Samstag, 20. Januar 2018

Die Jagd nach der Erfahrung

Unser Leben ist die Summe unserer Erfahrungen, entlang der Zeitleiste, die uns zugemessen ist. Wir haben den Drang, diese Zeit bestmöglich zu füllen. Sonst könnte es passieren, dass dieses unser Leben seinen Sinn und seine Bedeutung verliert, was soviel heißt wie, dass wir selber unseren Sinn und unsere Bedeutung verlieren, und diese Vorstellung verursacht ungute bis grauenvolle Gefühle.

Wir müssen also herausfinden, wie wir diese Zeit optimal nutzen. Im Grund können wir unser Leben als die Suche nach diesem Optimum beschreiben, als eine Reise, die weniger ein fix definiertes Ziel hat, wie Schruns-Tschagguns oder Paris, als vielmehr einem Herumirren zwischen Versuchen und Irrtümern gleicht. Denn auch wenn wir in Paris als unserem Reiseziel angelangt sind, müssen wir erst die Zeit, die wir dort verbringen, auf eine optimale Weise mit Erfahrungen füllen. Es erschiene ja seltsam, in diese Stadt zu reisen und die Zeit dort nur mit Fernsehen oder Kreuzworträtsellösen im Hotel zu verbringen. Wer würde von einer solchen Erfahrung seinen Freunden erzählen? Vielmehr wollen wir uns möglichst vollsaugen mit dem Neuen, was sich uns zeigt: Die Sehenswürdigkeiten, die Schönheiten, die Besonderheiten. Davon können wir, so hoffen wir zumindest, in der Zukunft zehren, wenn es uns an Neuem in unserem Leben mangelt. Wir speichern die spezielle Erfahrungsqualität eines Pariser Frühstückcroissants oder des Lächelns der Mona Lisa herein, und unser zukünftiges Leben ist vor Leere und Langeweile gefeit, so hoffen wir. Jederzeit können wir uns die Erinnerung zurückholen, wenn wir nur die Erfahrung möglichst intensiv gemacht haben.

Spitzenerfahrungen als Versicherung gegen das Unglück


Wir wollen all diese besonderen, herausragenden Erfahrungen sicher und dauerhaft abspeichern, damit sie uns die Gefühle, die mit den Erfahrungen verbunden waren, möglichst zuverlässig und dauerhaft abrufbar machen. Dieser einzigartige Sonnenuntergang bekommt einen prominenten Platz in unserem Erinnerungsspeicher, wir haben viel darin investiert, ihn zu finden, nun soll er in aller Zukunft von Nutzen sein. Deshalb bilden wir ihn ab, und deshalb schicken wir die Abbildung an all die Menschen um uns herum. Indem sie wissen, was wir erlebt haben, können sie uns daran erinnern, sollten wir die Erinnerung und ihren Erfahrungsgehalt vergessen.

„Der Versuch, unser Leben nicht zu einer Vergeudung zu machen, indem wir ein paar besonders bemerkenswerte Ereignisse suchen, macht den Rest unseres Lebens zur Vergeudung.“ (Mark Greif: Against Everything. On Dishonest Times, Verso 2016, S. 94) Der Versuch also, unser Leben besonders optimal anzufüllen, kann darin münden, dass wenigen Spitzenerfahrungen eine beängstigend große Menge an belanglosen Zeiten gegenübersteht. Mehr noch, im Kontrast zur Grandiosität einzelner Erfahrungsmomente kann der Rest, der Großteil des Lebens, umso mehr in die Bedeutungslosigkeit absinken.

Um das zu verhindern, wollen wir an den hervor-ragenden Ereignissen festhalten, wir wollen die Zeit um sie herum in die Länge ziehen, damit wir nie wieder ins öde Umland zurückkehren müssen. „Das Konzept der Erfahrung macht uns zu Siedlern in einem Dorf am Plateau, die an einem Mythos von einer glücklicheren Menschenrasse festhalten, die auf den Gipfeln leben. Manchmal klettern wir hinauf, aber nur mit Vorbereitung, für kurze Expeditionen. Wir können dort nicht bleiben, und alle sind dann unruhig und unzufrieden zuhause.“ (ebd.)

