Samstag, 16. Dezember 2023

Die individuelle Mobilität und die Klimakrise

Der Motive zum Reisen gibt es viele, und es zählt zu den grundlegenden Sehnsüchten der Menschen, sich von zuhause wegzubewegen und fremde Orte kennenzulernen. Die Reiselust ist eng mit der Abenteuerlust verbunden. Das Reisen führt zur Konfrontation mit anderen Welten, Kulturen und Lebensformen. Es bietet ein Entkommen aus den gewohnten Umständen. Es führt zum Sammeln von Erfahrungen, die mit anderen geteilt werden können. Interessantes aus der Ferne berichten zu können, macht zu einem beliebten Gesellschaftsmenschen. Dazu kommen die Stressmuster aus dem Arbeitsleben, die es schwer machen, die Erholung zuhause zu finden. Die Anforderungen werden nach der Logik des Kapitalismus immer schärfer angezogen, und umso dringender zeigt sich der Wunsch nach einem Kontrastprogramm, das möglichst weit weg gefunden werden soll. 

Die moderne Zeit hat einen enormen Zugewinn an Mobilität erlaubt. Der Erfahrungs- und Lebenshorizont der Menschen in vormodernen Gesellschaften war auf ca. 30 Kilometer im Umkreis beschränkt (die Wegstrecke, die man in einem Tag zu Fuß hin- und retour bewältigen kann). Wer über ein Reitpferd verfügte, kam schon weiter, aber das war das Privileg einer winzigen Minderheit. Und auch diese Reiseform hatte ihre Grenzen. Die grenzenlose Freiheit des Reisens ist also eine Errungenschaft der neuesten Zeit und hat in der Zeit nach dem 2. Weltkrieg die Massen in den reichsten Ländern erreicht. Im Maß des Wachstums des Wohlstandes in immer mehr Ländern entwickelt sich auch die Reiselust und Reisegier. So leicht und beschwerdefrei wie in unserer Zeit war das Reisen noch nie, die Abenteuer werden immer billiger und uniformer; die Urlaubsdomizilien ähneln sich immer mehr. Mit fortschreitender Vergünstigung des Reisens schwindet der Charakter des Abenteuers kontinuierlich. Die Suche nach der „einzigartigen Erfahrung“ in der Fremde wird deshalb immer aufwändiger.

Reisen und Energie

Die modernen Formen des Reisens beginnen mit den Dampfzügen, betrieben mit Steinkohle aus den Tiefen der Erde. Dann kamen die Autos, und das Erdöl wurde zum flüssigen Gold überall dort, wo es gefördert werden konnte. Später dann wurde mit den Flugreisen die bis dahin ressourcenintensivste Form des individuellen Reisens eingeführt. Heute können sich die Superprivilegierten eine Mondreise leisten, mit der man neue Rekorde im Ressourcenverbrauch und in der klimaschädlichen Gasfreisetzung aufstellen kann. Modernes Reisen ist also ressourcenintensiv und benötigt bislang vor allem fossile Brennstoffe. Reisen zu Pferd oder Segelschiff sind heutzutage nicht mehr als Hobbies von denen, die es sich leisten können. 

Es gab die naiven goldenen Jahren des Schwelgens im grenzenlosen Wachstum, als die Warnungen vor der Begrenztheit der Rohstoffe noch als Spinnereien abgetan werden konnten und der Klimawandel nur einigen Wissenschaftlern aufgefallen war. In diesen Zeiten war das Reisen nur eine Frage des Geldes und nicht auch des Gewissens. Heute wissen wir viel mehr und tun uns immer schwerer damit, dieses Wissen wegzudrücken und so zu tun, als könnten wir weiter unbeschwert tun und lassen, was wir wollen. Wir reden uns gerne ein, dass alles nicht so schlimm ist und dass wir deshalb an unseren Lieblingsgewohnheiten festhalten können. Wir gebärden uns so, als wäre es unser Recht und nicht unser Privileg, in der Art zu reisen, wie wir gerade wollen, solange wir es uns leisten können.

