Montag, 21. Januar 2013

Was ist schon wissenschaftlich?

Unsere Wahrnehmungen und Einstellungen sind durchtränkt von der naturwissenschaftlichen Weltsicht, die ich der materialistischen Bewusstseinsebene zurechne. Das rührt daher, dass diese Sichtweise eine große Verlässlichkeit verspricht. Sie hat sich auf „Immer wenn-Dann“-Zusammenhänge spezialisiert. Sie will Gesetzmäßigkeiten herausfinden, die durchgängig und zuverlässig gelten, ohne Abhängigkeit von den jeweiligen Umständen. Ein Stein muss immer zu Boden fallen, wenn wir ihn loslassen. Die Erde muss immer um die Sonne kreisen, täte sie das einmal nicht, muss sofort eine neue Gesetzmäßigkeit herausgefunden werden, die diesen Irrweg als Notwendigkeit bestätigt.


Diese große Sicherheit, die uns das naturwissenschaftliche Denken vermittelt, macht sie so attraktiv und wir nehmen sie als den Maßstab von Wahrheit überhaupt. Wir wissen zwar, dass die Naturwissenschaften Randbereiche hat, wo ihr eigenes Weltbild nicht mehr taugt, wie in der Quantenphysik, aber deren Eigentümlichkeiten stellen das riesige Feld an Forschungsergebnissen nicht in Frage, die eine große Eindeutigkeit aufweisen. Schließlich beruht die ganze Welt der Technik, die uns umgibt, erfreut und ärgert, je nach dem, auf diesen Zuverlässigkeiten. Deshalb sind wir auch sehr ungehalten, wenn einmal etwas nicht funktioniert, wenn das Handy keinen Empfang hat oder der Computer abstürzt und der Fernseher keine Bilder, sondern nur Flimmern liefert. Allerdings hat sich in diesen Fällen nur eine andere Gesetzmäßigkeit eingemischt und die von uns erwarteten Abläufe unterbrochen. Jede Störung muss genau so sein, wie sie ist, und die Welt erscheint als lückenlos abgesichert und berechenbar.

Wenn da der Mensch nicht wäre… Denn dieser macht der Welt der Kausalitäten einen dicken Strich durch die Rechnung, mit seiner Unzuverlässigkeit und Unberechenbarkeit. Er gerät in Stress, trifft eine Fehlentscheidung, und eine Katastrophe wird ausgelöst wie im AKW Tschernobyl – eine Kette von menschlichem Versagen, und die Technologie, die alle Naturwissenschaftler als sicher propagiert haben, verursacht massive und langdauernde Zerstörungen und fordert Tausende Menschenleben. Die Kernreaktoren haben sich genau an die naturwissenschaftlichen Gesetze gehalten, es waren Menschen, die die falschen Knöpfe gedrückt haben.

Also haben wir zwei Wirklichkeiten, mit denen wir leben müssen: Einerseits die von den Naturwissenschaften ausgerechnete Welt mit ihren eindeutigen Immer-Wenn-Dann-Gesetzen, und andererseits die Welt der Kommunikation. Ich habe schon in zwei Blogbeiträgen über die organische und die universelle Kommunikation geschrieben und die Meinung vertreten, dass es keine Objektwelt ohne Kommunikation gibt.

Das bedeutet, dass all die Gegenstände, die die Naturwissenschaft untersucht, eine Rückseite haben, die nicht naturwissenschaftlich funktioniert, sondern nach den Eigenheiten der Kommunikation. Und hier zeigt das ziemliche Gegenteil der Welt der Berechenbarkeit: Spontaneität, Chaotik, Kreativität, Überraschung.

Kommunikation lebt von der Unberechenbarkeit. Wenn ich sowieso schon wüsste, was mein Gegenüber sagen wird, brauche ich gar nicht erst anzufangen zu reden.

 

Anorganische Kommunikation


Von dort aus betrachtet, haben die Naturwissenschaften nur eingefahrene Kommunikationsmuster erforscht. Sie sind deshalb so erfolgreich und überzeugend, weil sie die primitivste Form der Kommunikation erforschen. Denn die anorganische Welt ist sehr einfach aufgebaut, und so sind auch die kommunikativen Abläufe, die in ihr wirken, so einfach, dass sie leicht durchschaut werden können.

Die Erde sagt zum Stein, komm herunter zu mir, und er fällt. Beide finden, dass es so stimmt. Die Erde sagt nie etwas anderes zu schweren Gegenständen und die Gegenstände widersprechen nie, also bestätigt sich das Gesetz immer. Warum sollte der Planet auch etwas anderes kommunizieren? Es funktioniert ja bestens und hat dafür gesorgt, dass er seit Milliarden Jahren einen recht soliden Bestand hat. Er braucht auch in diesem Bereich keine Kreativität und keine Freiheit, sonst würde das Sonnensystem sofort auseinanderfallen. Vermutlich weiß er das, und bescheidet sich deshalb mit dieser Einfachheit seines Seins. So spielt er mit im eher eintönigen Konzert der anderen Planeten unter dem Kommando der Sonne und zieht locker und gemütlich seine Bahnen, wie seit Ewigkeiten schon.

