Samstag, 23. Dezember 2023

Die pubertären Wurzeln der Ideologien

Die Zwischenzeit der Adoleszenz besteht darin, eine Antithese zur Kindheit zu bilden. Adoleszente wollen keine Kinder mehr sein und lehnen deshalb alles Kindliche ab. Sie orientieren sich an Werten, die sie absolut setzen. Sie fordern die Erwachsenen und ihre Ansichten heraus. Sie treten mit neuen Ideen und neuen Programmen auf, die die Gesellschaft verändern und vorantreiben sollen. Sie kritisieren die Widersprüche der von den Erwachsenen eingerichteten Welt und fordern die Widerspruchsfreiheit ein. Sie vertreten ihre Ideale bedingungslos, und sie können das auch, weil sie noch keine Handlungen setzen können und noch keine Verantwortung tragen müssen. Oft werden sie deshalb von den Erwachsenen als Träumer oder als weltfremde Idealisten belächelt. Die Jugendlichen wiederum sehen in den Erwachsenen in ihren Haltungen festgefahren und stur im Festhalten an alten Strukturen und an ihrer Macht. Sie betrachten das Bestehende als Hemmschuh für ihr Fortkommen und bekämpfen es, um Freiräume für eine Neugestaltung zu gewinnen. Die Adoleszenten treten mit vielen Forderungen auf, die sie leicht stellen können, weil sie nicht die Verantwortung für deren Verwirklichung tragen können.

Offenbar dient es dem gesellschaftlichen Fortschritt, dass jede junge Generation mit einem Elan zur Erneuerung und zur Überwindung von alten Verkrustungen antritt. Sie zeigt die Widersprüche zwischen Moral und Praxis, zwischen Idealen und Realität auf und fordert oft radikal eine Kehrwende ein, zurück zu mehr Gerechtigkeit und Offenheit. Denn die Jugend braucht eine offene Welt, in der es viele Chancen gibt, nicht nur für wenige Privilegierte, sondern für alle. Sie wissen noch zu wenig über sich selbst und sind unsicher, ob sie ihren Platz in der Welt finden können. Deshalb neigen sie zu radikaleren Vorstellungen über die notwendigen Veränderungen als viele Erwachsene, die sich eine pragmatischere Sicht auf die Wirklichkeit erworben haben. 

Widersprüchliche Realität

Die Realität ist geprägt von Gegensätzen und Widersprüchen, und das Erwachsenenleben gelingt in dem Maß, in dem diese Widersprüchlichkeit sein darf, ausgehalten wird und den Rahmen für das Handeln bildet. Viele Vorkommnisse sind weder gut noch böse, oder beides, keinesfalls aber eindeutig zuordenbar. Wir täten uns leichter mit der Wirklichkeit, wenn es immer die Täter (die Bösen) auf der einen und die Opfer (die Guten) auf der anderen Seite gäbe. Aber Vereinfachungen haben immer ihren Preis, während die Fähigkeit, Mehrdeutigkeiten bestehen lassen zu können, die Handlungsfähigkeit erweitert. Wir können besser auf die Wirklichkeit und ihre Erfordernisse eingehen, wenn wir sie in ihrer Ambiguität tolerieren. Je mehr Sichtweisen wir entwickeln, desto mehr Optionen haben wir. 

Ideologien sind pubertäre Erlösungsfantasien 

Jede Ideologie stellt einen Versuch dar, Widersprüche auf Kosten der Realität zu harmonisieren. Das scheinbar eindeutige Benennen von einfachen Ursachen für Missstände begeistert viele Anhänger und Parteigänger. Vereinfachungen vermitteln Illusionen der Handlungsfähigkeit, weil sie vorgaukeln, dass mit der Beseitigung des so-genannten Bösen die Probleme gelöst werden und sang- und klanglos verschwinden. Die gesellschaftlichen Probleme sind allerdings immer komplex und können nicht durch ein einfaches Dreinhauen gelöst werden. Meist verstärken einfache Lösungsansätze die Probleme zusätzlich. Ein Beispiel bilden die ökonomischen Maßnahmen, die von vielen rechtspopulistischen Regierungen durchgeführt werden. Sie geben aus dem gesellschaftlichen Füllhorn gern Geschenke für ihre Klientel, die den Staatshaushalt belasten; und den kleinen Leuten wird dann auf andere Weise wieder das Geld aus der Tasche gezogen. Oft reduzieren diese Politiker die Steuern für die Reichen, was den Schlechterverdienern mehr Lasten aufbürdet, aber Geld von den Reicheren in die Parteikassen der Rechtsparteien spült, die damit ihre Propagandamaschinen betreiben können. 

