Freitag, 25. August 2017

Das kontrafaktische Denken und die Versöhnung mit unserer Unvollkommenheit

Eine der vielen Überschussmechanismen, die unser gehirngesteuertes Denken ausgebildet hat, ist das kontrafaktische Reflektieren. Damit sind typische Denkschleifen gemeint, die vor allem dann auftauchen, wenn etwas in unserem Leben nicht so gelaufen ist, wie wir es uns gewunschen hätten. Wir spulen den Film zurück und wollen ihn noch einmal in einer neuen, verbesserten Form abspielen, von dem Punkt an, an dem etwas schief gelaufen ist. Z.B. haben wir durch eine Unachtsamkeit einen Schaden am Auto verursacht, eine Delle sagt uns, dass wir dem Mechaniker eine nette Summe hinlegen müssen, damit der Schaden behoben werden kann. Wir denken also die Situation noch einmal unter dem Vorzeichen des Konjunktivs durch: Wenn wir in jenem Moment nicht der Musik im Auto gefolgt wären, wenn wir das Lenkrad anders geführt hätten, wenn wir gar nicht ins Auto gestiegen wären, wenn wir irgendeiner Intuition gefolgt wären, die uns sagte, diese Fahrt nicht zu unternehmen, usw., dann wäre der Schaden nicht eingetreten.

Das Faktum ist da, unbestreitbar, in Form einer Delle an der Seitenfront des Autos. Was zu tun ist, ist auch klar. Aber nun drängt sich das Denken dazwischen und macht sich wichtig mit seinen Ideen zur Weltverbesserung, so als hätte es die Macht über das Faktische und über die Geschichte, als könnte es einfach die Zeit zurückdrehen. Wir wissen zwar, dass dem nicht so ist, aber unterwerfen uns dennoch diesem Zwang unseres Denkens, weil wir meinen, dadurch Alternativen zu gewinnen, die allerdings nicht real sind.

Jede Figur unseres Denkens hat einen lebenspraktischen Sinn und enthält zugleich eine Versuchung zum Missbrauch. Beim kontrafaktischen Denken besteht der mögliche Nutzen darin, dass wir in Hinblick auf zukünftige Situationen vorausüben und uns klarmachen, dass wir unsere Handlungen verbessern können, dass wir also in der Lage sind, sorgfältiger zu lenken und besser einzuparken, ohne eine Delle zu verursachen. Wir führen also ein inneres Probehandeln durch, um für ähnliche Situationen in der Zukunft besser gerüstet zu sein. Das ist der realitätsbezogene Teil des kontrafaktischen Denkens.

Der realitätsfremde Teil besteht darin, dass wir uns suggerieren, wir könnten rückgängig machen, was passiert ist. Er hindert uns daran, die Verantwortung zu übernehmen für das, was geschehen ist, was also ein Faktum geschaffen hat. Wir beginnen mit dem Schicksal zu hadern und verlieren uns in den Konjunktiven: Hätte ich doch, wäre ich doch … Wir verfügen nur in der Gegenwart über offene Möglichkeiten, die Fakten der Vergangenheit liegen dagegen alternativlos fest, und ihre Konsequenzen reichen in die Gegenwart. Wir können den Konsequenzen mit Freiheit begegnen, indem wir z.B. beschließen, mit der Delle weiterzufahren oder das Auto in Hinkunft in der Garage zu belassen. Aber wir haben nicht die Freiheit, die Geschichte umzuschreiben und Geschehenes ungeschehen zu machen. Beim kontrafaktischen Denken nähren wir nur unsere neurotischen Tendenzen, uns in unserer Fantasie allmächtig über die Wirklichkeit stellen zu wollen. Wir spalten uns also von der Realität ab und flüchten in das Fantasieimperium, in dem wir die einzigen Herrscher sind, weil wir uns der Verantwortung nicht gewachsen fühlen, die uns die Wirklichkeit aufbürdet. Das ist der neurotische Scheingewinn am Hadern. 


Abhilfe gegen das kontrafaktische Denken



Was hilft gegen das kontrafaktische Denken? Zunächst gilt es, die Kraft der Unterscheidung zu stärken: Was ist der konstruktive Teil am „Zurück-an-den-Anfang“-Spiel, und wo beginnen die neurotischen Denkschleifen mit ihren selbstdestruktiven Aktivitäten? Was können und sollten wir lernen und verbessern, wo können wir unsere Achtsamkeit verstärken, und wo beginnen wir, uns selbst herunterzumachen und zu schaden, indem wir uns (oder andere) kritisieren, abwerten und anklagen? Wo verleugnen wir das, was ist, zugunsten einer nutzlosen und selbstschädigenden Allmachtsfantasie?

Wenn wir diese Grenze erkundet haben, können wir dort einen Satz groß plakatieren: Wir (wie alle anderen auch) tun in jedem Moment unseres Lebens genau das, wozu wir imstande sind. Wir geben also das Beste, das uns gerade möglich und zugänglich ist. Hätten wir etwas noch Besseres zur Verfügung gehabt, hätten wir es auch eingesetzt. Nachher sind wir immer gescheiter, nachher wissen wir immer mehr. Und darauf beruht unsere Lernfähigkeit. Was wir allerdings nie wissen können und nie wissen werden, wie es wirklich gewesen wäre, wenn wir anders gehandelt hätten, welche Probleme oder Schwierigkeiten dann möglicherweise aufgetaucht wären.

