Montag, 4. Juni 2012

Mit dem Leben fließen

Im Fließen des Lebens schwingen wir im Einklang. Alles ist, wie es ist, und verändert sich, wie es sich verändert. Der Prozess des Lebens und die Erfahrung davon sind unmittelbar miteinander verwoben.

Wenn etwas diesen Fluss unterbricht, weil wir es nicht verarbeiten können, nennen wir es ein Trauma. Dabei wird nicht das Fließen des Lebens unterbrochen, sondern die Beziehung, die wir (unser Bewusstsein) zu ihm haben. Es kommt zu einer Spaltung, einer Dissoziation. Unsere Bewusstheit, unsere Aufmerksamkeit trennt sich von der unmittelbaren Lebenserfahrung. 

Dabei bildet sich unser Ego. Es behauptet, vom Fließen des Lebens abgetrennt zu sein. Doch dient es nur dazu, uns vor den unangenehmen Erfahrungen einer schmerzhaften Wirklichkeit zu schützen. Sobald es diese Funktion erfüllt hat, könnte es sich wieder verabschieden. Gefinkelt, wie es ist, redet es uns jedoch ein, dass wir auf der Hut sein sollten, damit uns das Schreckliche der Abtrennung nicht nochmals geschieht. Es macht sich unentbehrlich, indem es immer neue Gefahren und Bedrohungen erfindet. Schließlich halten wir es für die eigentliche Wirklichkeit, und erleben uns getrennt vom Fließen des Lebens.

Befinden wir uns im Käfig der Abtrennung, leiden wir. Wir spüren die Spannung zwischen der Schönheit des fließenden Lebens, und dem abgetrennten Ort, an den uns das Ego verbannt hat. Wir sind wie ein Gefangener, der am winzigen Fenster seiner Zelle nur ab und zu einen Vogel vorbeifliegen sieht und sich nichts sehnlicher wünscht, als dieser Vogel zu sein, der sich frei durch die Lüfte schwingt. Doch uns ist der Weg versperrt, so mächtig hat das Ego von uns Besitz ergriffen.

Unser Leiden macht uns zu Opfern oder zu Tätern. Entweder wir jammern, weil wir leiden, weil wir unzufrieden sind, weil wir zuwenig von dem und jenem kriegen, usw. Oder wir klagen andere an, die an unserem Unglück Schuld sind und machen uns dadurch zu den Tätern. Wir fügen ihnen Leid zu, weil sie unser Leid verursachen.

Ein kleines Beispiel: Ich mache mich morgens auf zu meinen Tätigkeiten und ziehe mir die Schuhe an. Das Schuhband reißt, und zugleich meine Verbundenheit mit dem Fließen des Lebens. Ich schimpfe auf mich, weil ich zu stark am Schuhband gerissen habe, und warum ich es so spät werden ließ, dass ich jetzt zu wenig Zeit habe, um den Schaden wieder zu reparieren. Ich mache mich zum Opfer. Dann schimpfe ich auf die Leute, die diese Schuhbänder hergestellt haben, die nichts aushalten und bei der kleinsten Belastung reißen. Das kann doch nicht normal sein, die sind doch fast noch neu, und schon reißen sie, so ein Schund, und so ein Betrug, einen derartigen Schund zu verkaufen. Ich mache mich zum Täter. Ich vermiese mir meinen Morgen (Opfer) und bin fest der Überzeugung, dass es andere sind, die mir das antun (Täter).

Wenn ich statt dessen einfach bemerke, dass das Schuhband gerissen ist, kurz überlege, ob es sich ausgeht, es noch zusammenzubinden oder ob ich mir andere Schuhe suchen soll, und dann einfach weitermache, dann bleibe ich mit dem Fließen verbunden. Ich genieße diesen Moment und den nächsten, der kommt. 

Viele Menschen spüren zwar die Spannung, wenn sie nicht mit dem Leben, das sie leben, eins sind. Und weil sie ihr Ego nicht aufgeben wollen, ja, es nicht einmal in Frage stellen wollen, reduzieren sie die Spannung, indem sie das Leben reduzieren. Leiden sie an etwas, gibt es Abhilfen – Betäubung durch Gewohnheiten oder Süchte, Dämpfung durch Medikamente oder Abstumpfung, Ablenkung durch kreisförmiges Denken und sinnentleertes Reden. 