Wir können erkennen, dass die Neigung zu Ideologien pubertäre Wurzeln hat. Jugendliche neigen zu radikalen Sichtweisen und einfachen Lösungswegen, wie sie von Ideologien angeboten werden. Z.B. wird gefordert, riesige Zäune zu bauen, um das Flüchtlingsproblem für das eigene Land zu lösen. Das Problem wird damit in andere Länder exportiert und im eigenen Land kann man sich selbstzufrieden abputzen. Das Problem wurde also nur von den eigenen Leuten und Anhängern weggeschoben, aber nicht gelöst. Echte Lösungsschritte müssen in den Herkunftsländern ansetzen, damit die Bedingungen dort so verbessert werden, dass niemand mehr flüchten will. Aber das sind langwierige und komplexe Bemühungen, die zwar nachhaltig wirken, aber in den Zielländern der Fluchtbewegungen nicht populär sind, weil sie keine unmittelbare Entlastung von den Ängsten bewirken, die durch die Migrationen ausgelöst werden. 

Ideologen und Ideologieanhänger sind in ihrer Weltsicht nicht erwachsen geworden. Sie befinden sich in einer Fundamentalopposition zur Realität, die die objektive Entsprechung der Erwachsenenwelt darstellt. Sie wollen eine Gegenwelt, nicht die Weiterentwicklung der bestehenden. Sie erhoffen sich schnelle Lösungen und übersehen die Vielschichtigkeit der Wirklichkeit, indem sie die Komplexitäten auf Einfachheit reduzieren und damit alle Details und Zusammenhänge, die dem eigenen Weltbild widersprechen, ausblenden. Deshalb bringen sie im besten Fall Scheinlösungen oder nur kurzfristig wirksame Verbesserungen zustande. Der Verantwortungshorizont reicht nicht aus, um nachhaltige oder langfristig haltbare Maßnahmen zu verwirklichen.

Verantwortungsbewusstes politisches Handeln trägt der Komplexität Rechnung und versucht, verschiedene Interessenslagen zu bedienen. Im 21. Jahrhundert bedeutet das immer auch, dass die Perspektive des gesellschaftlichen Handelns immer auch die Bedürfnisse der Natur und der künftigen Generation mit einschließt – Bereichen, denen sonst nachhaltiger Schaden zugefügt wird. Viele rechtsextreme Politiker vermeiden diese wichtige Sicht, indem sie den Klimawandel leugnen und damit Raubbau an den Ressourcen des Planeten fördern, die auch die Lebensmöglichkeiten künftiger Generationen einschränken. 

Reifes Erwachsensein

Das reife Erwachsensein besteht nicht in der Negation der Adoleszenz, sondern in einer Integration von Kindheit, Jugend und Erwachsenem. Im Sinn von Georg Wilhelm Friedrich Hegel geht es beim Fortschritt immer um eine Synthese aus These und Antithese, aber nicht um eine reine Negation der Negation. Die Pubertierenden neigen zwar zur Negation von Kindheit und Erwachsenenwelt, aber die Weiterentwicklung führt zur Synthese, zur Verbindung der Kräfte und Energien.

Erwachsene dürfen immer wieder mal kindlich und pubertär sein. Es sind Aspekte der Lebendigkeit, die unterschiedliche kreative Impulse enthalten, die in jedem Erwachsenenleben mitwirken sollten. Das Erwachsensein, das sich nur als Abkehr und Überwindung von Kindheit und Jugendzeit versteht, neigt zur emotionalen Trockenheit und schöpferischen Farblosigkeit. Die Hauptausrichtung der Erwachsenen ist der produktive Umgang mit der Realität und ihren Herausforderungen mit den Mitteln der Rationalität und Pragmatik. „Reine“ Erwachsene sind nur Verwalter der Realität und keine Gestalter. Die Impulse zur Gestaltung kommen aus der Kreativität des Kindes und des Jugendlichen. Sie erfordern die Fähigkeit, die Welt immer wieder ganz anders sehen zu können, als sie ist.  

Die frühkindlichen Wurzeln der Ideologien
Verschwörungstheorien und Normalitätsscham

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