eher als Frau fühlen, bzw., obwohl als „weibliches Wesen geboren“, als Mann fühlen. Es geht auch um Menschen, die sich zu beiden Kategorien hingezogen fühlen, und um solche, die sich weder als das eine noch als das andere definieren. Es gibt Menschen, die sich im Verhalten und in Äußerlichkeiten an das andere Geschlecht anpassen und solche, die sich durch Hormontherapien und Operationen in das andere Geschlecht verwandeln. Es handelt sich zahlenmäßig um eine noch geringere Minderheit als die Homosexuellen. Geschätzt werden 0,5 Prozent der Bevölkerung weltweit, die sich als transgender verstehen; das wären 40 bis 50 Millionen Menschen. In Österreich dürfte die Zahl der Betroffenen unter 1000 liegen. Gemessen an individuellen Schicksalen sind das enorm viele; gemessen an der Gesamtzahl der Erdbewohner verschwindend wenige. Also ist es ziemlich unverständlich, woher die Bedrohungsgefühle kommen, die auf diese winzige Minderheit projiziert werden. In verschiedenen Kreisen, die vor allem von rechtsgerichteter Propaganda aufgeladen werden, wird das Thema heiß diskutiert.
Die Ideologen in Osteuropa bis Russland haben dieses Thema entdeckt, um ein altes historisches Narrativ auszugraben, das auf der Grundlage von nationalheroischen Ideologien erstellt wurde: Großreiche gehen zugrunde, weil ihre Gesellschaft und damit auch ihre Führungsschicht verweichlicht und dekadent wird. Also wird nach dieser ideologiegeladenen Sicht der Westen untergehen und Großrussland mitsamt seinen Vasallen endlich dominieren.
Diesen Gemeinplatz von moralischer Dekadenz und gesellschaftlichem Niedergang hört man oft in Bezug auf den „Untergang des römischen Reiches“, den Historiker lieber mit einem Transformationsprozess beschreiben, in dem die römische Welt im Zentralraum von Europa schrittweise in eine germanisch-römische Kultur umgewandelt wurde (eher wurden die Germanen romanisiert als umgekehrt). Denn es gilt festzuhalten, dass das römische Reich trotz fragwürdiger Kaiser wie Caligula oder Nero noch einige Jahrhunderte Bestand hatte und lange nach diesen Figuren seine größte Ausdehnung erreichte. Außerdem bestand das oströmische Reich bis ins 13. Jahrhundert. Eher können wir aus der römischen Geschichte lernen, dass bestimmte Moralvorstellungen und sexuelle Praktiken in der Gesellschaft nichts mit der Resilienz von politischen Strukturen zu tun haben.
„Dekadent“ und Normabweichung
Diesen Erkenntnissen zum Trotz haben rechtsgerichtete Kreise den Gegensatz von Dekadenz und Reinheit als Kulturkampfschema ausgegraben. Als dekadent, oder, aktueller ausgedrückt, als woke werden geschlechtliche Identitäten bezeichnet, die nicht in die vom Patriarchalismus vorgegebenen Normen passen. Damit wird klar, dass die Kritik an Trans-Identitäten den Dekadenzbegriff an den Patriarchalismus koppelt. Es handelt sich also bei dieser Richtung der Propaganda um eine Unterstützung der patriarchalen Ideologie. Mit diesem Werkzeug können Aufweichungen der bestehenden Geschlechtsrollen(-zuschreibungen) als dekadent gebrandmarkt werden.
Das Wort dekadent kommt vom Lateinischen „decadere“, wörtlich herabfallen, niedergehen, verfallen oder herunterkommen. Es verweist auf einen kulturellen und/oder moralischen Standard, der höher ist, zum Vergleich mit einem niedrigeren Standard, und diese Abweichung ergibt dann die Bezeichnung dekadent. Im gegenständlichen Fall wird also behauptet, dass die Standards des Patriarchalismus höher zu werten sind als jene, die vom binären patriarchalen Schema abweichen. Eine verstärkte Toleranz für unterschiedliche sexuelle Orientierungen und geschlechtliche Identitäten wird als Niedergang bewertet und nicht als Öffnung und Inklusion von unterschiedlichen Lebensentwürfen.
Dekadenter Patriarchalismus
Wir können aber mit gutem Recht argumentieren, dass gerade der Patriarchalismus für eine längst überkommende Form der Moral steht, weil er die Gleichheit der Geschlechter verleugnet, und dass ein Beharren auf dieser Ideologie dekadent ist, weil es höhere moralische Standards gibt als jene, mit denen die Frauen grundsätzlich gegenüber den Männern abgewertet werden und es keinerlei Toleranz für das LBTQ+-Spektrum gibt. Eine Ideologie, in der die Misogynie einen Stammplatz einnimmt, kann auch gar keinen Spielraum für geschlechtliches Verhalten außerhalb des binären Schemas zulassen.
Diese eingeengte und starre Sichtweise verfügt über keinerlei Merkmale, die sie für eine übergeordnete Position in einer Hierarchie von moralischen Urteilen und kulturellen Modellen qualifizieren würde. Sie bildet nur ein kleines Segment der sozialen Landschaft in modernen Gesellschaften ab, in denen die Produktivität der Menschen für die Erfordernisse des Kapitalismus im Vordergrund steht. Für das übermächtige Wirtschaftssystem sind die Fragen der Geschlechts- und Transidentität völlig belanglos. Selbst die patriarchalen Strukturen stellen Hindernisse für die Produktivität dar, und aus diesem Grund ist die Ideologie seit mindestens einem halben Jahrhundert beständig auf dem Rückzug.
Einzig die Rechtsparteien und die Autokraten (fast immer Männer) halten ihm noch die Stange. Immer wieder gelingt es ihnen, über Themen, die mit der Geschlechtlichkeit zu tun haben, Unsicherheiten zu verbreiten und damit an politischem Einfluss zu gewinnen. Widersprüche zwischen dem Modernisierungsdruck der Wirtschaft und einer patriarchalen Moralorientierung interessieren sie nicht, solange ihnen die Wähler zulaufen. Ebenso wenig nehmen sie zur Kenntnis, dass es primär die Biologie ist, die für Uneindeutigkeit in der Geschlechtlichkeit sorgt, und dass die betroffenen Personen selbst am meisten unter der Abweichung von der Norm leiden und viel dazu tun müssen, um damit zurechtzukommen. Es sind also Schicksale, die viel mit gesellschaftlicher Stigmatisierung und Selbstzweifeln zu tun haben und Mitgefühl und Unterstützung verdienen, statt dass die soziale Ausgrenzung mit boshaften und hasserfüllten Abwertungen verstärkt wird.
Zum Weiterlesen:
Geschlechtsidentität - genetisch - biologisch - sozial
Woke - ein Beispiel für kulturelle Aneignung
Identitätsideologie als Gefahr für die Demokratie
Muster der rechtsorientierten Propaganda
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