Sonntag, 7. Januar 2024

Die Frage nach dem Jenseits und die Scham

Viele Religionen beschäftigen sich mit der Frage über das Weiterleben nach dem Tod und bieten dazu ihre Glaubenswahrheiten an. Die gängigsten Antworten sind die Wiedergeburtslehre und die Lehre von Himmel und Hölle. Nach Religionszugehörigkeit betrachtet, könnte man sagen, dass ungefähr eine Hälfte der Menschheit mehr der einen und die andere mehr der anderen Richtung des Jenseitsglaubens anhängt.

Im Folgenden möchte ich der Frage nachgehen, welche Rolle die Scham bei der Beantwortung dieser Frage spielt. Wir kennen den Zusammenhang von Frage und Antwort. Fragen kommen aus einem Spannungszustand, der durch die Antwort entspannt werden soll. Wir wissen etwas nicht, und das bereitet uns ein unangenehmes Gefühl. Wir suchen die Antwort, um das lästige Gefühl zu beseitigen. Jede Unwissenheit trägt ein kleines Element der Scham in sich, und das Wissen, das wir erlangen, löst die Scham auf. Wenn wir aber keine Antwort auf unsere Frage bekommen, bleibt die Schamspannung bestehen.

Dieser Zusammenhang zeigt sich bei den kleinen und kleinsten Unwissenheiten im Alltag in Form von kleinen und kleinsten Scham-Lösungszyklen. Bei den großen, letzten Fragen, die unser gesamtes Sein anbetreffen, sind diese Zyklen umso größer. Die Frage nach dem Jenseits unserer Lebenslaufbahn betrifft uns auf einer existenziellen Ebene. Unser Denken ist in der Lage, über unseren Tod hinaus zu fragen: Was ist mit der Seele, wenn der Körper stirbt? Die Vorstellung der radikalen Endlichkeit („Mit dem Tod ist alles aus“) hat etwas Schockierendes an sich. Alles, worauf wir in diesem Leben bauen, und alles, was wir in diesem Leben aufgebaut haben, soll mit einem Schlag beendet und verschwunden sein. Um uns vor dieser Radikalität der Endlichkeit zu schützen, glauben wir lieber an eine der Formen des Weiterlebens, entweder mit einer Chance, die dann eine Ewigkeit anhält, oder mit einer endlichen oder unendlichen Serie von Wiedergeburten. Diese Denkmöglichkeiten geben uns einen Trost und eine Beruhigung angesichts der drohenden Endlichkeit. Zugleich befrieden sie das Schamgefühl, das entsteht, wenn wir mit einer Frage ohne Antwort dastehen, so als wären wir wären keiner Antwort würdig.

Die Antworten auf Fragen geben uns ein Gefühl der Kontrolle. Wir sind nicht mehr einem ungewissen Schicksal ausgeliefert, auch dann nicht, wenn der Tod anklopft, sondern wir können darauf vertrauen, dass es irgendwie weitergeht und wir nicht völlig ausgelöscht werden. Wir verfügen über ein Stück Sicherheit, ein Stück Kontrolle in Hinblick auf den Tod.

Wir können uns dabei zwar nicht auf Wissen berufen, weil es aus der Jenseitswelt kein sicheres Wissen geben kann, aber wir können uns auf unsere Fähigkeit zum Glauben stützen. Durch das Glauben schützen wir uns vor der unheimlichen und existenziell bedrohlichen Vorstellung, im Moment des Todes in ein Nichts zu fallen. Wir müssen die Scham nicht mehr spüren, die uns bei dieser Vorstellung befällt.  

Der Umkehrschluss lautet allerdings, dass all die Scheinsicherheiten, die durch Erklärungsmodelle und Sinnangebote jenseits des Wissbaren vorgeschlagen werden, der Angst- und der Schamabwehr dienen. Sie vermitteln die Illusion von Kontrolle und befriedigen das Bedürfnis nach Sicherheit in einem Bereich, in dem es keine Sicherheit geben kann. Es wäre blamabel und bedrohlich zugleich, zugeben zu müssen, das eigene Leben über den Tod hinaus nicht kontrollieren zu können.