Natürlich geht das Leben weiter, doch der eigene Anteil daran wird immer geringer und geringer. Ein Gefühl der Unwirklichkeit und Sinnleere stellt sich ein. Das Ego triumphiert, und das Leiden ist in einem Nebel der Desorientierung und Verwirrung verschwunden.

Was ist die Alternative? Der Blick führt zunächst zurück zu Ursprung der Spaltung, zum Ursprung des Egos. Wir wagen uns mutig an das Trauma heran. Wir stellen uns dem Schrecklichen und Schmerzhaften, weil wir wissen, dass wir nur so unserem Leiden entrinnen können. Wenn wir den Moment der Traumatisierung erwischen und die Aufmerksamkeit und die Bewusstheit in den Gefühlen, so schrecklich sie sein mögen, beibehalten, löst sich der Bann. Wir finden zurück zum Fließen des Lebens. Wir sind eins mit unserer Wirklichkeitserfahrung. Und der Teil des Egos, der sich in der Abspaltung im Trauma gebildet hat, verschwindet. Statt dessen haben wir ein Stück innerer Freiheit gewonnen und fließen wieder leichter mit dem Leben mit, statt es „von außen“ zu kommentieren.

Schließlich ist ja jedes Kommentieren und jedes Agieren unseres Egos auch Teil des großen Lebensprozesses, allerdings ein Teil, der nichts zum Wachsen des Ganzen beiträgt, sondern sich querlegt. So legen wir immer wieder mal unsere „Ehrenrunden“ ein, wie die Systemiker sagen, die leeren Kilometer, nach denen wir mit Kater aufwachen. Dann aber haben wir wieder die Chance, statt auf das Opfer-Täter-Muster einzusteigen uns gleich wieder mit dem Fließen des Lebens verbinden und mitschwimmen, wohin auch immer es uns trägt.

1 Kommentar:

  1. Lieber Wilfried!

    Danke für deinen neuesten Blog-Beitrag über das Fließen mit dem Leben!
    Dazu möchte ich mit euch teilen, wie es mir gestern gelungen ist, mit dem Leben zu fließen:
    Meine Tochter (10) nahm mit ihrer Schulklasse an einer Lauf-Veranstaltung für 300 Volksschulkinder teil. Die ganze Zeit hat es in Strömen geregnet. Ich war als Begleitperson dabei und bekam 6 Mädchen zugeteilt, die ich bis zum Start betreuen sollte. Viele der Umstehenden jammerten über das miese Wetter. Ja, gemütlich ist anders! Da ich mir aber in letzter Zeit - gottseidank - öfter wieder Zeit zum Tanzen nehme, war ich gut im Körper drin und spürte, was jetzt passte: Aus dem nahen Lautsrecher erscholl Hintergrundmusik, und ich sagte zu meinen Mädels: "Kommt, wir wärmen uns auf!" und begann mit einer kleine Choreographie, die ich einfach so aus dem Moment entstehen liess. Sie waren gleich dabei, und es kam Stimmung auf. Da kamen auch die anderen aus der Klasse dazu, es war great! Klar hatte ich anfangs ein bisschen Herzklopfen (es schauten ja viele Leute zu), aber genau da war ich voll im Leben drin! Gegen Ende des Liedes bildeten wir einen Kreis, bei dem wir uns an den Händen hielten und nach außen lehnen ließen, dann kamen wir mit einem Juchzer in der Mitte zusammen. Das Schönste war, die Freude der Kinder zu erleben - auch mein inneres Kind jubelte gewaltig! :-)
    Meine Tochter erzählte mir am Nachmittag - nach der Feststellung, dass sie eine ganz schön mutige Mama habe - , dass die Klasse diese "Übung" mit dem Zurücklehnen im Kreis schon einmal probiert habe, aber da habe es nicht geklappt. Deshalb freue sich sich besonders, dass das heute so spontan entstanden sei. Da jubelte meine "innere Mama" gewaltig! :-)

    Lieber Wilfried, solche Erlebnisse sind nicht zuletzt dadurch möglich, dass ich bei Waltraud und bei dir schon viel Erfahrung mit Gruppenprozessen sammeln durfte und eben gelernt habe, das Leben - wann auch immer - zu feiern!

    Liebe Grüße und viel Freude mit meinem Bericht :-)
    E.S.

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