 

Die Gesprächskultur der Pflanzen


Sobald Leben entsteht, entsteht eine komplexere Kommunikation. Eine komplexere Kommunikation braucht einen größeren Wortschatz, neue grammatische und syntaktische Formen und  Übersetzungsregeln. Pflanzen müssen eine reichhaltigere interne und externe Gesprächskultur haben als Steine oder Wassermoleküle. Sie müssen nämlich die Sprache der Mineralien beherrschen, weil sie diese in ihr inneres System integrieren müssen, ebenso wie die des Wassers und der Sonne, der Sauerstoff- und Kohlendioxidteilchen ebenso wie die der sie umgebenden anderen Pflanzen. Mit dieser Sprachfähigkeit bewältigen sie die Aufgabe der Photosynthese, steuern ihr Wachstum und passen sich an geänderte Verhältnisse an. Sie machen das in unterschiedlicher Weise, somit entwickelt sich keine Pflanze identisch wie eine andere. Pflanzen haben schon eine ausgeprägte Individualität.

 

Der Mensch und die Wissenschaft


Noch deutlicher wird dieser Trend zur Steigerung der kommunikativen Komplexität bei den Tieren und erst recht bei den Menschen, die die verbale Sprache erfinden, um ihr aufwändiges Sozialleben gestalten zu können.

Mit Hilfe dieser Sprachfähigkeiten, für die sie ein hochentwickeltes Gehirn brauchen, wächst das enorme Potenzial an Kreativität, das die Menschen schließlich auch die Wissenschaften entdecken lässt. Und deren Erkenntnisse faszinieren sie so, dass sie sich ihnen beinahe bedingungslos verschreiben.
 

Unter dem Einfluss der Aufklärung, die zunehmend die Gehirne der modernen Menschen imprägniert hat, kommt es zu einer folgenschweren Zweiteilung im Verständnis der Wahrheit. Nun werden auf strahlendem Podest die sicheren Erkenntnisse der Wissenschaften präsentiert, auf denen zunehmend die Gesellschaft aufbaut und die als Richtschnur für politische Entscheidungen genommen werden, und alles andere ist Meinung. Meinung ist subjektiv und jederzeit änderbar und kann deshalb nicht als verbindliche Grundlage für eine gemeinsame Willensbildung dienen.

 

Zur Eigenart kommunikativer Erkenntnis


Wenn wir wissenschaftliche Forschung betreiben, suchen wir mittels verobjektivierter, messbarer Wahrnehmung und standardisiertem logischem Denken Einsichten zu erlangen, die jeder andere Mensch genauso nachvollziehen kann. Somit hat sie jeder als gültig anzuerkennen. Es gilt dann für alle: Wenn A passiert, wird B passieren. Wer etwas anderes behauptet, stellt sich außerhalb der Gesellschaft.

Wenn wir kommunizieren, passiert meistens etwas anderes, als wir erwarten. Wir reden einesteils, damit sich unsere Erwartungen bestätigen. Wenn wir z.B. einen Befehl erteilen, wollen wir, dass er befolgt wird oder wenn wir die „absolut richtige“ Ansicht haben, wollen wir, dass uns die anderen Recht geben.

Andernteils, und das zeigt uns die Grundform der Kommunikation viel deutlicher, führen wir Gespräche, damit sich unsere Erwartungen nicht bestätigen. Wir wollen etwas Neues erfahren, wenn wir jemanden fragen, was er zu diesem oder jenem Thema meint. Wenn er das Gleiche sagt, was wir denken, fühlen wir uns vielleicht bestätigt, aber es würde uns auf Dauer fad, wenn unser Gesprächspartner immer zustimmt, und dazu noch genau in der Form, wie wir es erwarten. Als anregend empfinden wir Gespräche, wenn wir von der Antwort überrascht werden, und dann von unserer eigenen Reaktion überrascht werden, weil sie etwas enthält, was wir uns vorher noch nie gedacht hatten. Es passiert etwas Unvorhersehbares, etwas Unberechenbares, und das ist typisch für die Welt der Kommunikation.

So sind z.B. die Gedanken für diesen Blogbeitrag in einem Supervisionsgespräch entstanden. Sie wären wohl ohne die Anregungen aus diesem Gespräch so nie gedacht und geschrieben worden.

Es ist wie bei einem Spiel: Wenn wir beim Kartenspiel immer die gleichen Karten bekämen, würde das Spiel sofort seinen Reiz verlieren. Wenn der Partner einer Schachpartie immer genau die Züge machen würde, die ich vorausdenke, würde ich bald die Lust verlieren, mit ihm zu spielen.

Diesen Wesenszug der Kommunikation zu verstehen, erfordert ein Stück des systemischen Bewusstseins: Gespräche laufen dann gut, wenn niemand das Gespräch beherrscht, sondern wenn es das Gespräch ist, das die Gesprächspartner in Bann zieht. Das Gespräch führt die Sprecher.

Friedrich Hölderlin hat geschrieben, dass „ein Gespräch wir sind.“ Damit kann er gemeint haben, dass Menschsein Gespräch-Sein heißt. Wir führen also nicht bloß ab und zu Gespräche, sondern wir bewegen uns permanent in einem kommunikativen Netz, in das wir eingebunden sind, ob wir das wollen oder nicht. In diesem Netz sind wir die Mitspieler, die sich Regeln unterwerfen müssen, die schon vorgegeben sind. Eine dieser Regeln ist, dass kein Mitspieler die Kontrolle über die Regeln übernehmen kann. Somit bleiben alle Mitspieler voneinander abhängig und aufeinander bezogen, und das Geschehen in diesem Netz bleibt unberechenbar und unvorhersehbar, chaotisch und riskant.

 

Wissenschaft und Kontrolle


Möglicherweise sind die Menschen nur deshalb auf die Idee der Wissenschaften gestoßen, weil sie unter den Unwägbarkeiten der Natur gelitten haben. Wie können wir die Natur unserer Kontrolle unterwerfen, sodass sie unseren Erwartungen entspricht? Wie können wir der Natur einen unbedingten Gehorsam abnötigen? Indem wir ihre Sprache lernen und sie damit so manipulieren können, dass sie unseren Zwecken dient, ohne Widerrede. Das ist das Programm der Naturbeherrschung, der biblische Auftrag an die Menschen, sich die Erde untertan zu machen.

Hinter diesem Herrschaftsprogramm, zu dem die Menschheit aufgebrochen ist und an das sie immer noch glaubt, stecken Ängste und Sehnsüchte, diese Ängste ein für alle Mal und mit absoluter Sicherheit zu bannen. Niemals mehr soll mir ein Gewitter etwas anhaben können oder die winterliche Kälte oder der Hunger.

Schon oft wurde in diesem Blog Rolle der Angst erwähnt. Angst kommt von Enge – Angst treibt an und mobilisiert Energien. Angst beschränkt aber auch unsere Möglichkeiten und verengt unser Blickfeld. Die Angst fordert uns dazu heraus, die Umgebung zu kontrollieren, also darauf zu achten, dass nichts Überraschendes passiert, was potenziell immer gefährlich sein könnte. Wir suchen Eindeutigkeiten und Zuverlässiges. Wir werden unwirsch, wenn unsere Erwartungen enttäuscht werden, weil es uns verunsichert.

Da kommt uns die Naturwissenschaft mit ihren gesetzmäßigen Aussagen zu Hilfe. Auf solche Erkenntnisse ist Verlass. Alles, was jedoch aus der kommunikativen Ecke kommt, ist riskant und muss gemieden werden.

Angst verödet jedoch die kommunikative Landschaft. Unter ihrem oft subtilen Einfluss werden die Gespräche flach. Misstrauen schleicht sich ein. Der Fluss versiegt, es kommt zu Missverständnissen und Irritationen. Die Ideen versiegen, und die Worte gehen im Kreis, statt neue Tore zu öffnen.

 

Die kommunikative Spielwiese


Deshalb wäre es an der Zeit, dem wissenschaftlichen Denken den Platz zu geben, der ihm gebührt, einen wichtigen und respektablen, aber keinen universell gültigen. Gleichrangig neben ihm braucht die Welt der Kommunikation eine große Spielwiese, in der es keine starren Regeln und Gesetzmäßigkeiten geben darf, sondern auf der die Welt in jedem Moment neu erfunden und gestaltet werden darf.

Wenn wir dem Leben eine Richtung in die Freiheit und ins Erwachen zur Schönheit und zum Reichtum dessen, was ist, geben wollen, dann sollten wir immer wieder den Weg aus den Ängsten und Kontrollsüchten finden. Dann zeigt sich das Leben zeigt sich uns als diese bunte Mischung voll von Verlässlichkeiten und Überraschungen, von bestätigten und enttäuschten Erwartungen, von Routine und Spontaneität.

 

Friedrich Hölderlin: Friedensfeier (Auszug)

Viel hat von Morgen an,
Seit ein Gespräch wir sind und hören voneinander,
Erfahren der Mensch; bald sind wir aber Gesang.
Und das Zeitbild, das der große Geist entfaltet,
Ein Zeichen liegts vor uns, dass zwischen ihm und andern
Ein Bündnis zwischen ihm und andern Mächten ist.
Nicht er allein, die Unerzeugten, Ewgen
Sind kennbar alle daran, gleichwie auch an den Pflanzen
Die Mutter Erde sich und Licht und Luft sich kennet.
Zuletzt ist aber doch, ihr heiligen Mächte, für euch
Das Liebeszeichen, das Zeugnis
Dass ihr noch seiet, der Festtag.

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