Sonntag, 3. März 2024

Das kohärente Atmen und die Wissenschaft

In einer wissenschaftlichen Studie, die mit 400 Teilnehmern in England durchgeführt wurde, ging es um einen Vergleich zwischen langsamem und schnellem Atmen. Die Versuchsteilnehmer wurden in zwei Gruppen aufgeteilt. Beide sollten über vier Wochen jeden Tag 10 Minuten Atemübungen machen, die eine Gruppe mit 5,5 Atemzügen/Minute (eine Atemfrequenz, die beim kohärenten Atmen angewendet wird), die andere mit 12 Atemzügen/Minute (diese Atemfrequenz stellt die Untergrenze der Atemgeschwindigkeit bei der Durchschnittsbevölkerung dar). Die Ergebnisse zeigten, dass sich das subjektive Stressempfinden und Depressionen bei beiden Gruppen verringerten, während die Werte für das Wohlbefinden anstiegen. Allerdings gab es keine signifikanten Unterschiede zwischen den Langsam- und den Schnellatmern.

Nachdem die langsame Atemmethode in der Studie als kohärentes Atmen benannt wurde, würde die Studie beweisen, dass das kohärente Atmen, bei dem man ja zwischen 3 und 6 Atemzüge/Minute machen soll, genauso wirksam ist wie ein mehr als doppelt so schnelles Atmen. Es gibt inzwischen eine Reihe von anderen Studien sowie Literaturzusammenfassungen, die belegen, dass das langsame Atmen das Wohlbefinden verbessert und die Stresserregung reduziert. 

Was ist also von der englischen Studie zu halten? Ich behaupte, dass im Titel und Text der Studie zu Unrecht vom kohärenten Atmen die Rede ist. Kohärentes Atmen heißt ja nicht nur, langsam und regelmäßig zu atmen, sondern auch die Ausatmung zu entspannen und die Atemtiefe so zu regulieren, dass die Atmung vor allem über das Zwerchfell gesteuert wird. Aus der Praxis wissen wir, dass einigen Anfängern in der Methode diese Elemente des kohärenten Atmens leicht fallen, während viele anfangs mit Schwierigkeiten zu kämpfen haben: Es gelingt die entspannte Ausatmung nicht, das Einatmen dauert zu lang, die Bauchatmung ist ungewohnt, die Atemfrequenz ist zu langsam, sodass durch die notwendige Dehnung der Atmung ein Stress entsteht usw. Für all diese Anfangsprobleme gibt es auch Abhilfen, die von einem kompetenten Instrukteur vermittelt werden. Nach einigen Übungsdurchgängen werden diese Schwierigkeiten durch die Interventionen und Übungsvorschläge in fast allen Fällen überwunden.

In der Studie bekamen die Teilnehmer anfangs eine Information zur Methode, es gab aber keine Möglichkeit für Rückfragen bei Schwierigkeiten. Deshalb können wir davon ausgehen, dass einige der Übungsteilnehmer Probleme mit der Entspannung der Atmung hatten und deshalb auch keine tieferen Erholungswerte erleben konnten. So einfach die Methode des kohärenten Atmens erscheint, weil bei ihr nur drei oder vier Grundelemente beachtet werden müssen, so viele Tücken zeigen sich in der Praxis. Jeder bringt seine eigenen Atemgewohnheiten mit, die sich über Jahre und Jahrzehnte eingeprägt haben. Es braucht deshalb auch Zeit, Motivation und konsequentes Üben, um sie in eine günstige Richtung zu verändern. In der Diskussion der Studienergebnisse in der Publikation wird auch auf diesen Umstand eingegangen und es werden Studien zitiert, bei denen das kohärente Atmen unter individueller Anleitung praktiziert wurde, mit deutlich positiven Wirkungen. Während in der Studie die zu wenig „robuste“ Konstruktion dieser Experimente kritisiert wurde, liefern auch die anderen Studien wichtige Erkenntnisse.

Einen weiteren Kritikpunkt an der Studie beziehe ich (ebenso wie die Studienautoren) auf den Umstand, dass die durchschnittliche Übungspraxis 20 Sitzungen betragen hat, d.h. dass nicht von einer konsequenten Übungsdisziplin gesprochen werden kann, was vor allem anfangs entscheidend ist, um die fest verankerten Atemgewohnheiten nachhaltig zu verändern. Außerdem weiß niemand, ob die Methode überhaupt richtig geübt wurde oder nur irgendwie. 

