Samstag, 31. Dezember 2016

Spirituelle Wahrheit und Kritik

Wozu brauchen wir Kritik? Sollten wir nicht alles akzeptieren, so wie es ist? Sollten wir nicht aufhören mit dem Bewerten? Jede Kritik ist doch eine Bewertung, und meistens üben wir negative, also abwertende Kritik, wenn wir schon Kritik üben.

Hier geht es nicht um die Form der Kritik, die wir so gerne aneinander im tagtäglichen Umgang miteinander üben, nicht darum, was uns an anderen Menschen und ihren Verhaltensweisen nicht passt. Hier geht es um die Rolle der Kritik am Rand zwischen relativen und absoluten Wahrheiten, also um den Bereich, in dem sich die Ideologien - die relativen Wahrheiten, die sich als absolute ausgeben - tummeln. Gerade in diesem Feld ist es wichtig, über die Kraft der genauen Unterscheidung zu verfügen (griech: krinein=unterscheiden, teilen).

Kritik heißt in diesem Zusammenhang nicht, dass wir Phänomene nach bestimmten Kriterien betrachten und feststellen, ob und wieweit sie ihnen entsprechen: Wieweit entspricht der Weihnachtsstriezel meinem Geschmacksbild? Wieweit ist ein Artikel sprachlich und inhaltlich gelungen?

Kritik heißt hier, Aussagen nach ihrer logischen und erkenntnistheoretischen Konsistenz einem der beiden Bereiche zuzuordnen: dem Absoluten oder dem Relativen. Es geht also nicht um Besseres oder Schlechteres, wie bei einer Lokal- oder Biersortenkritik, sondern um die Überprüfung der Übereinstimmung von Aussage und Kontext. Es geht darum zu bestimmen, wohin die betreffende Aussage gehört, damit wir über eine klare Zuordnung verfügen.  Geprüft wird nicht die Qualität und der Inhalt der Aussage. Das wird von dieser Kritik als solche gar nicht bewertet, vielmehr wird die Herkunft der Information und ihr Ziel befragt.

Es handelt sich also um eine konstruktive Kritik, die jedem Wissen und jeder Erkenntnis den Platz gibt, an dem sie für Menschen sinnvoll, nutzbringend und wachstumsfördernd wirken können. 

Die Notwendigkeit der Kritik


Jede Aussage, die jemand über die tiefsten Zusammenhänge des Lebens trifft, muss einer solchen Prüfung unterzogen werden. Sie muss nach allen Seiten abgeklopft werden, um als tauglich angenommen werden zu können, oder, um zurückgelegt zu werden, wenn sie der Prüfung nicht standhält. Nur so kann sie auf die unterschiedlichen Perspektiven, die Menschen auf das Leben haben, eingestellt und bezogen werden. Und nur damit kann ein Stellenwert erreicht werden, der über den Ausdruck von subjektiven Befindlichkeiten und privaten Erleuchtungen hinausgeht.

Die kritische Prüfung öffnet spirituellen Aussagen den Zugang zur Öffentlichkeit, führt sie also aus der Isoliertheit individueller Erfahrungen heraus in die Sphäre des Diskurses, an dem im Prinzip alle Menschen teilhaben können.

Jeder Mensch verfügt aufgrund seiner Individualität und der damit verbundenen individuellen Wahrnehmung und Weltsicht über Filter- und Prüfsysteme, die jede Aussage nach verschiedenen Kriterien, die ebenfalls wieder sehr individuell ausgestattet sind, abklopft und dann entsprechend in den Kanon der eigenen Konzepte und Theorien aufnimmt oder sie generell verwirft. Kritik ist also auch die Abstimmung zwischen den Aussagen anderer und den eigenen Erfahrungs- und Bewertungssystemen. Sie kann auch als Prozess verstanden werden, in dem Äußeres und Fremdes nach einer  Überprüfung entweder assimiliert oder abgesondert wird.

Kritik findet in der Öffentlichkeit statt, sie lebt also im Medium des Diskurses. Es genügt nicht, wenn absolute Wahrheiten allein aus den Tiefen eines Individuums aufsteigen und dann für alle verbindlich sein sollen. Jede Wahrheit muss sich im Diskurs bewähren, und das Gleiche gilt für die Kritik. Sie muss sich beständig weiter entwickeln und ihre Instrumente schärfen. Dazu braucht sie die Auseinandersetzung mit anderen, Gleichgesinnten oder Andersdenkenden. Die Gültigkeit einer Kritik bemisst sich daran, wie sie im Raum der öffentlichen Auseinandersetzung selbst der kritischen Prüfung standhalten kann. Die Kritik an der Kritik ist also ein wichtiges Korrektiv für Subjektivismen und Extrapolationen, wie die Kritik der ersten Stufe Willkürlichkeiten bei ihrem Gegenstand, den Wahrheiten, aufzeigt.

Die Vermeidung der Kritik


Es ist das aus dem Relativen stammende und verdinglichte Absolute, das sich der Kritik entziehen will und damit die Überprüfung deiurch die Vernunft vermeiden will. Solche Scheinwahrheiten sind es, die die Menschen verwirren und gegeneinander aufhetzen. Wenn sich diese Konstrukte gegen die Kraft der Vernunft behaupten müssen, haben sie keine Vernunft-Argumente zur Hand, die zumindest einen Dialog im Fluss bringen ließen. Deshalb besteht die Reaktion in Versteifung und Abschottung gegenüber jeder Infragestellung. Statt dessen werden Überzeugungen und Glaubensappelle präsentiert, an der nicht gerüttelt werden kann und darf.

Alles, was dem Dialog und der kritischen Auseinandersetzung entzogen ist, wird zur Ideologie, und Ideologie beinhaltet tendenziell die Bereitschaft zur Gewalt, und bewegt sich damit diametral vom Absoluten weg. Es sind massive unbewusste Ängste, die den hinter diesen Konstrukten spürbaren Druck ausüben und zur Zerstörung jeder Infragestellung aufrufen.

Die Radikalität der Kritik


Der kritische Geist ist vom Wunsch nach Befreiung getragen, motiviert vom Ruf des Absoluten. Kritik fordert zur Radikalität heraus, an die Grenzen der Vernunft gehen und nicht vorher innehalten. Alles, was empirisch verstanden und erklärt werden kann, muss auf dieser Ebene verbleiben. Schlussfolgerungen, die daraus gezogen werden, müssen im Licht der Vernunft überprüft werden, sonst verbleiben sie im Subjektiven.

Die Radikalität der Kritik ist die Triebkraft, die aufs Absolute ausgerichtet ist. Das Absolute verträgt eben keine Kompromisse, und deshalb braucht es die Kritik als Instrument, um Halbheiten und menschliche Beschränktheiten aufzudecken und die Wahrheit davon zu reinigen.

Die Vernunftkritik ist getragen vom  Geist, Impuls und Schwung des Mutes. Sie ist schonungslos bereit, Sicherheiten aufzugeben und alles, was auftaucht, mit dem scharfen Licht der radikalen Unterscheidung zu prüfen. Vorurteilslos und bedingungslos muss sie an ihre Gegenstände herangehen und hinter sich lassen, was dem Maßstab nicht standhält. Sie scheut kein Risiko und lässt sich nicht von Drohungen einschüchtern. Institutionelle Macht und Gewalt können ihr nichts anhaben. Sie überlebt den Tod von kritischen Individuen, weil sie ihre Kraft aus der kollektiven Evolution schöpft.

Menschliches Wissen entwickelt sich, so, wie das Leben wächst. Das Medium dieser Entwicklung ist die dynamische Auseinandersetzung mit der Wirklichkeit und mit dem Wissen anderer. Wo diese Entwicklung eingedämmt wird, wo also das Wachstum des Wissens verhindert oder behindert wird, sind Ideologien im Spiel, starre Systeme mit Wissen, das im Dienst der Macht steht. Der kritische Geist ist unerlässlich für das Wachstum von Wissen, Erkenntnis und Wahrheit. Und dieses Wachstum ist das, was wir brauchen, um diese Welt zu einem besseren Platz für alles Lebendige zu machen.

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