Das Rezept zur Unzufriedenheit liegt in der Hochstilisierung des Herausragenden, wodurch eine starre Spannung zum Normalen, Alltäglichen, Unspektakulären erzeugt wird. Je intensiver wir die spezielle Erfahrung in uns verankern, desto weiter fallen die vielen anderen weniger extravaganten Ereignisse unseres Lebens dagegen ab. Und sie müssen auch abfallen, denn die Intensiverfahrung lebt aus dem Kontrast zum ausgebreiteten Flachland, das vor allem mit Bedeutungslosigkeiten angefüllt ist. Je mehr wir in den Zeiten des eingeebneten Lebens an der Leere und am Nichtvorhandensein von Sondererfahrungen leiden, desto erfüllter offenbart sich das Leben, wenn es uns Gipfelerfahrungen zuschanzt. In der westlichen Lebensweise ist diese Spannung abgebildet als das  Pendeln zwischen Arbeitszeit und Freizeit, zwischen Job und Urlaub. Die Hoffnung auf die Erlösung aus dem Müssen in der öden Ebene dient als Quelle zum Aushalten der langen Durststrecken zwischen den kurzen Phasen des Hochgefühls. Dazu hoffen wir auf einen Lottogewinn oder eine gut dotierte Frühpension, um endlich den Urlaubszustand zum Dauerzustand machen zu können.

Bewertungskriterien


Was ist optimal? Hier leben sich emotionale Muster aus, die sich aus erlittenen Frustrationen und deren Bewältigungsstrategien ableiten. Die ganz besondere Erfahrung, nach der wir jagen, soll uns alles vergessen lassen, was wir je an Widrigkeiten überstehen mussten. Es muss etwas ganz Neues, Überraschendes, Noch-nie-Dagewesenes sein, damit keine alte schlechte Erinnerung etwas davon anpatzen kann. Diese exquisite Speise liefert deshalb eine so besondere Erfahrung, weil sie mit nichts assoziiert ist, was in der Kindheit Essprobleme bereitet hat. Sie ist absolut unschuldig und lässt uns unser Leiden vergessen.

Erfahrungsabstinenz?


Wie können wir uns aus der Spannung befreien? Offensichtlich bringt es nichts, wenn wir den Erfahrungshunger und die Erfahrungsgier durch ihr Gegenteil, die Erfahrungsabstinenz ersetzen und die Spannung dadurch wegkürzen, dass wir das Besondere der Erfahrung verkleinern, indem wir z.B. die Unvollkommenheiten von intensiven Erfahrungen in den Vordergrund rücken: Den unangenehmen Geruch einer Abfallhalde in der Nähe des Punktes, von dem der Sonnenuntergang am schönsten beobachtet werden kann, der Autolärm beim Genuss eines Pariser Frühstücks oder die Touristenschwärme um den Eiffelturm. Es macht uns auch nicht glücklicher, wenn wir das Besondere zum Alltäglichen machen, indem wir z.B. den Urlaub dort verbringen, wo es dem Zuhause am ähnlichsten ist und wir all unseren Alltagsgewohnheiten weiter frönen können.

Wenn wir uns resignativ im Gewohnten verschanzen, weil alles andere mit Risiken und Unwägbarkeiten behaftet ist und uns mit Ängsten konfrontiert, richten wir uns bloß bequem in der Komfortzone ein und bauen einen Zaun mit Sichtschutz um sie herum auf. Wir ebnen das Unebene ein, damit nichts den seichten Strom des Immergleichen irritieren kann. Es regt nur mehr das auf, was außerhalb der eigenen Einflusszone steht, im Inneren wird die ewige Ruhe ausgerufen.

Die Radikalität der Erfahrung


Der wirkliche Ausweg ist radikaler. Er liegt darin, dass wir das Konzept von Ebene und Gipfel, von Alltag und Extravaganz, vom Belanglosen und Besonderen überwinden und hinter uns lassen. All diese Entgegenstellungen verzerren die Realität. Auf ihrer Grundlage basteln wir ein Lebensmodell, mit dem wir die Wirklichkeit polarisierend auseinanderreißen und uns dann wundern, wenn unsere Unzufriedenheit nicht weniger wird.

