Sonntag, 5. Januar 2020

Spirituelle Redundanz

Es geschieht alles so, wie es geschehen soll und ist genauso geplant, wie es geschieht. Diese Aussage ist manchmal in Zusammenhang mit spirituellen Welterklärungen oder Lebensdeutungen zu hören. 

Was hat das zu bedeuten? Die Dinge geschehen, das ist eine klare Erfahrung, die jeder Mensch tagtäglich macht. Manchmal geschehen Dinge, die uns gefallen und für uns angenehm sind, manchmal ist das Gegenteil der Fall, und viele Dinge geschehen, ohne dass sie uns besonders berühren, betreffen oder aufregen. So verläuft unser Leben.

Nun bringen wir eine weitere Instanz ins Spiel, nämlich eine Planung dessen, was passiert. Nehmen wir ein Beispiel aus dem Alltag: Ich koche einen Haferbrei, das Telefon läutet, ich verlasse die Küche, und als ich wieder zurückkomme, ist der Haferbrei angebrannt. Es ist eine Erfahrung von der unangenehmen Sorte: Statt des geplanten Frühstücks gibt es nur den penetranten Geruch des Angebrannten und einen Topf mit einer unappetitlichen schwärzlichen Masse, der mühsam gereinigt werden muss, während die angenehme Erfahrung des Frühstückens warten muss. Meine Planung wurde durchkreuzt von einem Missgeschick, einer Unachtsamkeit, einer Vergesslichkeit – einer individuellen Unvollkommenheit.

Ich habe verschiedene Möglichkeiten, um diese Erfahrung zu verarbeiten und im Leben weiterzumachen. Ich kann einfach zur Tagesordnung übergehen, tun, was zu tun ist, und dann tun, was als nächstes zu tun ist. Möglicherweise merke ich aber, dass ich mit mir hadere und mir Vorwürfe mache, warum ich mir so unnötige Arbeit gemacht habe und wie ich nur so blöd sein konnte. Um das abzustellen, kann ich mir überlegen, warum mir das Missgeschick passiert ist. Ich kann die Hintergründe meiner Unvollkommenheit erforschen, mit dem Interesse, ein Stück vollkommener zu werden. Ich kann also an meiner Selbsterkenntnis und Selbstwirksamkeit arbeiten, bis ich zu einer befriedigenden Erkenntnis komme und mir davon erhoffe, in Hinkunft derlei Ungeschicklichkeiten zu vermeiden. 

Es kann aber sein, dass ich trotz dieser erfolgreichen Selbstreflexion weiterhin unzufrieden mit mir selber bleibe. Dann kann ich ein transzendentes Erklärungsmodell aufrufen: Das, was mir als Unglück erscheint, ist ja schon längst so geplant gewesen, ich sollte doch erkennen, dass es genauso vorgesehen war. Statt mich selbst zu kritisieren, sollte ich mir klarmachen, dass alles von höherer Seite gesteuert ist und ich mich da nicht einmischen sollte. Das Anbrennen des Haferbreis war von einer Planungsstelle in einer Zeit vor der Zeit ausgedacht und in die Tagesordnung für meine Person für diesen Tag eingetragen worden. Nun ist es, wie festgelegt, tatsächlich eingetreten. Ich brauche mich also gar nicht zu wundern oder darüber aufzuregen, es ist alles im Plan und in der längst schon angelegten Ordnung. Das Ereignis hat eine Funktion in meinem Lebensplan, sollte mich genau zu dieser Erfahrung führen. Sie kann die Erkenntnis verstärken, wie die Welt im Ganzen zusammenhängt und welche Weisheit dahintersteckt, die den Gesamtplan komponiert hat. Vielleicht dient diese Einsicht, dass ich zum Seelenfrieden finde und mich über den angebrannten Haferbrei freuen kann, vielleicht auch nicht.

Jedenfalls scheint dies die Hauptfunktion des Modells der Vorherbestimmtheit und Vorausgeplantheit aller Ereignisse zu sein: Die Menschen im Hadern über ihr Schicksal zu beruhigen und zu trösten. „Es hat alles seinen Sinn“, ob wir ihn verstehen oder auch nicht. „Es geschieht alles, weil es zu geplant ist.“ Wir brauchen uns keine Sorgen machen. sondern können uns immer auf eine Instanz verlassen, die alles besser weiß als wir selber. Es geht also um eine psychologische Funktion, mit deren Hilfe unsere aufgewühlten Emotionen wegen einer schlimmen Erfahrung verarbeitet werden sollen. Alles, was so geschieht, von den kleinen Pannen des Alltags bis zu den Megakatastrophen, ist genauso vorgesehen und damit in Ordnung, unbezweifelbar und unnötig zu betrauern oder zu bejammern. 

