Dienstag, 29. September 2020

Emotionale Gleichheit

Gleichheit ist ein zentrales Element für eine menschenwürdige Gesellschaft. Intuitiv wissen wir, dass es keine fundamentalen Unterschiede zwischen Menschen geben darf, weil wir im Grunde alle gleich viel wert sind, deshalb die gleiche Wichtigkeit haben und auch gleichermaßen an der Gesellschaft teilhaben sollen. Der Gedanke der Menschenwürde, die allen ohne Unterschied zukommt, hat den Vorhang zerrissen, der seit Beginn der Jungsteinzeit, als sich die Gesellschaft in Schichten differenzierte, die Grundgleichheit versteckt gehalten hat. In den meisten Verfassungen ist die Idee der Gleichheit verankert und bildet seit ihrer Proklamation in der Aufklärung einen wichtigen Antrieb zur Reform der Gesellschaft, insbesondere im Sozialbereich. Die formale Gleichheit vor dem Gesetz soll durch eine Chancengleichheit ergänzt werden, so zumindest der Leitgedanke sozialistischer Parteien, dem sich aber auch Mitte- und Rechtsparteien nach Bedarf anschließen.

Die „Listening Society“ nach Hanzi Freinacht, die eine künftige metamoderne Gesellschaftsform darstellt, fügt diesen Gleichheitsebenen noch eine weitere hinzu: die emotionale Gleichheit. Gleichheit braucht es nicht nur in Hinblick auf die materiellen Lebensbedingungen, sondern auch für das Innenleben.

Forschungen haben ergeben, dass sozialer Ausschluss und Ablehnung so wehtun kann wie physischer Schmerz, wie eine Ohrfeige. Jemand wird einer Zurückweisung ausgesetzt und die gleichen Muster im Gehirn werden aktiviert wie bei einer körperlichen Verletzung. Dazu kommt, dass jede solche Verletzung die Empfänglichkeit für solchen Schmerz in der Zukunft erhöht und die innere Bereitschaft für Gefühle von Rachsucht, Neid und Aggressivität steigert.

Menschen, die in früher Zeit viel von diesen Verletzungen erleben mussten, haben es deshalb schwerer, zu einer inneren Zufriedenheit zu finden als jene, die in dieser Hinsicht auf die Butterseite des Lebens gefallen sind. Sie müssen viel mehr Energie aufwenden, um die Anforderungen der Gesellschaft zu erfüllen als jene, die in dieser Hinsicht privilegiert sind.

Hanzi Freinacht spricht davon, dass die Gesellschaft nicht nur zwischen Reichen und Armen auseinandertriftet, sondern auch zwischen denen, die viel Glück in ihrem Leben finden und jenen, die davon nur wenig haben. Denn die Glücklichen sind auch erfolgreicher und sammeln mehr Freunde um sich als die Unglücklichen. Sie bekommen mehr Anerkennung und stärken damit ihren Selbstwert, Aspekte, die im Leben der Unglücklichen rarer gesät sind. Sie tun sich leichter, alternative Lebensformen zu erproben und nachhaltig zu konsumieren.

Es gibt viele verstärkende Faktoren, durch die die Glücklichen ihr Glück und die Unglücklichen ihr Unglück steigern, ähnlich wie es leichter ist, als Reicher noch mehr Vermögen anzuhäufen als wenn man gar keines hat. Die Glückskreisläufe haben die Tendenz, sich zu automatisieren, gleich wie die Unglücks-Teufelskreise.

Das Unglücklichsein vermindert die Lebenschancen drastisch. Es kann die Lebenszeit verkürzen und ist die Wurzel vieler Krankheiten und Leidenszustände, am augenfälligsten bei den Depressionen. Unglückliche Menschen sind weniger produktiv und leistungsfähig. Sie kreisen mehr in sich selbst und tun sich schwer, ihre Energie nach außen zu bringen, Ideen zu entwickeln und Neues zu schaffen. Ihre Lebenszeit ist häufig durch die Sicherung der Existenzbedingungen und durch das Zurechtkommen mit den inneren Problemen ausgefällt.