Wissen und Kontrolle

Verlässliches Wissen suchen wir deshalb, weil es uns Sicherheit gibt und uns erlaubt, die Wirklichkeit zu kontrollieren. Wenn wir herausgefunden haben, was Blitze sind, können wir Techniken entwickeln, die unsere Häuser vor Blitzschlägen schützen. Wir sind der Naturgewalt in dieser Hinsicht nicht mehr ausgesetzt, sondern halten sie unter Kontrolle. Wenn wir verstehen, dass Menschen, die in ihrer Kindheit Gewalt ausgesetzt waren, später als Erwachsene mit höherer Wahrscheinlichkeit selber gewalttätig werden, wissen wir, wie wir die Gewalttätigkeit unter Menschen verringern können.

Wo wir über kein Wissen verfügen, das uns Sicherheit geben könnte, strengen wir uns an, dieses Wissen zu erzeugen. Wir forschen nach den Ursachen und Zusammenhängen, bis wir wissen, wie die Dinge funktionieren und wie wir sie lenken und kontrollieren können, sodass sie uns nutzen oder zumindest nicht mehr schaden.

Mit jedem Wissen gewinnen wir also ein Gefühl der Macht über Vorgänge und Menschen und fühlen uns geschützt vor Risiken. Das Gefühl, die Kontrolle zu haben, erfüllt uns mit Stolz. Mit Mitleid betrachten wir frühere Zeiten, in denen z.B. die Risiken, an einer Bakterieninfektion zu sterben, viel höher waren als heute. Denn wir verfügen gegen diese Gefahr über wirksame Mittel, die wir durch Wissen gefunden haben. Wo dieses Wissen noch nicht vorhanden ist, z.B. bei noch immer unheilbaren Krankheiten, spüren wir einen Mangel, der uns Scham bereitet, und eine Bedrohung, die uns Angst macht. Und wir freuen uns und sind stolz, wenn den medizinischen Wissenschaften ein Erfolg in der Krankheitsbekämpfung gelungen ist.

Gerade deshalb sind uns Bereiche, in denen wir kein sicheres Wissen erlangen können, besonders suspekt. Sie bereiten uns ein mulmiges Gefühl. Wir wollen uns auch hier vor Gefahren schützen und schämen uns, wenn es uns nicht gelingt. Um diese Scham zu überwinden, hat die Menschheit Vorstellungen erfunden, die uns auch hier eine Sicherheit geben sollen. Wir sind zwar nie sicher, ob es sich nicht doch um Illusionen handelt. Dennoch wollen viele auf diese Einbildungen nicht verzichten.

Die Alternative wäre es, das Nichtwissen und Nichtwissenkönnen auszuhalten. Die absolute Grenze, die der Tod in jedes Menschenleben einführt, löst Widerstände und Unwillen aus, die aus unserem Ego kommen. Unsere Selbstsucht hält es nicht aus, wenn wir irgendwo über keine Kontrolle verfügen und in der Schwebe der Unsicherheit hängen bleiben. Insbesondere unser eigenes Ende ist mit der größten Angst behaftet, und eine der Hauptfunktionen des Egos besteht darin, uns vor der Vorstellung eines absoluten Endes zu schützen. Es will über den Tod hinaus die Kontrolle behalten.

Denn es ist für unser überzogenes Selbstbewusstsein ein Skandal, das eigene Ende und damit die zukünftige Nichtigkeit dessen, was wir jetzt sind, mitdenken zu müssen. Der Narzissmus, der in jede Ego-Selbstbestätigung enthalten ist, will diese Grenze um jeden Preis relativieren, indem er sich an die Hoffnung auf ein jenseitiges Leben anklammert. Mit einer Form des Jenseitsglaubens kann er und damit die gesamte Ego-Agenda bestehen bleiben, zumindest so lange der Körper die Denkvorgänge aufrechterhält.

