Carl Sagan (1934 – 1996), bekannter Wissenschaftler, Wissenschaftspublizist und Schriftsteller, hat neun Grundsätze für das Feststellen von Wissen formuliert:
1. Wo immer möglich, muss eine unabhängige Bestätigung der „Fakten“ stattfinden.
2. Rege eine substantielle Debatte über die Beweise durch bekannte Proponenten aller Gesichtspunkte an.
3. Argumente von Autoritäten haben wenig Gewicht – „Autoritäten“ haben sich in der Vergangenheit geirrt. Sie werden sich auch in Zukunft irren. Vielleicht kann man es besser so ausdrücken, dass es in der Wissenschaft keine Autoritäten gibt; bestenfalls gibt es Experten.
4. Denk dir mehr als eine Hypothese aus. Wenn es etwas zu erklären gibt, denke an alle möglichen Weisen, in denen es erklärt werden könnte. Dann denke dir Tests aus, mit denen du jede der Alternativen systematisch widerlegen könntest. Die Hypothese, die überlebt, diejenige, die in dieser Darwinistischen Auslese inmitten von „multiplen funktionierenden Hypothesen“ der Widerlegung widersteht, hat eine viel höhere Chance, die richtige Antwort zu sein, als wenn du einfach auf die erste Idee, die deine Vorstellungskraft hervorgebracht hätte, abgefahren wärst.
5. Versuche nicht, einer Hypothese übermäßig anzuhängen, bloß weil sie die deinige ist. Es ist nur eine Wegmarke bei der Wissenssuche. Frage dich, warum du die Idee magst. Vergleiche sie fair mit den Alternativen. Schau, ob du Gründe für einen Widerspruch finden kannst. Wenn du es nicht machst, werden es andere tun.
6. Quantifiziere. Wenn was auch immer, das du erklärst, etwas messbares hat, eine numerische Quantität, die dranhängt, wird es dir viel leichter fallen, zwischen konkurrierenden Hypothesen zu unterscheiden. Was vage und qualitativ ist, ist offen für viele Erklärungen. Natürlich müssen wir Wahrheit in den vielen qualitativen Themen suchen, mit denen wir uns konfrontieren müssen, aber diese zu finden ist herausfordernder.
7. Wenn es eine Kette von Argumenten gibt, muss jedes Glied der Kette funktionieren (die Prämisse miteingeschlossen) – nicht bloß die meistern davon.
8. Ockhams Messer. Diese geläufige Faustformel drängt uns dazu, die einfachere von zwei Hypothesen zu wählen, die die Daten gleichermaßen gut erklären.
9. Frage dich immer, ob die Hypothese zumindest im Prinzip falsifiziert werden kann. Annahmen, die nicht überprüft und falsifiziert werden können, haben nicht viel Wert. Bedenke die großartige Idee, dass unser Universum und alles in ihm nichts als ein Elementarteilchen ist – vielleicht ein Elektron – in einem viel größeren Kosmos. Aber wenn wir niemals Informationen von außerhalb des Universums erlangen können, ist dann die Idee nicht ungeeignet zur Widerlegung? Du musst in der Lage sein, Behauptungen zu überprüfen. Hartnäckige Skeptiker müssen die Chance haben, deinen Überlegungen nachzugehen, deine Experimente zu duplizieren und zu schauen, ob sie zum gleichen Resultat kommen.
(Link zur Quelle)
Der verantwortliche Umgang mit Erkenntnissen erfordert einen sorgfältigen Prozess der Wahrheitsfindung, der offen ist für die beständige Überprüfung. In „Zeiten wie diesen“, in denen die Beliebigkeit des Faktischen zynisch zelebriert wird, wo die Mächtigen ihre Macht zur Durchsetzung ihrer Interessen und Ansichten nutzen und sich dabei auf Fakten berufen, mutet es fast anachronistisch an, wie die Wissenschaften zu ihren Erkenntnissen kommen. Und dennoch ist das die einzig demokratische Form der Absicherung der Wahrheit und des Schutzes vor Manipulation.