Die Teilnehmer waren auch nicht darüber informiert, warum sie ausgerechnet 5,5 Atemzüge/Minute nehmen sollten. Gerade beim kohärenten Atmen ist es für viele Anfänger wichtig, dass sie verstehen, warum gerade so und nicht anders geatmet werden soll, damit sie sich für das Üben des kohärenten Atmens motivieren können. Bei manchen Menschen läuft die Motivation über die Erfahrung: Sie mögen eine Übung, weil sie die positiven Wirkungen spüren. Für andere läuft sie über das mentale Verständnis: Sie erkennen, dass die Übung wertvoll sein könnte und praktizieren sie dann.  Es gibt immer wieder Anfänger, die sich weigern, eine strikte Vorgabe, wie sie beim kohärenten Atmen erforderlich ist, einzuhalten. Erst wenn sie verstehen, was der Sinn dahinter ist, sind sie bereit, sich darauf einzulassen. Solche Widerstände, die wir aus der Vermittlungspraxis kennen, wurden in der Studie nicht berücksichtigt. Auch die Studienautoren vermuten, dass eine entsprechende „Psychoedukation“ zu besseren Resultaten beim kohärenten Atmen geführt hätten. 

Die Studienautoren weisen auch darauf hin, dass es eine Untersuchung gibt, die belegt, dass eine Atemfrequenz von 8 Atemzügen/Minute bessere Resultate für die vagale Aktivierung, also für die Anregung des Parasympathikus bringt als 12 Atemzügen/Minute und diese wiederum besser abschneiden als 16 Atemzügen/Minute. Sie belegt also, dass die entspannende und blutdrucksenkende Wirkung umso größer wird, je langsamer geatmet wird. In der hier besprochenen Studie können die positiven Ergebnisse für die „Placebo“-Gruppe, die eben mit 12 Atemzügen/Minute atmeten, darauf zurückgeführt werden, dass viele schon eine Reduktion ihrer sonst noch höheren gewohnten Atemgeschwindigkeit als entspannend und stimmungsaufhellend erleben konnten. Beide Untersuchungsgruppen profitierten offensichtlich von der Atemachtsamkeit, der Regelmäßigkeit und der Vertiefung beim Atmen. Beide Gruppen waren auch instruiert, durch die Nase zu atmen, was vielfältige gesundheitliche Auswirkungen hat, u.a. wird die Sauerstoffaufnahme verbessert sowie das Angst- und Stressmanagement im Gehirn reguliert. 

Der nächste Kritikpunkt bezieht sich auf das Fehlen von physiologischen Auswertungen der Atemübungen. Die Studienergebnisse stammen aus Fragebögen, die die Teilnehmer ausfüllten. Es handelt sich also um subjektive Stimmungsberichte, und es gibt keine Daten über die Herzrate, die Herzratenvariabilität oder Messungen zur Schlafqualität.

Zusammengefasst: Die besprochene Studie wirft mehr Fragezeichen auf als sie Antworten gibt – und das sind Anregungen für mehr und genauere Forschungen. Wer in diesem Feld arbeitet, kann aus dieser Studie den vielfältigen Nutzen der Arbeit mit dem bewussten Atmen ableiten. 


Die Studie wurde auch in einem kurzen Artikel der Tageszeitung „Kurier“ vorgestellt, unter dem Titel: „Atemtechniken gegen Stress und Angst: Kaum wirksamer als ein Placebo.“ Die Überschrift ist irreführend, weil sie suggeriert, dass Atemübungen nichts bringen; das Placebo in der Studie war aber auch eine Atemtechnik. Außerdem wird zunächst ausgeführt, dass das kohärente Atmen nicht mehr bringt als ein schnelleres Atmen, am Schluss heißt es aber: „Die Forschenden sehen in den Ergebnissen keinen Beweis dafür, dass kohärentes Atmen nicht hilfreich ist.“ Nachdem viele Leute nur die Überschrift lesen, ist es schade, wenn hängen bleibt, dass Atemtechniken nichts gegen Stress und Angst bewirken. Das Gegenteil stimmt, bestätigt von zahlreichen Studien mit eindeutigen Resultaten.

Zum Weiterlesen:
Der Vagus-Nerv und die Selbstheilungskraft
Kohärentes Atmen


1 Kommentar:

  1. zu genau 100 % bin ich überzeugt, daß kohärentes Atmen positives bringt !

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