Im Fließen des Lebens schwingen wir im Einklang. Alles ist,
wie es ist, und verändert sich, wie es sich verändert. Der Prozess des Lebens
und die Erfahrung davon sind unmittelbar miteinander verwoben.
Wenn etwas diesen Fluss unterbricht, weil wir es nicht
verarbeiten können, nennen wir es ein Trauma. Dabei wird nicht das Fließen des
Lebens unterbrochen, sondern die Beziehung, die wir (unser Bewusstsein) zu ihm
haben. Es kommt zu einer Spaltung, einer Dissoziation. Unsere Bewusstheit,
unsere Aufmerksamkeit trennt sich von der unmittelbaren Lebenserfahrung.
Dabei bildet sich unser Ego. Es behauptet, vom Fließen des
Lebens abgetrennt zu sein. Doch dient es nur dazu, uns vor den unangenehmen
Erfahrungen einer schmerzhaften Wirklichkeit zu schützen. Sobald es diese
Funktion erfüllt hat, könnte es sich wieder verabschieden. Gefinkelt, wie es
ist, redet es uns jedoch ein, dass wir auf der Hut sein sollten, damit uns das
Schreckliche der Abtrennung nicht nochmals geschieht. Es macht sich
unentbehrlich, indem es immer neue Gefahren und Bedrohungen erfindet.
Schließlich halten wir es für die eigentliche Wirklichkeit, und erleben uns
getrennt vom Fließen des Lebens.
Befinden wir uns im Käfig der Abtrennung, leiden wir. Wir
spüren die Spannung zwischen der Schönheit des fließenden Lebens, und dem
abgetrennten Ort, an den uns das Ego verbannt hat. Wir sind wie ein Gefangener,
der am winzigen Fenster seiner Zelle nur ab und zu einen Vogel vorbeifliegen
sieht und sich nichts sehnlicher wünscht, als dieser Vogel zu sein, der sich
frei durch die Lüfte schwingt. Doch uns ist der Weg versperrt, so mächtig hat
das Ego von uns Besitz ergriffen.
Unser Leiden macht uns zu Opfern oder zu Tätern. Entweder
wir jammern, weil wir leiden, weil wir unzufrieden sind, weil wir zuwenig von
dem und jenem kriegen, usw. Oder wir klagen andere an, die an unserem Unglück
Schuld sind und machen uns dadurch zu den Tätern. Wir fügen ihnen Leid zu, weil
sie unser Leid verursachen.
Ein kleines Beispiel: Ich mache mich morgens auf zu meinen
Tätigkeiten und ziehe mir die Schuhe an. Das Schuhband reißt, und zugleich
meine Verbundenheit mit dem Fließen des Lebens. Ich schimpfe auf mich, weil ich
zu stark am Schuhband gerissen habe, und warum ich es so spät werden ließ, dass
ich jetzt zu wenig Zeit habe, um den Schaden wieder zu reparieren. Ich mache
mich zum Opfer. Dann schimpfe ich auf die Leute, die diese Schuhbänder
hergestellt haben, die nichts aushalten und bei der kleinsten Belastung reißen.
Das kann doch nicht normal sein, die sind doch fast noch neu, und schon reißen
sie, so ein Schund, und so ein Betrug, einen derartigen Schund zu verkaufen.
Ich mache mich zum Täter. Ich vermiese mir meinen Morgen (Opfer) und bin fest
der Überzeugung, dass es andere sind, die mir das antun (Täter).
Wenn ich statt dessen einfach bemerke, dass das Schuhband
gerissen ist, kurz überlege, ob es sich ausgeht, es noch zusammenzubinden oder
ob ich mir andere Schuhe suchen soll, und dann einfach weitermache, dann bleibe
ich mit dem Fließen verbunden. Ich genieße diesen Moment und den nächsten, der
kommt.
Viele Menschen spüren zwar die Spannung, wenn sie nicht mit
dem Leben, das sie leben, eins sind. Und weil sie ihr Ego nicht aufgeben
wollen, ja, es nicht einmal in Frage stellen wollen, reduzieren sie die
Spannung, indem sie das Leben reduzieren. Leiden sie an etwas, gibt es Abhilfen
– Betäubung durch Gewohnheiten oder Süchte, Dämpfung durch Medikamente oder
Abstumpfung, Ablenkung durch kreisförmiges Denken und sinnentleertes Reden.
