Das Einatmen aktiviert unser Stresssystem (Sympathikus). Mit dem Ausatmen entspannen wir uns (Parasympathikus). Wenn wir diesen einfachen Rhythmus zulassen können, bleibt unser Organismus auf einer tiefen Ebene in Balance. Wird ein System zuungunsten des anderen überstrapaziert, kommt es zum Ungleichgewicht. In unserer Gesellschaft, die darauf angelegt ist, den Menschen immer mehr Leistung abzuverlangen, ist dieses Ungleichgewicht systemimmanent. Die Arbeitswelt ist vom Einatemmodus geprägt, für das Ausatmen ist die Freizeit vorgesehen. Doch die Kunst, die Leistungserwartungen abzuschalten, kaum schließt sich die Bürotür oder das Fabrikstor hinter dir, beherrschen nur wenige. Die Anspannung wirkt in die Freizeit hinein und nimmt ihr den Erholungscharakter.
Unser Organismus ist nicht darauf angelegt, in stundenlangen Zyklen voll auf Leistung eingestellt zu sein, ohne sich erholen zu können; um das durchzuhalten, muss er auf seine Ressourcen zurückgreifen. Die Freizeit dient dann vor allem dazu, die geplünderten Ressourcen nachzufüllen, die die Arbeit verschlungen hat. Die kreative Gestaltung unseres eigenen Lebens bleibt dabei auf der Strecke oder verkümmert zu einer Randerscheiung.
Auch mental spielt die Arbeitswelt bei den meisten Menschen in unserer Kultur die dominante Rolle: Was ist zu tun, was ist zu erledigen, was wird von mir erwartet, was muss ich erfüllen? Habe ich nichts vergessen, was zu tun ist? Und was, wenn ich doch etwas vergessen habe?
Um diese Themen kreisen die Gedanken des außengesteuerten Einatem-Menschen (Unerledigtes aus der Vergangenheit quält ebenso wie Sorgenvolles im Vorausblick auf die Zukunft). Das zwanghafte Denken sorgt dafür, dass das Anspannungssystem daueraktiv bleibt. Es bringt die Atmung dazu, dass das Augenmerk nur auf dem Einatmen liegt und die Ausatmung vernachlässigt wird, bzw. nur als Brücke zum Einatmen genutzt wird, sodass sie unter Druck geschieht. Damit wird der Ausatmung ihre Entspannungsfunktion genommen. Das bildet den Einatemtyp, wie er oben charakterisiert wurde, maßgeschneidert für die ressourcenverschleudernde materialistische Gesellschaft und Kultur.
Ausatmen bedeutet Hingabe
In der Ausatmung entspannt sich die Muskulatur, wir geben Energie ab und sinken nach innen. Wir geben die Kontrolle ab und sind verwundbar, sei es auch nur für einen Moment. Wir geben uns dem hin, was gerade ist, werden rezeptiv, offen für Eindrücke. Das Wahrnehmungsfeld nach außen und nach innen weitet sich.
In der Ausatmung finden wir zur Kreativität. Denn sobald wir die Außenwelt nicht mehr überwachen, kommt sie mit ihren Ideen auf uns zu. Zugleich meldet sich unser Inneres mit dem, was sich schon immer mitteilen wollte. Wir laden Neues ein und können mit dem nächsten Einatem die Energie zur Umsetzung und Verwirklichung tanken.
Wie wäre es mit einer Ausatemgesellschaft?
Kommt die Ausatmung vor der Einatmung, also liegt das Schwergewicht bei ihr, dann sind wir zuerst rezeptiv, bevor wir aktiv werden. Wir geben dem, was von außen und von innen kommt, die erste Beachtung. Die Einatmung dient zur Unterstützung dessen, was im Ausatem zu uns kommt, und gibt uns die Kraft zum Weitertragen und Weiterentwickeln der Ideen.
In einer Ausatemgesellschaft steht also nicht die Leistung und die Kontrolle an erster Stelle, sondern das Hinhören und Lauschen. Wir hängen weder in der Vergangenheit fest mit unseren Zweifeln und Rechtfertigungen, noch nehmen wir die Zukunft in unseren Sorgen vorweg, sondern wir können uns besser auf den Moment und seine Erfordernisse und Möglichkeiten ausrichten. Unsere Handlungen entspringen nicht dem Druck der äußeren und inneren Erwartungen, sondern aus der Entspannung.
Dazu müssen wir die Ausatmung erst erlernen. Konfuzius hat geschrieben, dass das erste, was der Mensch lernen muss, das Atmen ist. Wir müssen heute, 2 500 Jahre später, sagen, dass das erste, was wir moderne Menschen lernen müssen, das Ausatmen ist. Wir haben uns angewöhnt, das Ausatmen als Überbrückung oder Verlängerung des Einatmens zu nehmen, und atmen deshalb unter Druck aus, so als wollten wir die Luft aus den Lungen pressen.
Wenn wir statt dessen beim Ausatmen die Luft freilassen, indem wir die gesamte, an der Atmung beteiligte Muskulatur entspannen, erleben wir, wie die Atemluft uns von selber verlässt, ohne dass wir etwas tun müssen. Wir erleben, was geschieht, wenn wir zulassen, was von sich aus geschehen will, und wie wir dabei präsent sein können.
Wir kehren die Richtung um: Wir reagieren nicht mehr nur auf die Probleme, vor die uns die Welt stellt, sondern spüren nach, welche Welt wir gerne haben möchten und lassen auf uns zukommen, was wir dafür tun können. Wir üben uns im Vertrauen, wie wir, wenn wir uns dem Ausatem hingeben, in ihm vertrauen, dass der Einatmen von selber wieder kommen wird und damit der Zyklus des Lebens weiterfließt.
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