Freitag, 15. März 2024

Das Kämpfen in Beziehungen

Im vorigen Blogartikel bin ich der Frage nachgegangen, welche Rolle der Satz, dass das Kämpfen den Kampf nährt, bei kollektiven Themen spielt. Hier möchte ich näher beleuchten, was er in Hinblick auf die zwischenmenschlichen Belange bedeuten könnte. 

Wenn wir in Beziehungen streiten, kämpfen in der Regel zwei Kinder miteinander, die beide ein Grundbedürfnis nicht erfüllt bekommen haben und nun hoffen, vom Beziehungspartner zu kriegen, was damals gefehlt hat. Der innere Mangel ist noch immer spürbar und soll jetzt endlich aufgefüllt werden. Die Gefühle von Verzweiflung und Wut, die oft in solchen Streitigkeiten zum Ausdruck kommen, stehen meist in keiner Relation zu dem Thema, um das es geht. Aber Erwachsene kämpfen oft mit der Energie von Kleinkindern, denen es scheinbar ums Überleben geht, um die eigenen Bedürfnisse durchzubringen. Obwohl wir immer wieder die Erfahrung gemacht haben, dass wir umso weniger das kriegen, was wir wollen, je mehr wir darum kämpfen, lassen wir uns immer wieder auf Streitigkeiten ein, oder, anders gesagt, finden wir uns in einen Streit verwickelt, ohne zu wissen, wie wir hineingeraten sind. Es handelt sich also um Stellvertreterkriege, die wir da miteinander ausfechten.

Solche Streitereien ziehen sich oft in die Länge, weil „ein Wort das andere gibt.“ Der Stress steigt und die sozialen Kompetenzen schwinden. Die Kommunikation vereinfacht sich und wird aggressiv aufgeladen. Je mehr Streitenergie die eine Seite einbringt, desto mehr muss die andere mobilisieren. Die Eskalation folgt einer festgelegten Mechanik und ist oft bei Paaren gut eingespielt. Eine Unstimmigkeit, ein Missverständnis, schon meldet sich die Kampfbereitschaft. Kleine Ursachen gebären große Wirkungen. Die Distanz wächst und die Verzweiflung ebenso. Jede Investition in den Streit verstärkt den Streit. Je mehr emotionale Energie, desto heftiger und desto regressiver, desto mehr Persönlichkeitsanteile rutschen in die Kindheit zurück. Hilflosigkeit breitet sich aus, die oft zu gegenläufigen Notprogrammen führt: Ein Partner geht auf den anderen zu, um ihn zu erreichen oder von ihm wahrgenommen zu werden (lat. aggredere: auf jemanden zugehen), der andere zieht sich zurück, um sich vor dem Angriff zu schützen. Die vorgegebene Dynamik funktioniert bei vielen Paaren wie ein eingeübter Tanz: Je mehr der eine zugeht (räumlich und/oder in der Lautstärke), desto mehr zieht sich der andere zurück und umgekehrt. Beide können nicht anders, weil ihre Kreativität durch den Stress und die Verzweiflung stillgelegt wurde. Sie sind im Kindheitsmuster gefangen und haben daher nur mehr kindliche Ressourcen zur Verfügung. 

Dem Aufblähen der Streitenergie kann nur Einhalt geboten werden, wenn sich das Nervensystem beruhigt. Im angespannten Zustand sind wir einfach nicht in der Lage, konstruktiv miteinander zu kommunizieren. Wir verfügen nicht über die sozialen Fähigkeiten, die uns im Normalfall zu Diensten sind. Das Bemühen, einen gemeinsamen Ausweg aus der angespannten Situation zu finden, gelingt nur, wenn der Organismus genügend Zeit bekommt, um aus der Übererregung herauszufinden. Es wird sinnvoll sein, auf Abstand zu gehen, z.B. eine räumliche Distanz aufzunehmen, sodass jeder wieder zu sich selber finden kann. Dazu braucht der Partner, der meint, durch die Herstellung von mehr Nähe zu einer Konfliktlösung zu kommen, die Zusicherung vom anderen, nach einer bestimmten Zeit wieder zurückzukommen.

Der Kampf nährt den Kampf, solange wir uns im Notzustand befinden. Wir glauben, nur durch das Kämpfen zu dem zu kommen, von dem wir meinen, dass wir es unbedingt brauchen. Es ist ein Glaube wider jede Erfahrung, denn wir haben genügend Erfahrungen gesammelt, dass durch das Streiten der Streit heftiger wird und dass wir miteinander erst dann weiterkommen, wenn er abgebbt ist. Da die Wurzeln der Streitenergie in der Verzweiflung des Kindes liegen, muss die Zeit abgewartet werden, bis sich das innere Kind beruhigt hat. Dann erst ist es möglich, für die Aktivierung der Ebene des zwischenmenschlichen Verstehens die Erwachsenenpersönlichkeit als die bestimmende Instanz wiederherzustellen. Oder, im Modell der Polyvagaltheorie: Wir müssen in einen Smart-Vagus-Zustand gelangen, um uns konstruktiv und empathisch verständigen zu können. Solange das sympathische Nervensystem die Dominanz im Inneren ausübt, ist es illusorisch, auf ein tieferes Verstehen und Verstandenwerden zu hoffen.

Wir können außerdem aus der Polyvagaltheorie verstehen, dass wir zunächst nichts machen können, wenn in der Kommunikation Stress ausgelöst wird. Unser Unbewusstes registriert die Gefahr und setzt die Stressachse zwischen Hypophyse, Hypothalamus und Nebennierenrinden in Gang. Wenn uns bewusst wird, dass wir uns ärgern oder verletzt sind, sind wir schon längst im Stresszustand und reagieren aus ihm heraus. Dieser Vorgang wird als Neurozeption bezeichnet, also die Eigenschaft des vegetativen Nervensystems, Gefahrenreize ohne Zutun des Bewusstseins zu prüfen und sogleich die Alarmreaktion auszulösen. 

Die Theorie gibt uns aber auch Hinweise, wie wir wieder aus der Anspannung herausfinden. Je besser unsere „vagale Bremse“, also unsere Fähigkeit, mit dem Parasympathikus unseren Sympathikus zu drosseln, trainiert ist, desto schneller kommen wir vom Erregungszustand in den sozialen Kompetenzzustand zurück. Das ist der Grund, warum jede Form der Stärkung des Vagus-Nerves (z.B. durch das kohärente Atmen) unsere kommunikativen Fähigkeiten verbessert und uns ermöglicht, aus den Verstrickungen in Konflikten rascher wieder herauszufinden. Wir können uns leichter wieder mit uns selbst verbinden und zu unseren Erwachsenenfähigkeiten zurückfinden.

Zum Weiterlesen:
Das Kämpfen nährt den Kampf
Der Vagusnerv und die Selbstheilungskraft
Kohärentes Atmen


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