Sonntag, 11. März 2018

Die innere Geschichte der Täter-Opfer-Dynamik

Die Dynamik der Täter-Opfer-Umkehr ist deshalb so gebräuchlich in der Arena der politischen Konkurrenz, weil wir sie alle aus vielen verschiedenen innerpsychischen Abläufen kennen, die sich für diesen Mechanismus anbieten. Es hängt immer von äußeren Umständen und inneren Vorgeschichten ab, ob sich die Dynamik entwickelt oder ob nur einfach das geschieht, was von der Natur aus geschehen soll. Die Dynamik entwickelt sich nur, wenn sie in den äußeren Bedingungen verankert ist. Sie wird gleichsam von außen aufgesogen, als eine Möglichkeit, unter ungünstigen Umständen das Bestmögliche zu schaffen. Sie bewirkt, dass Abläufe, die an sich gar nicht dramatisch sein müssten, mit emotionaler Ladung versehen bis auf Weiteres verstörende und verstörte Einflüsse ausüben können.


Pränatale Prägungen


Bestimmte Entwicklungsereignisse während den frühen Phasen unseres Lebens bieten sich als solche Prägungspunkte an, bei denen die Figur der Umkehr als Bewältigungsmuster von schwierigen Situationen eingeübt werden kann. Hier ein Beispiel aus der ganz frühen pränatalen Zeit: Die Eizelle kann die Samenzelle als Aggressor erleben, als Eindringling, während der „Täter“, die Samenzelle, zum Opfer wird, indem sie ihren Schwanz mit allen Mitochondrien beim Eindringen verliert und sich ihr Kopf im Inneren der Eizelle auflöst und dort alles außer den Chromosomen absorbiert wird. Zwar handelt es sich bei diesem Geschehen um einen natürlichen Ablauf, der für die Fortpflanzung in vielen Bereichen der Natur notwendig ist und der an und für sich frei von jeder Dramatik ist. Diese entsteht nur, wenn die Ei- und die Samenzelle traumatische Prägungen aus der eigenen Vorgeschichte mitbringen oder wenn die Umstände der Zeugung mit Dramatik einhergeht, die eine Täter-Opfer-Struktur beinhaltet, z.B. bei erzwungenem Sex.

Das nächste Beispiel bezieht sich auf den Vorgang der Einnistung. Das werdende Leben, das einen Platz an der Gebärmutterwand sucht, kann diese als feindlich erleben, weil sich das mütterliche Gewebe mit einer Immunreaktion gegen die fremde Erbsubstanz zur Wehr setzen kann. Diese Reaktion kann dadurch verstärkt werden, dass die Mutter die Schwangerschaft ablehnt oder starke Ängste entwickelt. In weiterer Folge kann sich das Baby auch als Opfer fühlen, wenn über die Nabelschnur schädliche Stoffe kommen, vor denen es sich nicht schützen kann, z.B. Alkohol oder Nikotin. Auch emotionale Dramen im Leben der Mutter, die das Baby mitbekommt, können die Haltung prägen, äußeren Einflüssen hilflos ausgeliefert zu sein.

Bei der Geburt initiiert der Fötus den Geburtsvorgang, der dann gegen den Widerstand des Muttermundes und des Gebärkanals führt und die Mutter in Bedrängnis bringen kann. Das Baby braucht aggressive Kräfte, um die Engstellen beim Geborenwerden zu überwinden, es braucht also die Bereitschaft zur Täterschaft. Aber auch die Mutter kann Aggressionen spüren, z.B. wenn die Geburt sehr schmerzhaft verläuft und sehr lange dauert. Wiederum kann sich das Baby als Opfer fühlen, wenn der Druck durch die Wehen stark ist und dennoch keine Weiterentwicklung stattfindet, insbesondere aber auch, wenn ein Kaiserschnitt vorgenommen oder mit der Saugglocke gearbeitet wird. Die Mutter, aber auch das Baby kann sich als Opfer der Geburtshelfer fühlen, wenn diese unachtsam oder gewaltsam vorgehen.


Kinder als Opfer und Täter?


Das Schreien eines Kleinkindes kann die Eltern zur Verzweiflung treiben oder zornig machen; je nachdem kann sich eine Täter- oder eine Opferfixierung beim Kind ausbilden. Wird die emotionale Innenwelt des Kindes durch die Eltern nicht adäquat gespiegelt und beantwortet, kann das Kind kein ausgeglichenes Selbstgefühl entwickeln und wird im späteren Leben die soziale Welt durch die Täter-Opfer-Brille erleben.