Unglück belastet nicht nur die betroffenen Menschen und ihre Umgebung, sondern auch das Sozialsystem und damit die Gesellschaft als Ganze. Innerlich belastete Menschen können weniger zur Gesellschaft und ihrer Weiterentwicklung beitragen; ihre Initiativkraft, Produktivität und Kreativität fehlen der Allgemeinheit.

Alles nur Schicksal?

Die vorherrschende Taktik und Einstellung besteht darin, dass die unglücklichen Menschen für ihr Schicksal verantwortlich gemacht werden – jeder ist an seinem Glück oder Unglück selber schuld. Diese Auffassung verstärkt die Unterschiede und Ungleichheiten. Die Glücklichen brauchen sich nicht mit den Unglücklichen zu befassen, und die Unglücklichen bekommen zu ihrem Unglück noch die Verantwortung dafür aufgehalst. Unglück wird als persönliche Schwäche, als persönliches Versagen, als Mangel an Lebenskompetenz definiert und zusätzlich mit Scham beladen. Der Ausweg heißt dann einfach, dass sich die unglückliche Person zusammenreißen soll, um aus der selbstverschuldeten Schwäche herauszukommen. Wenn sie es nicht schafft, braucht sie sich nicht zu beschweren und kriegt nur einen Platz irgendwo am Rand der Gesellschaft. Ins Zentrum gehören die, die den Leistungsnormen des Wirtschaftssystems entsprechen können.

Es geht hier nicht darum, die Eigenverantwortung für das eigene Innenleben zu leugnen. Unglück kann auch als Ausrede vor dieser Verantwortung verwendet werden, und die Bereitschaft, das Schicksal in die eigenen Hände nehmen, kann eine Wende bewirken. Die Befreiung vom Leiden ist eine individuelle Aufgabe, die wir so oder so in unserem Leben meistern müssen.

Es geht in diesem Text vielmehr um die gesamtgesellschaftliche Ebene, die ebensowenig geleugnet werden darf. Es geht um die Verantwortung, die das Schicksal der Gemeinschaft mit dem Schicksal seiner Mitglieder verbindet und die sowohl im Ganzen wie im Einzelnen übernommen werden sollte.  Dazu ist es notwendig, aus der neoliberalen Denkdoktrin der verordneten Individualisierung des Glücks herauszutreten.

Unglückserzeugende Strukturen

Die Verantwortung erwächst daraus, dass die Unterschiede in der emotionalen Grundausstattung nicht nur ein individuelles Schicksal sind, das die einen mehr und die anderen weniger betrifft, sondern dass sie wesentlich durch soziale Strukturen mitverursacht und beeinflusst werden. Die soziale Schicht, in die ein Mensch hineingeboren wird, wirkt sich direkt auf die Glückschancen aus. Die nachhaltige Änderung dieser Bedingungen ist erforderlich, damit sich das Glück weiter in die Gesellschaft hinein ausbreiten kann und mehr und mehr Menschen in den Genuss von Lebensfreude kommen können.

Die Entwicklung zu einer emotionalen Gleichheit kann demnach nur hergestellt werden, wenn diese Gesamtverantwortung bewusst ist und in Angriff genommen wird, wenn also die Gesellschaft ihre Zuständigkeit für das Glücksniveau ihrer Mitglieder übernimmt und die Strukturen danach ausrichtet.

Es sind also politische Änderungen erforderlich, die auf die Herstellung der Chancengleichheit und des Ausgleichs zwischen unterschiedlichen Ausgangsbehinderungen hinarbeiten.

Die Implementierung von empathischer Solidarität verläuft entlang der Scheidelinie zwischen der individualisierten Ego-Kultur und der Gemeinwohlorientierung. Nebenbei bemerkt, zeichnet die Corona-Zeit diese Linie besonders deutlich: Sollen möglichst viele Leben gerettet und Krankheitsfälle vermieden werden oder geht es darum, die Wirtschaft möglichst wenig einzuschränken? Die meisten Regierungen haben die erstere Option gewählt. Wir leben also nicht in einer völlig entsolidarisierten Welt, auch das zeigt sich in dieser Krise.