Wir wissen, dass die Ressourcen dieser Erde endlich sind und dass die Verbrennung der fossilen Bodenschätze die Hauptursache für den Klimawandel mit seinen unabsehbaren Folgen ist. Wir wissen, dass wir uns daran beteiligen, wenn wir ressourcenaufwändig reisen. Aber im Zweifelsfall vergessen wir auf unsere moralische Verantwortung und rechtfertigen unsere Reisetätigkeit mit fadenscheinigen Argumenten vor uns selbst und vor anderen. Es gibt keine äußeren Ankläger, die die Verantwortung, die wir der Umwelt und den künftigen Generationen gegenüber haben, einfordern würden. Denn weder die Natur noch zukünftige Erdenbürger gelten als Rechtssubjekte. Unser Rechtsverständnis und unsere Rechtsprechung haben sich noch nicht auf die Gegebenheiten eingestellt, mit denen wir schon seit geraumer Zeit konfrontiert sind. Damit kommen wir ungestraft davon, auch wenn wir anderen Schaden zufügen.

Die moralische Spannung beim Reisen

Es ist deshalb nur ein Anspruch, den wir an uns selber stellen können und müssen, weil wir ja über das Wissen zu den Folgen unseres Handelns verfügen. Jede Reise mit belastender Ökobilanz erzeugt eine moralische Spannung, ob wir das wollen oder nicht, mit der wir umgehen müssen. Die verbreitetste, weil scheinbar einfachste Form, mit der Spannung zurechtzukommen, besteht darin, sie abzuschwächen oder ganz zu leugnen. Aber auch die Bagatellisierung und Verdrängung der Spannung ist belastend erfordert Energie, die oft als Aggression auf jene abgelassen wird, die an die Auswirkungen der Klimakrise erinnern. Es werden diejenigen geprügelt, die einen an das schlechte Gewissen erinnern. Sie sollen zum Schweigen gebracht werden, in der Hoffnung, dass sich dadurch auch das eigene Gewissen beruhigt. Die Überbringer von schlechten Nachrichten hatten nie ein leichtes Los, aber die drastischen Veränderungen des Klimas kümmern sich nicht darum, ob die Menschen Verantwortung übernehmen oder nicht. 

Es gibt trotz der überwältigenden wissenschaftlichen Evidenz leider noch immer viele Leugner des menschengemachten Klimawandels, die zum Teil von Firmen finanziert werden, die an der bisherigen Ressourcenverschwendung profitieren und jede Änderung unterminieren wollen, um ihre Gewinne weiterhin zu sichern. Sie halten sich ein Publikum bei denen, die zwar nichts mit der fossilen Industrie zu tun haben und auch nicht an deren Gewinnen mitnaschen, die aber deren Argumente aufgreifen und verbreiten, um mit ihnen die eigene Gewissensspannung zu beruhigen und über jene richten zu können, die immer wieder an die sich anbahnende Katastrophe erinnern. 

Reisen in der Zukunft

Es ist historisch gesehen ein kleines Zeitfenster, in dem das Reisen zum Massenphänomen wurde und unbeschwert genossen werden konnte. Im Lauf der letzten Jahrzehnte wurde klar, dass wir die Verantwortung für diese Erde gemeinsam schultern und als Folge Einschränkungen im Lebensstil und in den Konsumfreiheiten in Kauf nehmen müssen. Sie betreffen auch das Reisen, das seine Selbstverständlichkeit verliert und als komplexes Problem gesehen werden muss.

Das Reisen wird auch in Zukunft nicht verschwinden, aber es wird seinen reinen Konsumcharakter verlieren müssen und wieder auf die ursprünglichen Bedürfnisse und Motive zurückgreifen, die allesamt auch ohne den Verbrauch von fossilen Brennstoffen erfüllt werden können. Das Erleben des Neuen und das Heraussteigen aus dem Alltag geschieht durch das Wegbewegen von den Gewohnheiten, und dafür, dass es gelingt, ist nicht die Anzahl der Kilometer maßgeblich, die bei Reisen zurückgelegt werden, noch die Geschwindigkeit, mit der die Distanzen überwunden werden.

Zum Weiterlesen:
Die Jagd nach Erfahrung


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