Was hat es mit Entscheidungen auf sich? Besteht unser ganzes Leben aus Entscheidungen? Können wir über unser Leben als Ganzes entscheiden?
Auf jeder Entwicklungs- und Erfahrungsebene finden Entscheidungen statt. So können wir uns vorstellen, dass schon ein einzelliges Lebewesen in bedrohliche Situationen kommt, in denen es entscheiden muss, ob es standhalten oder fliehen soll. Viele dieser Entscheidungen betreffen einfache Alternativen mit dem Charakter der Bedrohung oder der Anziehung. Es sind also Entscheidungen zwischen Kampf und Flucht oder zwischen Gut und Besser. Z.B. können sich zwei alternative Nahrungsquellen anbieten, und dazwischen ist eine Wahl zu treffen. Hier ist das Lebewesen von einem inneren Bedürfnis angetrieben, und die Entscheidung gibt die Richtung für die Befriedigung des Bedürfnisses vor.
Wir können annehmen, dass jede Lebensform über eine einfache Art der Selbstbezüglichkeit verfügt. Auch ganz primitive Organismen sollten in der Lage sein, sich auf die inneren Vorgänge eine Rückmeldung zu geben. In all diese Vorgänge sind Evaluierungen eingebaut, z.B. nach dem Muster: förderlich/gefährlich, angenehm/unangenehm, normal/außergewöhnlich usw. Vorgänge, die „positiv“ konnotiert sind, werden verstärkt, sollen also öfter stattfinden, die anderen sollen abgeschwächt werden. Was sich bewährt, wird wiederholt, was nicht funktioniert, wird abgestellt. Dazu sind Feedbackschleifen notwendig, die die Grundlage für das Gedächtnis bilden.
In der weiteren Entwicklung differenziert sich diese Rückbezüglichkeit. Je komplexer das Lebewesen, desto komplexer ist auch die Reflexionsfähigkeit, die es benötigt. Schließlich kann sie sprachlich ausgedrückt werden (vgl. den Blogbeitrag zur internen Kommunikation vom Jänner 2013). Im Normalfall unterstützt die Reflexion die Entscheidungen, die auf der organischen Ebene im Sinn der Weiterentwicklung des Lebens gefällt werden, also dem Wachstum und der Gesundheit dienen. Kommt es zu Fehlsteuerungen, die als Folge von Traumatisierungen auftreten, kann es auch bei der Rückbezüglichkeit zu Störungen kommen, sodass sie lebensschwächend wirkt. Die dem entsprechenden Gefühle sind: Hoffnungslosigkeit, Verzweiflung, Lebensmüdigkeit, die Gedankenmuster: Das Leben ist sinnlos, es wird nie besser, usw. Damit entwickeln sich „teuflische“ Regelkreise, die gerade jene Entscheidungen auf der Zellebene unterstützen, die zu Beschwerden und Problemen führen.
Esoterische Entscheidungsmodelle
In manchen Denkmodellen der Esoterik ist – in Anlehnung an hinduistische und buddhistische Lehren – die Rede davon, dass sich jede Seele vor ihrer Inkarnation für dieses neue Leben mit all seinen Details entscheide. Da sich die Seele vor der Inkarnation im körperlosen „Raum“ befinde, sei sie auch jenseits der Zeit und könne deshalb die eigene Zukunft schon voraussehen, für die sie sich entscheidet. Gewissermaßen können wir keine Katze im Sack kaufen.
Damit verbunden ist die Idee der Verantwortungsübernahme: Du hast dich entschieden für diese Eltern, für diese Familie, für dieses Leben, also löffle gefälligst die Suppe aus, die du dir eingebrockt hast, und hör auf zu jammern. Nachträgliche Reklamationen werden nicht angenommen. Der Konsumentenschutz ist also in jener anderen Welt noch nicht sehr weit entwickelt.
Unterstellt wird dabei ein voll entwickeltes Ego, das in diese körperlose Seele hineinprojiziert wird, eine Instanz, die Angenehmes und Unangenehmes bewerten, unterscheiden und über den Zeitraum eines ganzen Lebens bemessen kann und sich auf dieser Grundlage entschließt, die Reise zu wagen.
Dazu gehört übrigens auch die Vorstellung, dass diese Entscheidung, kaum ist sie getroffen, gleich wieder vergessen wird. Wir kommen also nicht auf die Welt mit diesem Wissen und lassen es auch nicht verlauten, sobald wir der Sprache mächtig sind. Erst ein erwachsenes Bewusstsein stößt auf diese Gedankenwelt und kann darin Sinn finden. Denn es kann ja eine gewisse Sicherheit bietet, annehmen zu können, über Kompetenzen zu verfügen, die mit einer derartigen Macht über das eigene Leben verbunden sind: Ich als entscheidungsbefugt über meine eigene körperliche Existenz: Sage ich nein, geht es zurück in die heiteren und unbeschwerten Bardoräume, sage ich ja, wird die Natur beauftragt, ein neues Leben entstehen zu lassen. Da komme ich schon nahe an den Schöpfergott heran. Und Ich dazu noch mit hellsichtigen Fähigkeiten ausgestattet, für die die Zukunft ein offenes Buch ist, in dem man nur blättern muss, wow!
Therapeutisch mag es in manchen Kontexten sinnvoll sein, jemanden daran zu erinnern, dass es sein Leben ist, mit dem er umgehen muss, und dass es keinen Sinn macht, darüber zu jammern. Dafür kann es möglicherweise auch nützlich sein, so zu tun, als gäbe es diese große Entscheidung für das eigene Leben am Beginn der Reise, eine wachrüttelnde und mahnende Hypothese gewissermaßen.
Die Verantwortungsübernahme mittels Rekurs auf eine präexistentielle Entscheidung funktioniert allerdings nur, wenn die entsprechenden esoterischen Glaubensannahmen geteilt werden, und das kann in Zeiten der Glaubens- und Religionsfreiheit nicht jeder Klientin zugemutet werden. Therapeuten sollten sich überhaupt hüten, irgendwelche Glaubensgehalte in der Therapie vorauszusetzen oder anzubieten und eher danach trachten, die Hintergründe in der Lebensgeschichte der Klienten zu erörtern, wenn sie mit solchen Themen und Interpretationen kommen.
Ego-Glaube
Zudem verleitet gerade dieser Glaube zur Stärkung von Egostrukturen, die sich auf dem weiteren therapeutischen Weg der inneren Heilung als hartnäckige Störungen entpuppen könnten, ohne als solche erkannt zu werden. Denn der Glaube vermeint ja, von einer echten Erfahrung auszugehen, glaubt also an eine Wirklichkeit und nicht an eine Konstruktion. Und solche „wirklichen“ Erfahrungen wollen wir am wenigsten aufgeben oder relativieren, weil wir sie mit der Basis unserer Identität verknüpfen, wie das eben Glaubensfanatiker mit den verschiedensten Inhalten machen.
Eine psycho-biologische Sichtweise
Für den Skeptiker schwierig vorzustellen bleibt der implizierte Wirklichkeitsbegriff: Eine körperlose Seele hat die Fähigkeit der Erkenntnis, verfügt über eine sinnliche Wahrnehmung, mit der sie die eigene Geschichte voraussehen kann, ohne dass es Sinnesorgane gibt, ohne dass es ein Gehirn gibt, das die Sinneseindrücke erst zu Wahrnehmungen macht. Einfacher ist es da schon, davon auszugehen, dass es sich um Phantasien handelt, die sich das erwachsene Bewusstsein über seinen Ursprung bildet, und dass es die Kraft des Glaubens ist, die diesen Phantasien einen Wirklichkeitscharakter umhängt. In unserer Phantasie sind wir frei, und wir können ihren Produkten nach Belieben (Placebo) Wirkmächtigkeit geben.
Wie ist es mit einer befruchteten Eizelle: Kann sie sich entscheiden, sich zu teilen? Kann das Ungeborene, wenn es schon weiter entwickelt ist und eine schreckliche Erfahrung erleben muss – z.B. ein Abtreibungsversuch oder der Tod eines Zwillinggeschwisters oder eine schwere Krankheit oder ein Unfall der Mutter – die Entscheidung treffen, unter solchen Umständen weiterzuleben oder aufzugeben?
Wir sollten davon ausgehen, dass Embryonen noch nicht über Fähigkeiten verfügen, wie sie ein erwachsener Mensch hat, der vielleicht in einer Verzweiflungssituation die Entscheidung trifft, sein Leben zu beenden. Weder haben sie diesen Überblick über sich und ihr Leben als Ganzes noch haben sie die Mittel, um ihrem Leben ein Ende zu bereiten. Und das ist auch gut so, sie brauchen diesen Reflexionsüberschuss nicht, vielmehr würde er sie an der Entwicklung hindern.
Es bildet zwar auf der Grundlage der erlebten Gefühle Denkmuster aus wie „Ich sollte nicht da sein“, wenn es spürt, dass es nicht gewollt ist, oder: „Ich möchte nicht mehr leben“, wenn es spürt, dass es abgetrieben werden soll, oder: „Alles hat keinen Sinn mehr“, wenn ein Zwillingsgeschwister im Mutterleib stirbt, aber – es kann nicht über sein eigenes Leben als Ganzes entscheiden, weil es dieses nicht überblicken kann.
Vielmehr gibt es die Kraft des Lebens, die stärker ist als die Gefühle und Denkmuster, die ja auch von ihr gespeist werden. Sie „entscheidet“ darüber, ob dieses Leben weiter oder zu Ende geht. Reichen die Ressourcen für das Überleben, so wächst der Embryo weiter, auch mit den lebensschwächenden Gefühls- und Denkprogrammen, sind die Ressourcen zu schwach, kommt es zum Absterben.
Therapeutische Zugänge
Therapeutisch wirksamer jedenfalls als den Appell an einer Verantwortung zu richten ist es, die Wurzeln von Verzweiflung und Leiden aufzuspüren und an ihren Ursprüngen aufzulösen; in diesem Fall geht es vermutlich um die Ereignisse im Rahmen der Empfängnis, bei der es zu Problemen gekommen ist. Solche traumatischen Erfahrungen erzeugen ihre spezifischen Dissoziationen, und diese werden dann später mittels der assoziativen Fähigkeiten unseres Gehirns „esoterisiert“, d.h. mittels Versatzstücken aus der Religionsgeschichte mit Sinn verkleidet. Die Glaubensform sichert das Weiterbestehen der Dissoziation und schützt vor dem Wiedererleben der Traumatisierung.
Die de-dissoziative Traumaauflösung beginnt dort, wo die innere Aufmerksamkeit konsequent auf die Körperebene zurückgeführt wird. Das Spüren der Empfindungen im eigenen Inneren befreit von den Verstrickungen der kognitiven Erklärungsmodelle und Meta-Erklärungsmodelle und führt an den Ursprung der Verstörung. Wenn dort das Traumatische an der Erfahrung aufgelöst ist, verschwindet auch die Notwendigkeit einer esoterischen Entscheidungstheorie.
Entscheidungsfreie Zustände
Wenn sich ein Organismus in einem Wachstumszustand befindet, der also von keinem inneren Drang oder äußerer Bedrohung abhängig ist, spielen Entscheidungen keine Rolle, sondern das Leben fließt einfach von einer Situation zur nächsten.
Wir können diesen Unterschied erleben, wenn wir uns selber im Fluss befinden, z.B. beim Spazierengehen, bei dem wir uns nicht entscheiden, einen Fuß vor den anderen zu setzen. Auch können wir die Richtung, in die wir uns bewegen, dem überlassen, was gerade kommt. Ähnlich können wir uns bei einem freien Tanz fühlen. Wir überlassen es dem Körper, die Bewegungen kommen zu lassen, die kommen wollen. Der Kopf mischt sich nicht ein und die Verbindung mit allem rund herum ist einfach da.
Sind wir mit unserer Kreativität verbunden, so gibt es eine Kraft, die stärker ist als unsere Kalkulationen oder Erwartungen. Ein Schritt der Verwirklichung eines Projekts führt zum nächsten, ohne dass wir vorher wissen müssen, worin er besteht. Es ist so, als würden wir von einer Entscheidung zur nächsten geführt, ohne dass es sein müsste, diese Entscheidungen überhaupt zu treffen oder ohne dass es jemanden geben müsste, der dies vollzieht.
Wer trifft die Entscheidungen?
Was bedeutet es, wenn wir die Natur oder das Leben samt dem ihnen innewohnenden Prinzip der Evolution als den eigentlichen Entscheidungsträger ansehen? Sie steuern auf faszinierende Weise die Entfaltung des Lebens mit einer erstaunlichen Kreativität. Warum das Leben so entscheidet, dass es das eine Wesen zur Blüte und das andere zum Verdorren bringt, verschließt sich solange, als wir in der Natur ein uns ähnliches Wesen suchen, bzw. eines, das unserer Ego-Struktur gleicht. Wir entscheiden uns doch für dieses und jenes, also muss auch die Natur so funktionieren. Wenn etwas Schlimmes passiert, muss es einen Täter geben, und dieser muss dingfest und verantwortlich gemacht werden.
Wenn nicht die Natur, dann gehen wir noch eine Ebene dahinter oder darüber und sehen Gott als den eigentlichen Entscheidungsmacher. Er (oder sie) misst dem Einen das große Glückslos zu, während der andere jede Woche brav den Schein ausfüllt und ein Leben lang nicht gewinnt. Und wenn er nicht in unserem Sinn entscheidet, hadern wir mit ihm, weil er doch der Letztverantwortliche ist für das, was uns zustößt, zumindest für das, wofür wir „nichts können“, d.h. wofür wir uns nicht verantwortlich fühlen.
Um vieles leichter geht uns, wenn wir gar nicht mehr wahrnehmen, dass wir uns entscheiden, sondern wenn einfach geschieht, was geschieht, ohne dass sich dieses wichtigtuerische Ich einmischt. Um so viel freier fühlen wir uns in der Erfahrung des Getragens- und Geführtwerdens, im Loslassen unserer Entscheidungslast. Oder? Wenn wir es dem Geschehen überlassen, was geschieht, ohne dass hier jemand mitentscheidet: Mit dem Leben fließen, statt es zu kontrollieren. Dann fühlen wir uns wie im Paradies – oder wie im Himmel.
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