Glück und Gesundheit

Glück ist ein zentraler Teil und Faktor der Gesundheit, denn der Zustand der inneren Ausgeglichenheit, der mit Glück verbunden ist, ist auch förderlich für unseren Körper. In dem Maß, wie sich die Gesellschaft der Gesundheit der Einzelnen annimmt, braucht es auch die Fürsorge für das Glücklichsein. Effektive und menschengerechte Gesundheitspolitik ist auch Glückspolitik.

Häufig sind wir unglücklich, wenn wir krank sind. Der Körper ist im Ungleichgewicht, und gleich hängt auch die Seele schief. Andererseits sind wir aber nicht automatisch glücklich, wenn wir gesund sind. Dazu braucht es offensichtlich noch viel mehr Faktoren, die stimmen müssen. Das hängt damit zusammen, dass Gesundheit im üblichen Verständnis mit dem Funktionieren des Körpers gleichgesetzt wird. Menschen brauchen aber auch gesunde Beziehungen, Arbeitsstätten, Bildungseinrichtungen, Umweltbedingungen, Sozialmaßnahmen und politische Verhältnisse. Und dafür kann jeder Einzelne seinen kleinen Beitrag liefern, aber es kann nicht ohne die gesellschaftlichen Institutionen gehen, die über eine wesentlich mächtigere Hebelwirkung verfügen.

Körperliches und seelisches Leid sind gleichwertig

Im Vergleich zur körpermedizinischen Versorgung hinkt die psychohygienische Gesundheitsvorsorge in unseren Breiten noch immer weit nach. Offensichtlich haben Gesellschaft und Politik noch viel zu wenig verstanden, wie ausschlaggebend der innere Zustand für die körperliche Gesundheit und Leistungsfähigkeit ist. Die Entlastung der Psyche gilt für viele als individueller Luxus und nicht als gesellschaftliche Notwendigkeit und zentrale Säule im Sozial- und Gesundheitssystem.

Noch immer herrscht die Meinung vor, dass die Behebung von körperlichem Leid selbstverständlich von der Gesellschaft übernommen wird, während seelisches Leid dem Einzelnen überlassen wird und nur marginal von der Sozialversicherung, also von den Finanzmitteln aller Mitglieder unterstützt wird. Eigenartigerweise haben wir noch immer nicht verstanden, was es heißt, eine körperlich-seelisch-geistige Einheit zu sein, offensichtlich leiden wir kollektiv an einer Dissoziation, die das Körperliche vom Rest abspaltet. Das Eine ist gesellschaftlich weitgehend akzeptiert und wird mit Mitgefühl bedacht; das Andere ist Anlass für individuelle Scham und gilt als Stigma. Der Mensch unserer Zeit darf krank werden und für seine Heilung soll gesorgt sein. Er muss aber psychisch intakt bleiben, sonst verfällt er der Ausgrenzung.

Das Ziel der emotionalen Gleichheit kann nur erreicht werden, wenn sich das kollektive Bewusstsein in dieser Richtung weiterentwickelt und die Verwobenheit und Austauschbarkeit von körperlichen und seelischen Leidenserfahrungen aufgenommen hat, sodass die entsprechenden Regulationsstrukturen entstehen können: Ein breites und frei zugängliches Netz der psychosozialen Versorgung mit dem gleichen Stellenwert wie die traditionell medizinischen Versorgungsinstitutionen.

Zum Text von Hanzi Freinacht

Zum Weiterlesen:
Metamodernismus - eine Übersicht


Montag, 21. September 2020

Die Kraft der Zerstörung

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Zwei Gesichter hat die Kali, die hinduistische Göttin der Zerstörung. Sie symbolisiert den Untergang des Alten, das weichen muss, um dem Neuen Raum zu geben. Zu diesem Zweck schafft sie Chaos, wo eine überholte Ordnung bestanden hatte und bringt alles durcheinander, was vorher fein säuberlich getrennt war, damit sich neue Konstellationen bilden können.