Im Lauf der Kindheit gibt es viele andere Gelegenheiten, in denen sich eine Opfer-Täter-Dynamik ausbilden kann. Ein Beispiel sind Geschwisterrivalitäten, die allein daraus entstehen können, dass ein jüngeres Geschwister den älteren Zuwendung und Aufmerksamkeit wegnimmt oder die emotionale Nahrung seitens der Eltern ungleich verteilt wird. 

Wenn Grundbedürfnisse missachtet oder geringgeschätzt werden und jeder Protest nichts hilft, kann es zur Ausprägung einer Opferrolle kommen, die dann später im Leben in eine Täterrolle umgemünzt werden kann. Eine Mutter, die sich als Opfer ihrer Kinder fühlt (indem sie sich für sie aufopfert), macht die Kinder zu Tätern, die diese aufgezwungene Rolle nur mit einem Schuldgefühl ausgleichen können.

Auch bei der Willensentwicklung, die im 2. Lebensjahr verstärkt einsetzt, öffnet sich schnell die Scheide zwischen Opfer- und Täterrolle, wenn die Erziehungspersonen nicht altersgerecht auf diese Herausforderungen eingehen können. So geraten manche Kinder in die aktive Täterrolle, indem sie  - aus Verzweiflung – den Eltern ihren Willen aufdrängen und über die Maßen dominieren wollen, weil sich diese willfährig unterwerfen. Andererseits sehen viele Eltern nur die Möglichkeit, das Expansionsbestreben ihres Kindes mit rigider Grenzsetzung zu beantworten, wodurch dieses in eine Opferrolle gedrängt wird.

All dies kann sich im Lauf einer „durchschnittlichen“ Kindheit mit „normalen“ Eltern abspielen. Erst recht wenn Kinder zu Opfern von Missbrauch und Gewalt werden, prägt sich die Opferrolle tief in die Psyche ein und fordert später die Umkehr in die Rolle des Täters. Viele, wenn nicht alle erwachsene Gewalttäter waren in ihrer Kindheit Opfer, sodass die erwachsene Aggression als innerpsychischer Ausgleich für erlittenes Leid, als Rache für Demütigung verstanden werden kann. (Verstehen heißt bekanntlich nicht, asoziales Verhalten zu entschuldigen.)

Kinder nehmen nie freiwillig eine der Rollen an, sondern prägen sie ein, wenn es keine andere Möglichkeit gibt, um das eigene Überleben zu sichern und zu genügend emotionalen Ressourcen zu kommen. Kindsein heißt, noch nicht in der Lage zu sein, Verantwortung für die eigenen Gefühlsabläufe übernehmen zu können. Wenn Kinder eine Täter- oder Opferrolle einnehmen, tun sie dies unbewusst, um so ihr emotionales Überleben zu sichern, und aus Mangel an einer Alternative. 


Verantwortung für eine demokratische Gesellschaft 


Erwachsene hingegen verfügen immer über Alternativen und können prinzipiell Verantwortung übernehmen. Sie sind also der Täter-Opfer-Dynamik nicht hilflos ausgeliefert. Wenn sie ihr unterliegen, regredieren sie in die Muster und Gefühlsabläufe ihrer Kindheit. Sie wollen die Wirklichkeit mit den emotionalen Reaktionsmustern von Kleinkindern verstehen.

Oder, wie ich am Beispiel des Rechtsextremismus zu zeigen versucht habe: Es wird diese Dynamik im politischen Marketing bewusst für eigene ideologische Ziele eingesetzt. Dieser Einsatz von frühkindlich geprägten Mechanismen für manipulative Zwecke muss mit besonderer Wachsamkeit verfolgt werden. Denn wir können als demokratische Gesellschaft nicht wollen, dass manipulativ die Schwächen ihrer auf vielen Ebenen traumatisierten Mitglieder für partikulare Zwecke von politischen Parteien – welcher Couleur auch immer – missbraucht werden. Dazu bedarf es einer geschärften Sensibilität und Achtsamkeit im öffentlichen Diskurs. 

Wir können nur als Erwachsene mit einer ausgeprägten und ausgebildeten Kompetenz im Gefühlsmanagement und im Gebrauch der Vernunft eine funktionierende demokratische Gesellschaft bilden. Regressive Bedürfnisse und Zwänge zum aggressiven Ausagieren, manipulative Machtausübung und narzisstische Kränkungen gehör(t)en eigentlich in die Therapie.

Zum Weiterlesen:
Rechtsextremismus und die Täter-Opfer-Umkehr
Die Täter als Opfer

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