Natürlich geht das Leben weiter, doch der eigene Anteil
daran wird immer geringer und geringer. Ein Gefühl der Unwirklichkeit und
Sinnleere stellt sich ein. Das Ego triumphiert, und das Leiden ist in einem
Nebel der Desorientierung und Verwirrung verschwunden.
Was ist die Alternative? Der Blick führt zunächst zurück zu
Ursprung der Spaltung, zum Ursprung des Egos. Wir wagen uns mutig an das Trauma
heran. Wir stellen uns dem Schrecklichen und Schmerzhaften, weil wir wissen,
dass wir nur so unserem Leiden entrinnen können. Wenn wir den Moment der Traumatisierung
erwischen und die Aufmerksamkeit und die Bewusstheit in den Gefühlen, so
schrecklich sie sein mögen, beibehalten, löst sich der Bann. Wir finden zurück
zum Fließen des Lebens. Wir sind eins mit unserer Wirklichkeitserfahrung. Und
der Teil des Egos, der sich in der Abspaltung im Trauma gebildet hat,
verschwindet. Statt dessen haben wir ein Stück innerer Freiheit gewonnen und
fließen wieder leichter mit dem Leben mit, statt es „von außen“ zu
kommentieren.
Schließlich ist ja jedes Kommentieren und jedes Agieren
unseres Egos auch Teil des großen Lebensprozesses, allerdings ein Teil, der
nichts zum Wachsen des Ganzen beiträgt, sondern sich querlegt. So legen wir
immer wieder mal unsere „Ehrenrunden“ ein, wie die Systemiker sagen, die leeren
Kilometer, nach denen wir mit Kater aufwachen. Dann aber haben wir wieder die
Chance, statt auf das Opfer-Täter-Muster einzusteigen uns gleich wieder mit dem
Fließen des Lebens verbinden und mitschwimmen, wohin auch immer es uns trägt.
Lieber Wilfried!
AntwortenLöschenDanke für deinen neuesten Blog-Beitrag über das Fließen mit dem Leben!
Dazu möchte ich mit euch teilen, wie es mir gestern gelungen ist, mit dem Leben zu fließen:
Meine Tochter (10) nahm mit ihrer Schulklasse an einer Lauf-Veranstaltung für 300 Volksschulkinder teil. Die ganze Zeit hat es in Strömen geregnet. Ich war als Begleitperson dabei und bekam 6 Mädchen zugeteilt, die ich bis zum Start betreuen sollte. Viele der Umstehenden jammerten über das miese Wetter. Ja, gemütlich ist anders! Da ich mir aber in letzter Zeit - gottseidank - öfter wieder Zeit zum Tanzen nehme, war ich gut im Körper drin und spürte, was jetzt passte: Aus dem nahen Lautsrecher erscholl Hintergrundmusik, und ich sagte zu meinen Mädels: "Kommt, wir wärmen uns auf!" und begann mit einer kleine Choreographie, die ich einfach so aus dem Moment entstehen liess. Sie waren gleich dabei, und es kam Stimmung auf. Da kamen auch die anderen aus der Klasse dazu, es war great! Klar hatte ich anfangs ein bisschen Herzklopfen (es schauten ja viele Leute zu), aber genau da war ich voll im Leben drin! Gegen Ende des Liedes bildeten wir einen Kreis, bei dem wir uns an den Händen hielten und nach außen lehnen ließen, dann kamen wir mit einem Juchzer in der Mitte zusammen. Das Schönste war, die Freude der Kinder zu erleben - auch mein inneres Kind jubelte gewaltig! :-)
Meine Tochter erzählte mir am Nachmittag - nach der Feststellung, dass sie eine ganz schön mutige Mama habe - , dass die Klasse diese "Übung" mit dem Zurücklehnen im Kreis schon einmal probiert habe, aber da habe es nicht geklappt. Deshalb freue sich sich besonders, dass das heute so spontan entstanden sei. Da jubelte meine "innere Mama" gewaltig! :-)
Lieber Wilfried, solche Erlebnisse sind nicht zuletzt dadurch möglich, dass ich bei Waltraud und bei dir schon viel Erfahrung mit Gruppenprozessen sammeln durfte und eben gelernt habe, das Leben - wann auch immer - zu feiern!
Liebe Grüße und viel Freude mit meinem Bericht :-)
E.S.