Freitag, 16. März 2018

Unsicherheiten in sicheren Bindungen

Die Bindungstheorie gehört seit dreißig Jahren zum Grundbestandteil der Beziehungspsychologie und bildet ein wichtiges Hintergrundkonzept für die Psychotherapie. In diesem Modell werden drei unsichere Bindungstypen von einem sicheren unterschieden, dem nach verschiedenen Forschungen ca. die Hälfte der Mutter-Kind-Bindungen zugeordnet werden. In diesem Artikel geht es darum, das Bild eines einheitlichen Typs von sicherer Bindung zu differenzieren.

Eine sichere Bindung ist gekennzeichnet durch die Fähigkeit, die eigenen Bedürfnisse nach Nähe und nach Distanz in einem fließenden Gleichgewicht halten zu können. Weder das Alleinesein noch das Zusammensein lösen Ängste oder Bedürfnisspannungen aus. Trennungen werden nicht als existenziell bedrohliches Verlassenwerden erlebt, und das Zusammensein steht nicht im Zwang, eine unlösbare Verschmelzung herzustellen.

Elemente von Unsicherheit


Allerdings gibt es auch sichere Bindungen, die Elemente von Unsicherheit beinhalten. Vermutlich ist es bei allen sicheren Bindungen so, dass solche Elemente bei einem oder bei beiden Partnern vorhanden sind, denn es wird auch kaum Eltern geben, die ihren Kindern eine vollständig sichere Bindung auf allen Ebenen anbieten können. 

Eine interessante Variante zeigt sich in folgendem Rahmen: Die Sicherheit der Bindung wird von den Eltern als mentales und emotionales Konstrukt genutzt, um die eigene Bindungsunsicherheit verdrängen zu können. Demonstrativ wird die Sicherheit einer Bindung oder eines gesamten familialen Systems hochgehalten. Oft ist dies der Fall bei Beziehungen, die unter großen äußeren Unsicherheiten zustande kommen und deshalb einen Hort von Sicherheit bilden sollen, z.B. während oder nach kriegerischen Auseinandersetzungen oder wirtschaftlichen Krisen in einem Land. Die Menschen flüchten aus der Unerträglichkeit der Wirklichkeit und bauen sich geschützte Nester, in denen sich das Leben regenerieren kann. 

Der Preis dafür liegt allerdings in der Aufgabe von individueller Freiheit zugunsten der stabilen Sicherheit. Freiheit wird als Bedrohung dieser Stabilität erlebt; die Menschen wollen, dass die anderen berechenbar sind und verhalten sich deshalb auch selber berechenbar. Um dieses an sich labile Geflecht an verlässlichen Erwartungen aufrecht zu erhalten, bedarf es viel subtilen Drucks und verdeckter Manipulation. 

Die Mitglieder dieser Systeme werden nicht in ihrer gesamten Individualität anerkannt und vor Liebesverlust abgesichert, sondern nur insoweit sie sich an die vorgegebenen Erwartungen anpassen. Die Eltern fordern von den Kindern, ihnen die Sicherheit zu geben, die sie selber nicht hatten, selbstverständlich auf einer unbewussten Ebene, und die Kinder fügen sich in diese Rolle, weil sie keine Alternative haben und verzichten auf eigensinnige Strebungen.

Tribale Wurzeln


Diese Struktur des Verzichts auf die Individualität zugunsten des Gesamtsystems ist aus der tribalen Gesellschaftsorganisation bekannt. Die Stammesgemeinschaften in der frühen Geschichte der Menschheit konnten nur ein kleines Maß an Individualität zulassen, weil der Rahmen eng gestrickt war und tradiertes Wissen heilig gehalten werden musste. Im Lauf der Geschichte haben sich neue Entwicklungen ergeben, die diesen engen Rahmen gesprengt und dem Individuum mehr Raum zur Entfaltung zugestanden haben. Dennoch ist die Erinnerung an die Geborgenheit dieser frühen Phase nie verloren gegangen und kann deshalb leicht durch verschiedenartige Ideologien instrumentalisiert werden.

Ideologische Scheinsicherheiten


Für unsere Geschichte in Mitteleuropa interessant ist der Zusammenhang mit der Scheinsicherheit, die der Nationalsozialismus und andere faschistische Bewegungen vor 90 Jahren versprochen haben, die in einer berechenbaren völkischen Gemeinschaft bestehen sollte. Voraussetzung dafür war die ethnische „Reinheit“, die Unvermischtheit mit anderem „Blut“, wodurch sichergestellt sein sollte, dass es keine Abweichungen von einem unbewusst formulierten völkischen Konsens gäbe. Von daher ist auch die brutale Rabiatheit zu verstehen, mit der man alles „rassisch“ Fremde ausrotten zu müssen vermeinte. Bedroht war in Wirklichkeit nicht die „Reinheit der Rasse“, sondern die Sicherheit eines Netzes von Vorannahmen und Vorurteilen, das die innere Sicherheit garantieren sollte. Alles Fremde wurde erfolgreich mit Unberechenbarkeit und damit mit Bedrohlichkeit gleichgesetzt. Die Wirksamkeit dieser Ideologie ist ja bis heute ungebrochen und zieht viele Menschen in ihren Bann (vgl. den Betrag zum Rechtsextremismus auf dieser Seite).

Subtile Abhängigkeiten


Ebensowenig wie heute (außerhalb der Köpfe von nationalistischen Populisten) ein funktionierendes tribales Gemeinwesen errichtet werden kann, gibt es absolute Sicherheiten in den familialen Bindungen. Unter dem Deckmantel von Liebe und Gemeinschaft werden häufig subtile Abhängigkeiten aufgebaut, vom Unbewussten der Eltern aus unbefriedigten Bindungsbedürfnissen der Kindheit gespeist. Die Seele will sich von den eigenen Kindern zurückholen, was in ihr unerfüllt geblieben ist. Die sichere Bindung, die die Eltern anbieten, dient dem Zweck, die Liebe zu bekommen, die anfangs gefehlt hat. Die Kinder decken dieses Defizit ab und leiden selber an einem nur unterschwellig wahrnehmbaren Liebesmangel.

Die Ablösungskonflikte in der Pubertät können allerdings dann besonders heftig ausfallen. Für die Eltern stehen die Sicherheiten auf dem Spiel, die sie sich über die Kinder aufgebaut haben und erschweren das Loslassen, für die Kinder geht es um ihr eigenes Leben, ihre Seele will sich das Geburtsrecht auf Anerkennung des eigenen Selbst zurückholen.

Jede Seele will frei werden. Jugendliche, die aus zu engen Vorgaben ihrer Familie ausbrechen, erweisen sich und ihren Eltern den Dienst, die Konzepte von Liebe zu überprüfen und neu zu definieren. Solange Liebe mit Abhängigkeiten vermischt ist, gibt es innere Kräfte, die in Konflikten zum Ausdruck kommen. Gelingt es, diese Spannungen konstruktiv aufzulösen, können abhängige Bindungen in frei fließende Beziehungen umgewandelt werden. Dann zeigt sich als tiefere Weisheit, dass Sicherheit nur in der inneren Freiheit gefunden werden kann.

Zum Weiterlesen:
Übersicht über die Bindungstypen
Rechtsextremismus und die Täter-Opfer-Umkehr
Am Anfang brauchen wir ein Willkommen
Empathie
Ist der Mensch von Natur aus egoistisch oder sozial

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