Weiters kann das Denkmodell entlastend wirken, weil es eine übermächtige und unendlich intelligente Planungsinstanz annimmt, die alles besser weiß als wir selber. Unschwer erkennen wir an diesem Punkt die Elternprojektion, die Wunschfantasie aller Kinder, dass die Eltern für alles sorgen und schon längst gesorgt haben, was sie irritiert oder belastet.


Ein Zirkelmodell


Gerne denken wir im rückwärtsgewandten Konjunktiv, weil wir nachträglich immer besser wissen, was wir vorher übersehen haben. Doch wie verhält sich dieses Denken zum Vorherbestimmungsmodell? Hätte ich besser aufgepasst und beim Rausgehen aus der Küche die Herdplatte ausgeschaltet, hätte ich wohl gegen den Plan verstoßen. Doch Halt, Irrtum: Hätte ich die Panne vermieden, wäre das der Plan gewesen. Dem Plan entkommt nichts, nicht einmal ein „hätte“; was ich tue oder was ich nicht tue, was ich möglicherweise tue oder denke, ist immer und überall die Erfüllung des Plans, rien ne va plus.

Nun, an diesem Punkt wird wohl deutlich, dass die ganze Plangeschichte ein Zirkelmodell darstellt. Nichts entkommt ihm, alles hat seinen Platz darin. Der größte Blödsinn, den jemand anrichtet, ist die Erfüllung irgendeiner weisen Absicht, deren höhere Sinnhaftigkeit unser beschränkter Verstand nicht fassen kann. Das größte Verbrechen hat so sein müssen, die größte Katastrophe ist Produkt einer Vorhersehung, weil es ja die universelle Planung gibt. An diesem Punkt paart sich spirituelle Kurzsichtigkeit mit Zynismus.

Modelle, die alles umfassen und deren Deutung nichts entkommt, sind Ideologien. Alles, was gegen die Ideologie gesagt wird, beweist sie umso mehr. Die Zeilen, die ich hier schreibe, sind vorgesehen und geplant, und ich kann noch so viel Zweifel am Vorplanungsmodell äußern – es ist auch das vorgeplant. Nur, was ist der zusätzliche Erkenntnisgewinn? Es ist, als ob über die tatsächliche Erfahrung ein Planungshäubchen drübergestülpt wird, um sie spirituell zu verbrämen. Alles geschieht, wie es geschieht; ob geplant oder ungeplant, macht in Hinblick auf das Geschehen nicht einmal den winzigsten Unterschied. Ich könnte genauso gut und mit dem gleichen Recht sagen: „Es gibt keine Planung, jede Planung ist Illusion und Einbildung.“

Der einzige Unterschied ist in der Deutung dessen, was geschieht, also in meiner subjektiven Welt. Und diese Welt ist jene der Psychologie.


Psychologie ist Psychologie und nicht Spiritualität


Spirituelle Modelle, die einen psychologischen Nutzen erfüllen, sind nicht nutzlos, aber Themenverfehlungen. Sie gehören in den Werkzeugkasten der Psychologie und Lebensführung, in die Rubrik: Wie kann ich mit den Wechselfällen des Lebens besser umgehen? Sie sind pseudospirituell, weil sie eine Erklärung anbieten, die nichts erklärt und eine Instanz postulieren, deren Existenz rein spekulativ ist, für die es also keinerlei Evidenz geben kann.

Die Psychologie beschäftigt sich mit den vielfältigen Landschaften der menschlichen Seele, den Tiefen und Untiefen, den Einsichten und Irrtümern usw. Die Spiritualität zielt auf das innere Zentrum des Menschseins, hinter, über oder unter den Wirrnissen der Seele. Sie ist einfach, schlicht und trennt sich von allem Überflüssigen, von allem Zierrat und Verschnörkselungen. Was für ihre Erkenntnisse und Erfahrungswege ablenkend und störend ist, muss weggelassen werden. Vor allem muss sie sich vor Ideologien und ideologieaffinen Modellen hüten, sie versalzen die Suppe und verderben den Brei.

In der spätmittelalterlichen Philosophie wurde der Grundsatz geprägt, dass die Prinzipien nicht über die Notwendigkeit hinaus vermehrt werden dürfen. Auf alles, was wir nicht unbedingt brauchen, sollten wir verzichten, wenn wir den spirituellen Weg beschreiten. Dazu zählt wohl auch das Modell der Vorherbestimmung, das unserer Erfahrung und Erkenntnis nichts Neues hinzufügt, sondern sich auf ein Zirkelmodell und eine Instanz beruft, die geglaubt werden müssen und nicht mehr und nicht weniger als eine psychologische Funktion ausüben.

Zum Weiterlesen:
Spirituelle Kreissätze
Advaita und die Vorherbestimmung
Gerechtigkeitsideen im Advaita

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