Eine Variante der Frage nach dem Guten und dem
Bösen (vgl. Blogeintrag vom 14.10.2012) ist die, ob der Eigensinn dem Menschen
angeboren und innewohnend ist oder ob die eigentlichen Anlagen des Menschen auf
Kooperation und Verständigung mit den Mitmenschen angelegt sind.
Manche Menschen vertreten die eine Ansicht,
manche die andere – und wieder anderen ist es egal. Ist es von Belang, ob wir
„den Menschen“ als selbstsüchtig oder als altruistisch bestimmen oder nur eine
rein akademische philosophische Frage? Ist es eine persönliche
Grundentscheidung, die wir treffen, wenn wir uns auf das eine oder auf das
andere festlegen? Oder hat es damit zu tun, ob wir eher pessimistisch oder
optimistisch eingestellt sind? Oder hat es zu tun mit der Art, wie wir unser
eigenes Leben wahrnehmen, ob wir uns auf unsere Erfahrungen als Opfer von
Egoismen fokussieren oder auf wohltuende soziale Erfahrungen? Prägt es uns in
unseren Handlungen, indem wir skrupelloser sind, wenn wir annehmen, dass alle
anderen im Grund auch so sind?
Ich denke, dass das Menschenbild, das wir in uns
pflegen, Auswirkungen hat auf unsere Einstellungen, unser Handeln und unser
Weiterkommen im Leben, vor allem wenn wir das innere Wachstum auch als
spirituelle Entwicklung verstehen. Sehen wir uns selber primär als Egoisten,
hat das zur Folge, dass jede mitmenschliche Handlung eine Überwindung dieser
primären Anlage darstellt. Wir brauchen die Willenskraft, um uns aus den
Fesseln dieser Naturanlage zu befreien und schweben immer in der Gefahr,
zurückzufallen. Wir müssen uns zum Guten zwingen, während uns das egoistische
Handeln ohne Anstrengung und Rücksicht von der Hand geht.
Ich gehe davon aus, dass der Mensch, wie die anderen höheren Säugetiere, von seiner Grundanlage ein soziales Wesen ist, das von vornherein auf das Zusammen- und Überleben in der Gemeinschaft angelegt ist. Dazu brauchen wir dominante soziale Motive, die unser Erleben und Handeln steuern und mit den Menschen um uns herum abstimmen. Viele davon laufen unbewusst ab, wie z.B. das Ablesen der Körpersprache von anderen Menschen. Wir verfügen über Spiegelneurone, die uns laufend mit Informationen versorgen, was in den Menschen um uns herum vorgeht, sodass wir unser Handeln danach ausrichten können.
Unsere Vorfahren, die über Hundertausende von Jahren in einfach aufgebauten Stämmen das Leben weitergegeben haben, hatten überhaupt nicht die Wahl zu überlegen: Na geh ich in einen Stamm und bin da nett zu den Leuten, weil es mir Vorteile bringt, oder bleibe ich lieber für mich. Singlewohnungen waren nicht vorhanden.
Egoismus ist eine Stressreaktion
Diese soziale Grundorientierung wird nur außer Kraft gesetzt, wenn wir in Bedrohungssituationen geraten und mit Angst konfrontiert sind. Dann werden die Fähigkeiten zum "guten Handeln" stillgelegt, wie wir aus der Polyvagaltheorie wissen. Der Stressmodus bedient sich des Sympathicus, und dieser kennt nur die Alternative von Kampf oder Flucht, weil er sich für die Sicherung des Überlebens zuständig fühlt. In diesen Zuständen erleben wir andere Menschen als Einschränkung und Bedrohung, und wir werden egoistisch. Ich muss meine Interessen sichern, sonst gehe ich unter, wie es anderen dabei geht, ist mir egal. Ebenso wissen wir, dass unsere Spiegelneurone nur im entspannten Zustand arbeiten, die uns ermöglichen, mitzuspüren, was in anderen Menschen gerade geschieht.Wir sind von Natur aus bestens dafür ausgerüstet, uns einfühlend und kooperativ zu verhalten. Wenn wir aber durch fortgesetzte Stresserfahrungen und Traumatisierungen den Zugang zu diesen Fähigkeiten verloren haben, kann uns das egoistische Handeln wie eine Selbstverständlichkeit erscheinen, und das soziale Handeln wird dann abhängig von einer bewussten Willensentscheidung, von Disziplin und fortgesetzter Anstrengung in der Überwindung der „ursprünglichen“, in Wirklichkeit aber angelernten Impulse.
Wenn wir uns jedoch in einem entspannten inneren Gleichgewicht befinden, handeln wir so, wie das klassisch als "gut" bezeichnet wird, weil unsere Impulse von selber in die Richtung gehen, andere zu respektieren und ihre Bedürfnisse zu berücksichtigen. Wir kommen gar nicht auf die Idee, andere nicht mitzubedenken, wenn wir Entscheidungen treffen.
