Montag, 26. Juni 2017

Friedrich Nietzsche und die Weisheit des Körpers

Friedrich Nietzsche, der einflussreiche und vieldeutige Denker und Schriftsteller, hat ein Kapitel seines bekannten Buches „Also sprach Zarathustra“ der Preisung des Körpers gewidmet. Konträr zu vielen spiritistischen und spiritualistischen Anschauungen seiner  und unserer Zeit hat er die Leiblichkeit des Menschen ins Zentrum seiner Lehre gestellt. „Leib bin ich ganz und gar, und nichts außerdem; und Seele ist nur ein Wort für etwas am Leibe.“

Nietzsche stellt damit eine selbständige Existenz der Seele in Abrede. Es gibt keine Seele ohne den Körper, eine Einsicht, die auch die zeitgenössische Biologie und Neurowissenschaft nahelegt. Es gibt nichts, was wir als seelisch erleben, das nicht mit einem körperlichen Vorgang verbunden ist und ohne diesen nicht möglich wäre. Ist das eine Kränkung für den stolzen menschlichen Geist, der sich so weit über die Materie erheben kann und ihr offenbar dennoch nicht entkommt?

Der Leib ist eine große Vernunft


 „Der Leib ist eine große Vernunft, eine Vielheit mit Einem Sinne (…). Werkzeug deines Leibes ist auch deine kleine Vernunft, mein Bruder, die du »Geist« nennst, ein kleines Werk- und Spielzeug deiner großen Vernunft.“ In dieser Rangordnung sind wir entstanden: Die organischen Vorgänge unserer Zeugung und Embryonalentwicklung, die von einer großartigen Intelligenz in der Steuerung und Abstimmung verraten, stehen am Anfang, und erst in deren Rahmen entfaltet sich langsam das, was wir als „Geist“ bezeichnen, die bewusste Wahrnehmung, Lenkung und Reflexion. Ohne die organischen Prozesse gibt es keine geistige Aktivitäten, zumindest insoweit wir davon Kenntnis und Erkenntnis haben; und auch die Geister, die von einer von den körperlichen Aktivitäten unabhängigen geistigen Tätigkeit oder Existenz reden, tun dies mit Hilfe ihrer intakten Körperfunktionen – sobald diese aussetzen, kommen auch solche Aussagen nicht mehr zustande.

Weiters ist zu bedenken, dass die hohen Funktionen des Geistes, also seine bewusste Verwendung für das Nachdenken, für mathematische Problemlösung und technische Erfindungen, die große Ausnahme darstellen, während wir uns in der Regel in unserem Alltagsleben mit einfacheren geistigen Abläufen zufriedengeben, wenn wir nicht überhaupt Tagträumen nachhängen. Alle diese kognitiven Prozesse werden direkt von Körpervorgängen gestaltet und gesteuert. Wir brauchen nur einmal darauf darauf achten, wie ein Gedanke entsteht, und merken dabei, dass dieser von irgendwo „aufsteigt“, nicht aber, dass wir ihn „erschaffen“, d.h. selbst das Nachdenken ist ein weitgehend passiver Vorgang, weit von Autonomie und bewusster Steuerung entfernt, und noch weiter sind die anderen, weniger strikten oder kontrollierten Denkformen der bewussten Einflussnahme entzogen. In dem „Aufsteigen“ von Gedanken in unserem Kopf zeigt sich die neuronale Aktivität im Gehirn, die bestimmten organischen Abläufen eine spezielle Qualität hinzufügt, die sie uns allmählich bewusst werden lässt.

„Es ist mehr Vernunft in deinem Leibe als in deiner besten Weisheit,“ so schreibt Nietzsche weiter. So viele Stoffwechselprozesse müssen in unserem Organismus in Balance sein und optimal arbeiten, damit auch nur ein vernünftiger Gedanken zustande kommen kann. All diese Prozesse regeln sich selbsttätig, ohne bewusste Lenkung, allein durch die Vernunft des Leibes. Deshalb brauchen wir wesentlich mehr von dieser Intelligenz für unser Leben, und unsere gesamte Gelehrsamkeit nützt uns nur wenig, wenn diese Intelligenz ihren Dienst verweigert. In jedem Fall sind unsere besten Weisheiten ursprünglich nichts als Emanationen der leiblichen Vernunft, also von neuronalen Regelkreisen, die ihrer eigenen Logik und ihren eigenen Absichten folgen.

Das stolze Ich


„»Ich« sagst du und bist stolz auf dies Wort. Aber das Größere ist, woran du nicht glauben willst, – dein Leib und seine große Vernunft: die sagt nicht Ich, aber tut Ich.“ Viel bilden wir uns ein auf diese unsere Vernunft und auf das Ich-Bewusstsein, mit dem sie verknüpft ist. Aber auch hier verweist Nietzsche auf den Konstruktionsvorgang, in dem das Ich aus der Vernunft des Leibes erschaffen wird, ohne dass dafür irgendeine sprachliche Aktivität notwendig wäre. Unser Geist hat die Eigentümlichkeit, die Urheberschaft des eigenen Denkens im Dunkeln zu belassen und sich selbst zuzuschreiben. Aus dieser Verschleierung erwächst das stolze Ich, das sich so viel auf sich selbst einbildet, während die Körperprozesse fortwährend die ganze Grundlagenarbeit leisten.

Die Grenzen der leiblichen Vernunft


Es gilt allerdings, eine wichtige Ergänzung zu dieser Geistkritik Nietzsches anzuführen. Neben der Weisheit, über die unser Körper verfügt und mittels derer er jeden Moment unserer Existenz ermöglicht, ist er auch der Speicher unserer Traumatisierungen. Die belastenden Erfahrungen unserer Lebensgeschichte haben ihre Spuren in den Geweben und Organen hinterlassen, bis auf die Zellebene. Unsere emotionalen Leidenszustände sind auch unserem Körper und seinen Angstgedächtnissen zuzuordnen, sodass wir oft im Leben fern von Vernunft und Weisheit agieren, gesteuert von Impulsen aus unserer Physiologie, die aus Überlebensprogrammierungen stammen.

Insoferne wirkt jede Idealisierung des Körpers realitätsfern und naiv, allerdings bietet sie einen eindrucksvollen Kontrapunkt zu allen dualistischen Konzepten, die das Seelische und Geistige vom Körperlichen trennen, um es diesem überordnen zu können. Solche Anmaßungen und Selbstüberhöhung des Menschengeistes hat Nietzsche mit Vehemenz zu bekämpfen verstanden.

Dort allerdings, wo der „Philosoph mit dem Hammer“ eine Gegen-Idealisierung predigt, indem er Einschränkungen und Verzerrungen der Weisheit des Körpers übersieht (die ihn selber die letzten Jahre seines Lebens vollständig der Schaffenskraft beraubt haben), gilt es, von der Kritik von Einseitigkeiten zu einer integrierten Sicht des Menschlichen zu kommen. Das Zusammenspiel von Körperprozessen und geistigen Aktivitäten, die Entstehung des Bewusstseins aus dem Unterbewussten und die interaktiven Abläufe dazwischen führen uns näher zu dem Geheimnis dessen, was wir sind, wenn wir mit Achtsamkeit lauschen, was sich da in jedem Moment abspielt. Dann ist der Geist der Freund, Begleiter und dankbare Helfer des Körpers.


Zitate aus: Friedrich Nietzsche: Also sprach Zarathustra, Kapitel 15

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