Das Finden von Wahrheit ist kein einfacher Vorgang, es genügt nicht, kurz in den eigenen Kopf zu schauen, was der gerade von sich gibt, sondern wir müssen beständig die Hervorbringungen unseres Inneren mit der äußeren Realität abgleichen, mit der materiellen wie mit der sozialen Außenwelt. Und wir müssen uns beständig vor Augen halten, dass unser Wissen vorläufig ist, dass es solange gilt als es noch kein besseres Wissen gibt. Wir lernen weiter, von Erkenntnis zu Erkenntnis, und verbessern unsere Weltkenntnis, ohne auf diesem Weg je bei einer absoluten Wahrheit zu landen. Diese ist für Einsichten anderer Art reserviert.
Jeder, der in der relativen Welt mit dem Anspruch auftritt, die Wahrheit absolut zu setzen, braucht den engagierten Widerspruch und die unerbittliche Diskussion, bis die Relativität der Aussagen klargestellt ist.
Diktaturen beginnen mit der Definition der Wahrheit, also mit ihrer Zementierung und mit dem Unterbinden des Widerspruchs. Darin liegt der Grund, dass Diktaturen über kurz oder lang untergehen, weil sie die Wirklichkeit mit der eigenen Weltsicht verwechseln. Jedes Handeln, das sich von dieser Verwechslung leiten lässt, muss scheitern, weil die Wirklichkeit immer mächtiger ist als unsere Sichtweise von ihr.
Ein aktuelles Beispiel: Wir können die Meinung vertreten, dass es keinen Klimawandel gibt und dass dieser eine Erfindung von Interessensgegnern ist. Wenn wir unsere Handlungen danach ausrichten und konsequenterweise alle Aktivitäten zum Klimaschutz einstellen, werden wir irgendwann erkennen, dass die Wirklichkeit mehr und mehr Katastrophen produziert, gleich ob wir glauben, ob es einen Klimawandel gibt oder nicht.
Die redliche Wahrheitssuche ist mühsam und langwierig. Aber der Ertrag ist dauerhaft, haltbar und verlässlich. Da solches Wissen so nahe an der Realität ist, wie es zu einem bestimmten Zeitpunkt möglich ist, lassen sich darauf Handlungen gründen, mit denen die Wirklichkeit in eine gewünschte Richtung weiterentwickelt werden kann. Da das Wissen eine demokratische Struktur hat, also nicht ein Einzelbesitz ist oder auf Privatlegitimation gründet, unterliegt auch seine Verwendung für praktische Zwecke grundsätzlich einer demokratischen Willensbildung.
Solches Wissen entsteht aus einer Kommunikation zwischen dem erforschenden menschlichen Geist und der Wirklichkeit, und nicht in einer Projektion menschlicher Wünsche und Begierden auf sie. Die Wirklichkeit wird als Partner wahrgenommen, nicht als Objekt der Machtausübung.
Diese Art von Wissen erlangen wir nur, wenn wir uns der Herrschaft durch Emotionen entziehen. Viele Emotionen dienen unserem Egoismus, entstehen also aus dem Überlebensmodus. Sie sind nicht dafür geeignet, verlässliches Wissen zu finden, sondern stehen diesem Prozess im Weg. Emotionales Wissen ist nicht allgemeingültig und sozial wertvoll, es ist auch nicht dauerhaft, sondern gilt nur für den Moment seiner Entstehung.
Demokratisches Wissen, dessen Ursprung transparent ist und von jeder Person nachvollzogen werden kann, ist das einzige wirksame Gegenmittel gegen die grassierende Produktion von Schein- und Meinungswissen, die von Emotionen gesteuert wird, und bei der Fakten nichts mehr mit der Wirklichkeit zu tun haben, sondern bloße subjektive Behauptungen sind. Faktum im demokratischen Sinn ist das, was in einem offenen Prozess der Wissensproduktion aus der Wirklichkeit gefiltert wurde, damit es als sichere Basis für unsere Sichtweise der Welt, unser Handeln und unsere Wertsetzung dienen kann. Nur demokratisches Wissen ist dafür geeignet, unsere Möglichkeiten zur Verbesserung des Gemeinwohls zu erweitern.
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen