Freitag, 9. Mai 2014

Die Weitergabe des Egos

Im letzten Blogbeitrag zum Thema “Ego” ging es um die Entstehungsbedingungen dieser geheimnisvollen und mächtigen Instanz in unserer Seelenlandschaft. Hier möchte ich genauer darauf eingehen, wie das Ego von unseren Vorfahren und unserer Umgebung geprägt werden kann. Wie schon erwähnt, gehe ich davon aus, dass das Ego als Folge von Traumatisierungen ausgebildet wird. Außerdem greift es darauf zurück, was es schon von Vorerfahrungen, die über die eigene Existenz hinausgehen können, mitträgt.

Wie wir gesehen haben, macht es schon in Bezug auf die pränatale Welt Sinn, von einem Ego zu sprechen und dieses von einem prozessualen Zustand zu unterscheiden, bei dem das Erleben unmittelbar mit dem Geschehen verbunden ist. Denn frühe Traumatisierungen können zu Abspaltungen von der Erfahrung des Fließens führen und damit die Schutzinstanz bilden, die wir Ego nennen.

Pränatale Ego-Entwicklung


Das menschliche Leben bildet sich aus einer Eizelle und einer Samenzelle. Diese beiden Keimzellen, die sich in einem wundersamen Moment vereinigen, kommen schon als voll beschriebene Textbücher zueinander, mit all den Geschichten von Vater und Mutter. In diesen Geschichten ist auch die jeweilige Entwicklung des Egos beschrieben, des väterlichen und des mütterlichen. Im Geschehen der Vereinigung bei der Befruchtung tragen diese Geschichten wesentlich zur Dramaturgie bei. Es gibt damit keinen "unschuldigen" Lebensanfang, denn jede Ego-Bildung ist mit einer Schuld verbunden, die in der Abtrennung von dem größeren Ganzen besteht. Es sind auch die Schuldgeschichten von Vater und Mutter, die von Anfang an das neue Leben prägen und die Muster bereit legen, innerhalb derer das neue Menschenwesen sein eigenes Ego aufbauen wird.

Dazu kommt noch, dass sich das neu entstehende Leben in einer imprägnierten Umgebung findet, die keine tabula rasa darstellt, keine unbeschriebene Landkarte. Vielmehr begegnet das Kind auch im Außen der gesamten Geschichte von Mutter und Vater, der geschriebenen und der ungeschriebenen. Überlegt z.B. die werdende Mutter auf Druck des Vaters, ob das Kind abgetrieben werden soll, so überträgt sich die Existenzbedrohung aus den Egos der beiden Elternteile voll auf das Kind. Es muss damit zurechtkommen, wenn es am Leben bleiben will und kann das nur, wenn es die eigenen Ego-Strukturen stärkt. Es muss vermeiden, auf das Leben als Ganzes zu vertrauen, das es in solche Bedrohungen bringt. Stattdessen baut es eine Abwehr auf, die von einem grundlegenden Misstrauen diesem Leben gegenüber geprägt ist.

Das kleinkindliche Ego


Wenn Kinder auf die Welt kommen, bringen sie schon einen großen Sack an Prägungen mit. Darunter finden sich auch die nährenden und stärkenden Erfahrungen aus dem unmittelbaren Fließen und Wachsen. Andere Erfahrungen stammen aus Bedrohungen und Irritationen, die eingebettet in die von den Eltern übernommenen Ego-Strukturen verarbeitet wurden.

Als Babys befinden sich die jungen Erdenbürger im günstigen Fall die meiste Zeit in einem organischen Fließen. Bedürfnisse treten auf, führen zu Unruhe, werden gestillt, und Ruhe kehrt wieder ein. Auf Anspannung folgt Entspannung, auf Phasen der Aktivität Perioden der Passivität. Dabei wächst das Kind und mit ihm die innerlich repräsentierte Wirklichkeit an Detailreichtum und Komplexität. Es lernt seine eigenen Bedürfnisse kennen und auf die der anderen Menschen Rücksicht zu nehmen. Es lernt die Objekte im Inneren und im Äußeren kennen und übt sich in den verschiedenen Ebenen der Kommunikation. Die Eltern oder Pflegepersonen spüren und erkennen die Bedürfnisse des Kindes und sorgen dafür, dass sie in angemessener Weise erwidert werden. Damit vertieft sich die Kommunikation, und auf beiden Seiten finden befriedigende Wachstumsprozesse statt.

Dieses organische Wachsen von Erfahrung wird dort unterbrochen, wo Bedürfnisse, deren Erfüllung das Kind zu seinem Überleben und Wachsen braucht, nicht oder nicht adäquat gestillt werden. Dazu kommt es, wenn die Erwachsenen den Kontakt zu ihrem eigenen organischen Erfahrungsprozess verlieren, wenn sie also von ihrem Ego gesteuert werden, weil sie gerade mit einem Aspekt ihrer Wirklichkeit nicht zurecht kommen.

Z.B. kann ein Kind aufgrund eines heftigen Bedürfnisses lautstark schreien. Die erwachsene Elternperson versucht das Kind zu beruhigen, jedoch ohne sofortigen Erfolg. Sie kommt damit unter Stress, der wahrscheinlich aus einer eigenen Erfahrung mit unerfüllten Bedürfnissen stammt. Der Stress der Mutter oder des Vaters steigert den Stress des Kindes, ein Teufelskreis entsteht.

Dabei engen sich sowohl beim Erwachsenen wie beim Kind Wahrnehmung und Kommunikation ein, weil ein Überlebensmechanismus in Gang gesetzt ist. Das Ego wird aktiviert und versucht nur mehr, sich selbst zu retten. Die Elternperson kann das Bedürfnis des Kindes nicht mehr spüren und findet damit auch keine angemessene Antwort darauf. So kommt weder die Frustration des Kindes noch die Frustration der Pflegeperson zur Lösung.

Letztendlich bleibt beiden, den Großen und den Kleinen, keine andere Wahl, als ihr eigenes Ego zu aktivieren und dieses um einen Funktionsmechanismus zu erweitern. Dem Baby ermöglicht dieses Notprogramm das Überleben in dieser frustrierenden und bedrohlichen Situation. In Zukunft wird es immer dann aktiviert, wenn ähnliche Situationen auftreten, z.B. bei einem eigenen schreienden Säugling.

Ego-Botschaften


Sobald Eltern und später Lehrer und andere wichtige Bezugspersonen aus ihrem Ego heraus reden und handeln, füttern sie das Ego ihrer Kinder. Typisch sind die folgenden Erziehungssätze, die aus dem Eltern-Ego stammen: “Ich weiß besser, was für dich gut ist." “Ich meine es nur gut mit dir." Das Ego des Kindes wird versuchen, diese Sätze zu integrieren, indem es z.B. einen komplementären Glaubenssatz bildet: “Ich weiß selber nicht, was für mich gut ist." “Andere müssen mir sagen, was mir hilft." “Ich darf meinem inneren Spüren nicht vertrauen." Es spaltet sich ab vom organischen Fließen des Lebens, stattdessen wird das Innenleben von Konzepten und Annahmen über die Welt gesteuert. Der Kontakt zu den eigenen Bedürfnissen, Interessen und Wünschen versiegt und wird ersetzt durch die Orientierung an den Erwartungen der anderen, zunächst der Eltern und dann anderer Instanzen der Gesellschaft.

Das „falsche Selbst“


Das innere Spüren, das Verstehen der eigenen organismischen Weisheit, das Vertrauen auf die eigene Intuition wird ersetzt durch ein „falsches Selbst“, durch ein Ersatzimage, durch eine sekundäre Charakterschicht, durch ein uneigentliches Leben. Die Folge ist ein latent wirksames Leiden an der eigenen Unwirklichkeit, das sich als perfektes Funktionieren in der Leistungsgesellschaft, als blendendes Auftreten vor Bewunderern oder als endlose Leidens- und Opfergeschichte tarnen kann.

Vergleichbar schleppt sich ein ego-dirigiertes Leben auf Krücken dahin, obwohl es frei gehen könnte. Es zieht seine Kraft nicht aus den eigenen inneren Quellen, sondern aus dem verzweifelten Bemühen, es irgendwem Recht zu machen, letztlich nämlich den selbst auferlegten, aber großteils unbewussten Idealen – wie man zu sein hätte, um ein gelungenes Leben zu führen. Die Anstrengung, ein solches Leben zu führen, endet früher oder später in der Erschöpfung, Depression, Burnout oder manifestiert sich in einer Erkrankung. Wir können uns nicht auf Dauer und endlos gegen uns selber, d.h. gegen das Leben, das in uns und durch uns fließen will, abstrampeln.

Wenn wir im Zustand der Erschöpfung innehalten, auf uns selber horchen, stoßen wir vielleicht auf den Schmerz, den es kostet, in innerer Zerrissenheit zu leben, und auf die Angst, die uns vom wirklichen Leben abhält. Wenn wir lange genug innehalten, meldet sich die Stimme in uns, die uns daran erinnert, wer wir wirklich sind und was unser Leben eigentlich mit uns im Sinn hat. In diesem Moment durchschauen wir das Spiel unseres Egos, auf das wir uns notgedrungen irgendwann eingelassen haben. Dann wächst die Bereitschaft, damit aufzuhören und auf die Suche nach der eigenen Authentizität zu gehen.

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