Sie hat aber auch, wie alle Götter im Pantheon, eine Schattenseite, da ihre Zerstörungskraft keine Grenze kennt und unweigerlich übers Ziel schießt, wenn es keine anderen Kräfte gibt, die ihr Einhalt gebieten. Jede Zerstörung um ihrer selbst willen mündet schließlich in einer Selbstzerstörung.

Die Dynamik, die durch gewaltsame Zerstörung entfesselt wird, ist schwer zu kontrollieren, was sich in der mythischen Geschichte von Shiva und Kali ausdrückt. Kali tanzt unbändig auf dem Schlachtfeld, „trunken vom Blut ihrer Feinde“, und ihr Gemahl Shiva kann ihr Toben nur beenden, indem er sich hinlegt wie eine Leiche. Als sie auf ihm tanzt, erkennt sie, wer er ist, und hält inne. Vor Schreck und Scham über ihr Tun streckt sie die Zunge heraus.

Es bedarf eines radikalen Einschnitts, um die Dynamik einer unkontrollierten Zerstörungssucht zu unterbrechen. Die entfesselte Rücksichtslosigkeit und Unmenschlichkeit kann nur durch die konzentrierte Rückbesinnung auf das Menschliche eingegrenzt werden. Die Schamreaktion ist die innere Antwort auf die Vernichtung des Menschlichen, die im Außen angerichtet wurde.

Die Kraft von Kali

Ein anderer Mythos besagt, dass Shiva seine Lebenskraft Kali verdankt. Shiva wäre nur ein Leichnam, wenn er nicht Kali in sich hätte. Kali ist also ein zentraler Anteil von Shiva. Die Kraft der Zerstörung ist ein unverzichtbarer Teilaspekt der Lebendigkeit, dessen Geheimnis wir erst verstehen lernen müssen und dessen Handhabung eine lebenslange Lernaufgabe darstellt.

Kali ist auch eine Repräsentanz der mütterlichen Energie, die jedem Menschen ins Leben hilft. Diese Energie ist die schöpferische Kraft, die gewissermaßen aus dem Nichts Neues in die Welt setzt. Dagegen ist die zerstörende Kraft jene, die neuem Leben Raum verschafft, indem Altes vernichtet wird. In vielen anderen Mythen und Traditionen wird das Zerstörerische, auch im Zusammenhang mit Gewalt, dem Männlichen zugeordnet, das ja physisch im Durchschnitt das stärkere Geschlecht darstellt und genetisch mit mehr Aggressionshormonen ausgestattet ist. Andererseits gibt es auch das Phänomen der emotionalen Zerstörung, z.B. von Sicherheit und Vertrauen bis hin zum Auslöschen des Selbst, die auch, aber nicht nur von Frauen verübt wird.

Das Mütterliche gibt das Leben; was gibt, kann es auch wieder nehmen. Es ist diese Macht über das Leben, das Angst bereitet und Respekt einflößt. Aus diesem Grund bilden sich oft intensive und lebenslang wirksame Abhängigkeiten der Kinder (beiderlei Geschlechts) von den Müttern, Abhängigkeiten der Geschöpfe von den Schöpferinnen, denen das Leben geschuldet ist.

Der Bann dieser Macht kann erst durchbrochen werden, wenn der fantasierte Inhalt dieser Dynamik durchschaut ist. Erwachsenwerden heißt sich von der internalisierten Zerstörungskraft des Mütterlichen zu emanzipieren. Es gelingt umso besser, als die Angst vor der Zerstörung nicht durch eigene Akte der Zerstörung kompensiert werden muss.  Denn gerade die Zeit der Ablöse von der Macht des Mütterlichen in der Adoleszenz ist für das Ausbrechen von destruktiven Exzessen anfällig, so übermächtig ist die urmütterliche Verfügung über das eigene Leben verankert.

