Das mit dem Geschlecht ist einfach nicht so einfach wie es sich das einfache Gemüt vieler Einfacher, die nur „normal“ denken wollen, vorstellt. Es gibt doch nur Männer und Frauen, das weiß man seit Menschengedenken. Dann kommt noch ein bisschen Bildung dazu: Das Y-Chromosom macht die Männer zu Männern, während das X-Chromosom die weiblichen Anlagen erhält. XX heißt also weiblich, XY männlich.
Das ist das „chromosomale Geschlecht“. Allerdings, und da wird die Bildungslage schon spärlicher, gibt es noch ein biologisches Geschlecht. Denn, genauer betrachtet, ist ein einziges Gen auf dem Y-Chromosom für das Geschlecht relevant. Das ist das SRY-Gen, das männlich assoziierte Gene aktiviert. Es ist also der primäre genetische Schalter für die männliche Geschlechtsentwicklung. Soweit so klar.
Allerdings liebt die Biologie die Abweichungen mehr als die Regelmäßigkeit und hält sich nicht an unsere Bedürfnisse nach Einfachheit: Manchmal nämlich springt dieses SRY-Gen vom Y-Chromosom auf ein X-Chromosom. Diese Übertragung geschieht meistens während der Meiose, also während der Spermienbildung im Hoden des Vaters. Das Spermium bringt also diese Kombination zur Eizelle mit, was dann zu folgenden Konstellationen führt: Plötzlich gibt es da ein X mit einem SRY und ein Y ohne SRY. Was bedeutet das? Ein Y ohne SRY bedeutet, dass jemand körperlich weiblich, chromosomal männlich (XY) und genetisch weiblich (ohne SRY) ist. Ein X mit einem SRY bedeutet, dass jemand körperlich männlich, chromosomal weiblich (XX) und genetisch männlich (SRY) ist.
Wie schaut es dann mit den Hormonen aus? Schließlich sind es ja diese Botenstoffe, die die männlichen bzw. weiblichen Körperformen bis hin zu den geschlechtstypischen Gefühlslagen herstellen. Jemand ist dann ein hormoneller Mann, wenn er das „normale“ Maß an männlich assoziierten Hormonen produziert. Gleiches gilt für die Frauen. Allerdings verfügen nicht wenige Frauen über einen höheren Gehalt an „männlichen“ Hormonen als nicht wenige Männer, und wieder gilt das Gleiche für Männer mit mehr weiblich interpretierten Hormonen als viele Frauen. Es kann dann sein, dass ein Körper im Lauf der weiteren Entwicklung nicht genügend Hormone für das genetische Geschlecht entwickelt. Dann ist jemand genetisch männlich oder weiblich, chromosomal männlich oder weiblich, hormonell nicht binär und körperlich nicht binär.
Wenn es da schon keine Einfachheit gibt, hilft vielleicht noch der Blick auf die Zellen. Die Zellen verfügen über Rezeptoren, die die Signale der Sexualhormone zwar wahrnehmen, aber nicht immer darauf reagieren. Also nicht einmal dort finden wir zu klaren Zuordnungen, vielmehr wird es noch komplexer: Jemand kann genetisch männlich oder weiblich, chromosomal männlich oder weiblich, hormonell männlich / weiblich / nicht binär sein, mit Zellen, die die männlichen / weiblichen / nicht-binären Signale hören können oder nicht, und all dies führt zu einem Körper, der männlich / nicht binär / weiblich sein kann.
Je näher man hinschaut, desto komplexer wird die Situation und desto mehr Varianten gibt es. Dabei sind hier die sozialen Geschlechtszuschreibungen und Rollenbilder noch gar nicht erwähnt. In der Geschlechtsidentität eines jeden Menschen ist die ganze lange Geschichte des Patriarchats eingespeichert, mit all ihren Zwängen und oft gewaltsam durchgesetzten Normierungen.
Da es also mit dem biologischen und erst recht mit dem sozialen Geschlecht so kompliziert ist, sollten wir endlich damit aufhören, unsere Mitmenschen aufgrund ihres Geschlechts und ihrer Geschlechtsidentität zu beurteilen oder gar zu diskriminieren. Wir sollten auch aufhören, diese Fragen zu politischen Kampf- und Streitthemen zu machen und mit ihnen Unsicherheit, Misstrauen und Gewaltbereitschaft zu verbreiten. Wir wissen ja nicht einmal über unsere eigenen Chromosomen oder über die Empfangsbereitschaft unserer Zellen genau Bescheid, geschweige denn wissen wir diesbezüglich etwas über die Menschen um uns herum.
Also sollten wir uns nicht anmaßen, andere abwerten, die nicht einer „Norm“ entsprechen, einer Norm, die wir für selbstverständlich halten, ohne sie überprüft zu haben. Auch wenn die Biologie kompliziert ist, können wir ein freundliches menschliches Verhalten mit Verständnis und Respekt wählen, das sollte ja nicht so kompliziert sein.
Zum Weiterlesen:
Das Reizthema LBTQ und der Patriarchalismus
Gendern und die Wunden des Patriarchalismus
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen