Donnerstag, 31. Januar 2013

Vom Anfang und vom Ende des Erklärens

Aus diesem innersten Grund sollst du alle deine Werke wirken ohne Warum. Ich sage fürwahr: Solange du deine Werke wirkst um des Himmelreiches oder um Gottes oder um deiner ewigen Seligkeit willen, also von außen her, so ist es wahrlich nicht recht um dich bestellt. Man mag dich zwar wohl hinnehmen, aber das Beste ist es doch nicht. Denn wahrlich, wenn einer wähnt, in Innerlichkeit, Andacht, süßer Verzücktheit und in besonderer Begnadung Gottes mehr zu bekommen als beim Herdfeuer oder im Stalle, so tust du nicht anders, als ob du Gott nähmest, wändest ihm einen Mantel um das Haupt und schöbest ihn unter eine Bank. Denn wer Gott in einer (bestimmten) Weise sucht, der nimmt die Weise und verfehlt Gott, der in der Weise verborgen ist. Wer aber Gott ohne Weise sucht, der erfasst ihn, wie er in sich selbst ist; und ein solcher Mensch lebt mit dem Sohne, und er ist das Leben selbst. Wer das Leben fragte tausend Jahre lang: ‚Warum lebst du?‘ – könnte es antworten, es spräche nichts anderes als: ‚Ich lebe darum, dass ich lebe.‘ Das kommt daher, weil das Leben aus seinem eigenen Grunde lebt und aus seinem Eigenen quillt; darum lebt es ohne Warum eben darin, dass es (für) sich selbst lebt. Wer nun einen wahrhaftigen Menschen, der aus seinem eigenen Grunde wirkt, fragte: ‚Warum wirkst du deine Werke?‘ – sollte er recht antworten, er spräche nichts anderes als: ‚Ich wirke darum, dass ich wirke.‘ (Meister Eckhart)


Warum hast du mich nicht angerufen? Warum werde ich gerade dann kontrolliert, wenn ich den Fahrschein vergessen habe? Warum habe ich den Zug versäumt? Warum ist X so unfreundlich, wo ich doch immer so entgegenkommend bin? Warum ist überhaupt etwas und nicht vielmehr nichts?


Kaum stört etwas unser Gleichgewicht, fragen wir nach der Erklärung. Wir rechnen damit, wenn wir den Grund der Störung erfahren, dass sich das Gleichgewicht wieder herstellt. „Ich konnte gestern nicht anrufen, weil das Telefon kaputt war.“ Die quälende Frage kann abgelegt und vergessen werden. Der Zyklus schließt sich, die Unklarheit legt sich, das Leben geht weiter bis zur nächsten Störung.


Wenn wir das Licht dieser Welt erblicken, wundern wir uns und staunen. Wir werden nicht als erklärungssüchtige Wesen geboren. Wir suchen keine Erklärung für das, was sich da ereignet und was sich uns zeigt. Wir fließen mit dem, was sich ereignet, im Inneren wie im Äußeren. Mal ist es angenehm, dann wieder unangenehm. 


Erst nach und nach legt sich über dieses Fließen eine Schicht des Bewusstseins drüber, die mit dem Erwachen des Zeitbegriffs entsteht. Es werden jetzt Zusammenhänge gesucht: Was war vor dem, was jetzt passiert ist? Hierfür ist die linke Gehirnhälfte zuständig. Sie liebt das Denken in Ursache-Wirkungsrelationen, während die rechte Gehirnhälfte, die in den ersten Lebensjahren noch aktiver war, gewohnt ist, in Ganzheiten zu denken. 


Mehr und mehr übernimmt diese sequentielle Form, die Wirklichkeit wahrzunehmen. Der Zeitbegriff wird vollständig linear, und so fällt es leicht, die Welt als ein Gefüge von Ursache- Wirkungszusammenhängen zu verstehen. Damit muss es für alles, was es gibt, eine Erklärung geben. Hinter jedem Geschehen verbirgt sich eine Ursache. 


Der Erfolg der Technik, die so viel zur Bequemlichkeit unseres modernen Lebens beigetragen hat, liegt in der Erforschung dieser Zusammenhänge. So bekommen wir zunehmend das Gefühl, mittels erklärbarer Prozesse die Welt zu kontrollieren und zu beherrschen. Für alles, was sich dieser Beherrschung zu entziehen vermag, fordern wir eine Erklärung ein.


Ein Beispiel vom Spielplatz: Zwei Kindergartenkinder geraten in Streit. Das eine schreit das andere an: „Wenn du mir das nicht zurückgibst, dann hau ich dich, dann reiß ich dir die Haare aus, dann …. dann erkläre ich es dir!!!“ Die schlimmste Strafe ist eine Erklärung, gegen die es keinen Einwand mehr gibt. (Aus einem Buch über Kindheitspsychologie)



Frei vom Erklären


Wenn es um Menschen, ihre Motive und Handlungen geht, stößt diese Denkweise an Grenzen. Oft handeln wir „spontan“, ohne für uns selber einsehbare Ursache machen wir etwas anders als wir es sonst tun. Natürlich versuchen wir, für uns selbst und für unsere Mitmenschen „berechenbar“ zu sein, indem wir Vereinbarungen einhalten und unsere Werthaltungen nicht jeden Tag ändern. Aber wir schätzen Bereiche, in denen wir kreativ sein und Neues erproben können. Beim Tanzen z.B. macht es keinen Sinn, eine Bewegung aus der vorigen zu erklären, sondern wir genießen das Fließen von einem Moment zum nächsten und lassen uns mehr von den Bewegungen leiten, wie sie kommen, als dass wir diese leiten.

Erklärungsfreie Räume haben einen besonderen Reiz und geben uns ein Gefühl der Freiheit und des Selbstvollzugs. Wir erleben unsere Individualität dann am intensivsten, wenn wir uns selbst nicht berechnen und erklären können. Anderen aus dieser Haltung zu begegnen, ist auch lohnend, weil wir präsenter im Moment und in der Begegnung sein können.



Das Ende des Warum


Meister Eckhart macht uns darauf aufmerksam, wie sehr uns die Warum-Frage zu Antworten verleitet, die uns nicht weiterbringen. Denn sie binden uns an ein bestimmtes Gottesbild, das der Wirklichkeitserfahrung der Erklärungswelt entspricht. Der berechenbare Gott gibt uns zurück, was wir eingebracht haben, wie der Schalterbeamte bei der Bank, plus Zinsen. Wenn ich diese vorgeschriebenen Rituale verrichte, werde ich meinen Anteil an der Gnade bekommen. Deshalb verrichte ich die Rituale und erwarte mir die entsprechende Konsequenz.

Der Sinn dessen, was ich tue, liegt außerhalb von mir und ist so fix vorgegeben wie die Gesetzmäßigkeiten der Naturwissenschaften. Ich gewinne zwar die Sicherheit, die in der unumstößlichen Erklärung liegt, verliere aber die Verbindung mit dem, was ich eigentlich suche:  „Denn wer Gott in einer (bestimmten) Weise sucht, der nimmt die Weise und verfehlt Gott, der in der Weise verborgen ist.“


Will ich die größere Weisheit finden, muss ich die Frage nach dem Warum aufgeben und meinen ängstlichen Verstand bitten, beiseite zu treten. Es ist, wie es ist, mehr gibt es letztlich nicht zu sagen. Dinge geschehen, wie sie geschehen, Menschen handeln, wie sie handeln. Was für eine Entspannung, wenn ich einfach sagen kann: „Ich lebe darum, dass ich lebe.“

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