Der Stolz der Nichtgläubigen

Aber auch die skeptische Haltung zu den Jenseitsfragen enthält emotionale Fixierungen, wenn sie mit Stolz vertreten wird. Die naiven Jenseitsgläubigen werden belächelt oder verachtet, während die eigene Überlegenheit im Nichtglauben genossen wird. Festgehaltener Stolz stellt eine Form der Schamabwehr dar. Die Scham, keine befriedigende Antwort auf die Frage nach der eigenen Endlichkeit finden zu können, wird in den Stolz umgemünzt, im eigenen Bewusstsein weiter entwickelt zu sein als jene, die am Glauben hängen. Das Ego findet seine Befriedigung in dieser Form der Überheblichkeit.

Das Aushalten der Endlichkeit

Was wäre, wenn wir uns nicht unserem Ego unterordnen und den Narzissmus der Selbstüberschätzung überwinden? Dazu müssen wir uns den Gefühlen der Scham und der Angst stellen, die mit der Akzeptanz einer absoluten Grenze unseres Kontrollstrebens auftauchen. Wenn wir uns diese Gefühle bewusst machen, können wir ihre Macht über uns und über unsere Jenseitsvorstellungen brechen. Es fällt uns dann leichter, uns einzugestehen, dass unsere Kontrolle an der Grenze des Diesseits endet. Das Jenseits entzieht sich unserem Einfluss und unserer Macht, also auch der , die wir durch das Wissen erlangen wollen.

Die Akzeptanz der absoluten Grenze für das Wissen und die Kontrolle führt uns zu einer Haltung der Bescheidenheit und Demut. Wir fügen uns in unsere Begrenztheit und Unvollkommenheit und erkennen darin besondere Qualitäten des Menschseins. Wir beschränken unsere Fähigkeit, die Wirklichkeit durch Wissen zu kontrollieren, auf das diesseitige Leben, auf das Meistern der aktuellen Probleme und Fragestellungen. Wir erkennen und nehmen die besondere Würde, die darin liegt, unsere Kräfte der Bewältigung unseres uns gegebenen Lebens zu widmen, gleich ob es nach dem Tod irgendwie weitergeht oder nicht. Wir gründen das Vertrauen in uns und in die Beziehungen zu den Menschen um uns herum, denen wir liebevoll begegnen.

Wir nutzen die Räume, die uns zur Verfügung stehen, um unser Wissen zu erweitern und zu vertiefen. Als Menschen haben wir aufgrund unserer ins Jenseits und ins Unendliche reichenden Intelligenz eine Sonderstellung in der Natur inne. Wir können dieser Sonderstellung aber nur dann gerecht werden und aus ihr sinnvollen Nutzen ziehen, wenn wir uns selbst überall dort beschränken, wo die Kontrolle durch das Wissen nur illusionär ist. Jede Überdehnung der Grenzen führt uns in eine Versuchung, mehr Macht auszuüben als uns zusteht. Und das tut weder uns gut noch allem anderen, worauf sich diese Macht auswirkt.

Ähnlich wie wir als Menschheit unser Verhältnis zur Natur nur dadurch ausgleichen können, dass wir unsere überschießenden Kontrollimpulse kontrollieren und einschränken, kommen wir dem Sinn unseres Lebens nur näher, wenn wir die absolute Grenze, die uns der Tod nun einmal setzt, in ihrer Absolutheit respektieren und der Versuchung widerstehen, die uns die verschiedenen Glaubensmodelle anbieten.

Auf die Frage nach dem Weiterleben nach dem Tod haben wir die Wahl, an eines der Angebote aus den Religionen zu glauben oder auf jeden Glauben zu verzichten. In jedem Fall ist es sinnvoll und hilft bei der inneren Klärung, wenn wir nachprüfen, welche Ängste und vor allem welche Schamgefühle bei unserer Wahl mitspielen.

 Zum Weiterlesen:
Das Ego und die Idee der Unsterblichkeit
Theologie und Mystik zur Frage des Weiterlebens
Die zwei Wahrheiten und die Religionen
Wissen, Phantasie und Glaube
Dissoziative Weltbilder und die Trennung von Leib und Seele

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