Der Mensch ist ein Bindungswesen
Aus der wissenschaftlich gut abgesicherten Bindungstheorie wissen wir, dass Menschen die Fähigkeiten zum kooperativen und einfühlenden Kommunizieren in den frühesten Phasen der Kindheit erlernen, (wenn nicht schon im Mutterleib). Das Gehirn bildet diese Kompetenzen im Austausch mit den nächsten Bezugspersonen aus. Dazu braucht es ein fein abgestimmtes Klima der liebevollen Wertschätzung. Herrscht durch Stress verursachte Vernachlässigung der sozialen Bedürfnisse des Kindes vor, dann verkümmern nicht nur die Bedürfnisse und entsprechenden Kompetenzen, sondern auch die dafür vorgesehenen Gehirnareale.Auch von den Spiegelneuronen wissen wir, dass sie Anregung und Spiegelung brauchen, damit sie sich gut entwickeln. Dann gibt es da noch die ganze Geschichte mit der Weitergabe von genetischen Informationen und Mustern (vgl. den Blogeintrag zur Epigenetik vom 18.2.2012). Das sind alles Wege, wie sich egoistische Einstellungen einprägen, bis wir denken, das ist unsere Natur und so sind wir eben. Soziale Einstellungen sind also nicht durch Gene prädeterminiert, sondern werden durch soziale Aktivitäten mehr oder weniger stark ausgebildet. Egoistische Einstellungen sind damit die Folge einer Entwicklungsbehinderung und nicht eine menschliche Grundkonstante.
Sie sind aber auch nicht ein Mangel an Moral. Egoisten können es nicht besser, weil sie es verlernt haben. Der einzige Vorwurf an eingefleischte Egoisten könnte lauten, dass sie sich nicht für die Heilung ihrer Behinderung eingesetzt haben. Denn diese ist möglich, wenn die fehlenden Beziehungserfahrungen in einer wertschätzenden und verständnisvollen Therapie nachgeholt werden.
Es erscheint mir deshalb sehr fraglich, zu behaupten, dass Menschen "von Natur aus" egoistisches bis antisoziales Potenzial mitbringen. Wir bringen das Potenzial mit, unser Leben in Notsituationen zu verteidigen. Das ist aber nicht von vornherein egoistisch oder antisozial. Und dieses Potenzial wird nur in Extremsituationen mobilisiert (oder sollte nur in solchen mobilisiert werden, allerdings erleben wir auf Grund unserer chronischen Stressbelastung sehr viele Gelegenheiten als Bedrohung unseres Überlebens.)
Die Erfindung des Egoismus
Die Rede vom "egoistischen Gen" (nach Dawkins) halte ich für unsinnig und voll von ungeprüften Vorannahmen. Sie taugt für nicht mehr als einen reißerischen Buchtitel. Gene wickeln ihr Programm ab je nach aktuellen Anforderungen, und als solche sind sie weder gut noch böse, weder egoistisch noch altruistisch. Die Menschen verfügen allem Anschein nach über sehr starke soziale Motivationen, weil sie nur als Gruppenwesen überleben können. Vieles, was wir als böse bezeichnen, entspringt eigentlich aus solchen sozialen Motiven, wie die Verteidigung der eigenen Gruppe gegen (oft vermeintliche) Feinde.Der Egoismus ist erst eine recht späte Erfindung der Menschheit. Über Jahrmillionen unserer Urgeschichte war das keine nennenswerte Kategorie und ist nach wie vor bei funktionierenden Stammeskulturen nur ein Randphänomen. Diese könnten gar nicht existieren, wenn der Egoismus vorherrschen würde. Erst die Weiterentwicklung des Bewusstseins in die emanzipatorische Phase hat das Heraustreten des Egos mit sich gebracht. Dieser Bruch mit der Grundsolidarität wurde bewirkt durch eine Zunahme des Stresses und der Bedrohung in den frühen Ackerbaukulturen, verbunden mit Aufrüstung und Kriegen. In solchen Zusammenhängen reagieren die Menschen mit ihren Überlebensprogrammen, die sich auch gegen die Gemeinschaft richten können. Fortan wurde der Egoismus als Alternative verfügbar und auch propagiert.
Verstärkt wurde diese Denkweise durch den Kapitalismus, der uns gelehrt hat, dass jeder schauen muss, wie er auf dem Markt überlebt (materialistisches Bewusstsein). Zu jener Zeit entsteht z.B. der Roman von Robinson - der Einzelkämpfer auf der einsamen Insel. Massenhaft können jetzt Beispiele gefunden werden, die belegen, dass „der Mensch“ egoistisch ist, von uns selber, von unseren Mitmenschen und aus der Geschichte, und dass der Egoismus erfolgreich ist. Aber was belegen Beispiele anderes als die Sichtweise, die wir sowieso schon haben? Aus Beispielen werden wir nie der Wirklichkeit oder dem Wesen des Menschen näher kommen.
Eine Spielart dieser Propaganda finden wir in der Behauptung, altruistisches Verhalten sei im Grunde egoistisch motiviert. Schließlich suche der Altruist nach egoistischem Gewinn in seiner Handlung, wenn er z.B. den Applaus für seine Menschlichkeit genießt. Warum auch nicht soll jemand, der für andere da ist und Gutes tut, für sich eine Genugtuung erfahren? Das heißt noch lange nicht, dass seine primäre Absicht in der Selbstsucht gelegen wäre. Aber wenn ich dem Egoismus verschworen bin, werde ich ihn überall finden.
Erst wenn wir uns aus den vielfältigen Stressnetzen herausschälen, die unsere Lebensgeschichte und unser Alltagsleben in uns hineinverwoben hat, kommen wir unserer "wahren Natur" näher (oder finden wieder zu ihr zurück) und dem, was wir meinen, wenn wir das Wort "Liebe" verwenden.
Vgl. Bewerten im bewertungsfreien Bereich
Das Gute und das Böse
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