Also müssen wir uns in dieser Bescheidenheit üben, die besagt, dass wir in jeder Situation – in der Vergangenheit, in der Gegenwart und in jeder Zukunft – nur über einen begrenzten Horizont an Fertigkeiten, Informationen und Einsichten über die Folgen disponieren können. Die Wirklichkeit stellt uns immer wieder vor Herausforderungen, denen wir nur mangelhaft gewachsen sind. So ist das Spiel des Lebens, und so entwickeln wir uns weiter. Wir müssen mit der Einsicht leben, dass wir in manchen – wichtigen oder banalen – Situationen unseres Lebens Handlungen gesetzt haben (und auch in Zukunft setzen werden), die wir nachträglich, mit besserem Wissen über die Konsequenzen, als Fehler, als Irrtümer, als Versagen bezeichnen können. Wir haben aber kein Recht, uns dafür zu verurteilen, denn: Wir wussten und konnten es damals nicht besser. Wir würden uns wie Eltern verhalten, die ihr Kleinkind dafür kritisieren, dass es die Regeln des Straßenverkehrs oder des Benehmens bei Tisch nicht kennt, die ihm nie erklärt wurden, oder dass es über eine Impulskontrolle verfügen müsste, die noch nicht entwickelt ist. 

Wir können mit unserer Vergangenheit, also mit uns als vergangene Handelnde, nur in Frieden kommen, wenn wir von dieser Überheblichkeit ablassen, die wir uns anmaßen, uns zu verurteilen, sobald wir über neue Einsichten verfügen, die uns zum früheren Zeitpunkt nicht zugänglich waren. Wir sind nicht mehr die genau gleiche Person wie jene, die die Situation zu bestehen hatte. Erst wenn wir anerkennen können, dass wir im Rahmen unserer Möglichkeiten das Beste aus jeder Situation gemacht haben, das uns zugänglich war, gelingt es uns, die Verantwortung im Jetzt zu übernehmen. Dann können wir dieser perfektionistischen Falle entkommen: Wir leben mit unserer Unvollkommenheit und Fehleranfälligkeit und entwickeln uns dadurch weiter, dass wir in jeder Situation bestmöglich die Verantwortung übernehmen.


Verinnerlichte Stimmen


Wollen wir die inneren Stimmen, die uns für unsere Fehler abwerten und verurteilen, nachhaltig zum Schweigen bringen, gilt es, ihre Herkunft und ihre Wurzeln zu untersuchen und freizulegen: Diese inneren Stimmen sind verinnerlichte Stimmen, die inneren Kritiker sind verinnerlichte äußere Kritiker, vor allem unsere Eltern und andere wichtige Personen in unseren frühen Lebensphasen. Wir sind mit großem Vertrauen und großer Unfähigkeit in diese Welt geboren worden, haben unermesslich viele Fehler gemacht, auf allen möglichen Ebenen, und sind dennoch erwachsene Menschen geworden, die ihr Leben gerade so gut meistern, wie es möglich ist. Wenn es uns gelingt, am Klang der Stimmen unserer inneren Kritiker ihre Herkunft zu identifizieren, können wir uns klarmachen, sobald die kontrafaktischen Abwertungen beginnen: Aha, jetzt spricht der innere Kritiker mit der Stimme, mit der Energie, mit dem Gefühlston der Mutter, oh, und jetzt mischt sich der Vater ein. So war das in meiner Kindheit. Jetzt bin ich erwachsen und muss diesen Stimmen kein Gewicht und keine Macht mehr geben. Statt dessen schaue ich hier und jetzt, was zu tun ist, indem ich die Lektion aus dem, was geschehen ist, in mein Stammbuch schreibe und die Handlungen setze, die zu tun sind.

Manchmal sind vergangene Fehler mit moralischen Vorwürfen oder Selbstvorwürfen verbunden. Ich hätte wissen müssen, dass eine Bemerkung von mir die andere Person verletzt oder dass sie stört, was ich gemacht habe. Wenn ich mir klarmache, dass ich vorher nicht die Informationen hatte, die ich habe, sobald mir die Person mitteilt, was ihr missfällt, kann ich die Vorwürfe bei der anderen Person belassen und die Selbstvorwürfe beenden. Ich kann mir vornehmen, Bemerkungen oder Handlungen, von denen ich jetzt weiß, dass sie die andere Person verletzen, in Zukunft zu vermeiden. Damit gelingt es mir, die Erfahrung in die Vergangenheit zu verabschieden. 


Vom Sinn der Reue


Die Reue, also das Bedauern eines Fehlers, hat einen zweifachen Sinn. Zum einen kann es darum gehen, einen anderen Menschen, der durch einen Fehler von uns zu Schaden gekommen ist, Verständnis zu zeigen und die Bereitschaft zu signalisieren, die Verantwortung zu übernehmen, indem wir z.B. für die Wiedergutmachung des Schadens aufkommen. Zum anderen, in Bezug auf uns selbst, bedeutet das Bereuen die Einsicht in die Verbesserungsmöglichkeit von Entscheidungen, die wir in der Vergangenheit getroffen haben, und den daraus abgeleiteten Willen, es in Zukunft anders und besser machen zu wollen. Ein aufrichtiges Bereuen macht uns frei von der Last unserer Fehlerhaftigkeit und Unvollkommenheit und verhilft uns zu einem Zustand von verantwortungsvoller Unschuld. Wir ersetzen das Konzept der Perfektion durch das Konzept der Lernfähigkeit. Mit diesem Rüstzeug sind wir voll handlungsfähig und versöhnt mit unserer Geschichte.

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