Wir müssen aufhören, die Möglichkeit einer optimalen Erfahrung irgendwo in die Zukunft oder an einen möglichst weit entfernten Ort zu verbannen, sodass wir sie immer wieder mühsam suchen müssen. Alles, was es braucht, ist,  sie im jetzigen Moment zu aufzufinden, denn nur dort gibt es sie. Wenn wir in diesen Moment eintauchen, ist diese Erfahrung weder eben oder öd noch herausragend, sondern sie ist da in ihrer Unvergleichlichkeit, weder toll noch fad, weder schön noch hässlich, weder pointiert noch flach. 

Wir müssen nur das Vergleichen rausnehmen, das die Gewohnheit hat, sich wie ein Zerrschleier über das Erleben breitet, indem es jedem Inhalt eine Bewertungsmarke von einem anderen Inhalt anhängt. Nichts darf so sein, wie es ist, vielmehr wird alles in Bezug zu etwas anderem gesetzt, und aus diesem Bezug wird der Wert abgeleitet. Die Erfahrung A ist gut, weil sie besser ist als B, aber nicht so gut wie C usw. Das Vergleichen nimmt der Erfahrung ihren Eigenwert, ihre eigene ganz besondere Bedeutung, die wir im Moment des Erlebens aufnehmen können, wenn wir eben nicht ins vergleichende Bewerten gehen.

Die Qualität des Optimalen, die wir in der Spitzenerfahrung suchen, die Intensität des Erlebens, hängt nicht vom Äußeren ab, sondern bildet sich durch unsere innere Einstellung. Wir können davon ausgehen, dass jede Erfahrung auf einer Skala soundso weit vom Optimalen entfernt ist, oder dass diese Erfahrung in diesem Moment das Optimale ist, das wir haben. Mit dieser Einstellung können wir überall und jederzeit den unvergleichlichen Sonnenuntergang, die traumhaft schöne Natur und das wunderschöne Kunstwerk erleben. Das Leben zeigt sich uns in jedem Moment in all diesen Qualitäten, und es liegt an uns, sie wahrzunehmen oder zu ignorieren. Wählen wir den vorurteilslosen Blick, die un-befangene Wahrnehmung, statt die Verschleierung durch Vergleichen und Bewerten! Das gibt uns auch in unangenehmen Situationen, also solchen, die nicht unseren Präferenzen und Erwartungen entsprechen, einen Anlass zum Staunen.

Die Erfahrung als Erfahrung akzeptieren


Der erste Schritt, damit wir uns mit dem Optimalen der jeweils aktuellen Erfahrung verbinden können, liegt im Akzeptieren der Erfahrung als Erfahrung. Die Erfahrung ist das, was uns der Moment gibt, nicht mehr und nicht weniger. Wir haben die Wahl, uns darauf einzulassen, d.h. dass wir keine Konzepte und Vergleiche, keine Interpretationen und Einordnungen über das Erlebte drüberstülpen, sondern es als das, was es ist, da sein lassen. Es mag angenehm oder unangenehm, schön oder hässlich, gut oder böse sein – es ist, was es ist, und im Akzeptieren nehmen wir es an.

Was ist, macht sowieso im nächsten Moment Platz für das nächste, was ist. Die Angst, die uns am Akzeptieren hindert, ist oft, dass wir glauben, was jetzt ist, bleibt und wird sich nie verändern (wenn es unangenehm ist), oder verschwindet und kommt nie wieder (wenn es angenehm ist). Sobald wir annehmen, was unsere Erfahrung ist, merken wir, dass es sich von Moment zu Moment ändert. Wir erkennen, dass es wieder nur unsere Vorstellungen und Denkkonzept sind, die uns suggerieren, wir müssten etwas an unseren Erfahrungen loswerden oder festhalten. Das ist die zentrale Botschaft des Buddha: Alles Leiden entspringt aus dem Loswerdenwollen oder Festhaltenwollen. Die Heilung liegt immer im Sein-Mit, im annehmenden Umfangen dessen, was sich gerade als unsere Erfahrung zeigt. Da gibt es nichts mehr zu suchen oder zu finden, da ist einfach, was ist. 


Zum Weiterlesen:
Halbwahrheiten - schlimmer als Unwahrheiten

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