Die Furie des Verschwindens

In den Wirtschaftswissenschaften gibt es den Begriff der schöpferischen oder kreativen Zerstörung. Wenn in der Wirtschaft neue technische Erfindungen erfolgreich eingesetzt werden, müssen alte Strukturen verschwinden, wie z.B. die Heimweber durch den mechanischen Webstuhl oder das Druckergewerbe durch die Digitalisierung. Auch Karl Marx war der Meinung, dass überkommene Produktionsformen verschwinden müssen und dass deshalb der Kommunismus mit Sicherheit auf den Kapitalismus folgen wird.

Er folgt mit dem Konzept einer zwingenden Entwicklungslogik in der Geschichte dem Philosophen Georg Wilhelm Friedrich Hegel, der den Ausdruck von der „Furie des Verschwindens“ geprägt hat. Nach seiner Auffassung ist alles Geschehen von dialektischen Strukturen gelenkt: Das Positive wird durch das Negative zerstört, und beides wird dann in einer Synthese aufgehoben: In einem dreifachen Sinn: bewahrt, verbessert und beseitigt. Alles, was ist, muss sich in sein Gegenteil verkehren und findet daraus zu einer höheren Gemeinsamkeit. Oder: Jede Ordnung verschwindet irgendwann im Chaos und daraus erwächst dann eine geläuterte höhere Form der Ordnung.

Das ist auch ein weit verbreitetes Verständnis der Macht von Kali und der Notwendigkeit von Zerstörung. Was ist, wird irgendwann einmal unnötig, verbraucht oder schädlich, wie der schönste Salat einmal verrottet. Was nicht mehr tauglich ist oder nicht mehr in die Gegenwart passt, muss beseitigt werden, wenn es nicht von selber verschwindet. Wenn es als überflüssiges Relikt aufbewahrt wird, steht es nur im Weg und unterbindet die Erneuerung. Wie der Körper laufend Zellen abbaut und durch neue ersetzt, braucht es auch auf allen anderen Ebenen die Abbauprozesse, damit die Aufbauprozesse Platz bekommen, um wirken können.

Die Nutzung der Zerstörungskraft

Zerstörung ist also ein notwendiger Aspekt des Wachsens. Die Frage ist nur, wie die Kraft der Zerstörung konstruktiv genutzt werden kann, also wie die destruktive Kraft so eingegrenzt werden kann, dass sie dem Leben und seiner Mehrung dienlich ist. Es gibt eine Nähe zum Gefühl der Wut, das immer Teil der Zerstörungskraft ist. Beim Umgehen mit der Wut geht es nicht darum, wutlos zu werden, sondern die Wut in Bahnen zu lenken, sodass die sozialen Beziehungen bestehen bleiben. Ähnlich brauchen wir für den Umgang mit der Zerstörungskraft ein Bewusstsein über ihre Grenzen und über ihre Begrenzbarkeit. Die tragenden Strukturen und Werte der menschlichen Gemeinschaft müssen erhalten bleiben.

Zerstörung ist manchmal notwendig, um einer schleichenden Zerstörung entgegenzuwirken, wenn z.B. ein angefaulter Zahn entfernt wird. Innere Muster und gesellschaftliche Strukturen, die der Weiterentwicklung im Weg stehen und sie behindern, müssen entfernt werden, und manchmal geht das nicht ohne Gewalt, also gegen den Willen der etablierten Strukturen. Machtpositionen, die um ihrer selbst willen einbetoniert sind, müssen gesprengt werden, über kurz oder lang.

Was lehrt uns Kali also? Das Leben besteht auch darin, das Wechselspiel zwischen Chaos und Ordnung zu meistern. Wenn Ordnungen starr und selbstbezogen werden, sind sie nicht mehr dienlich und müssen aufgebrochen werden. Wenn das Chaos die Lebensgrundlagen angreift, müssen Ordnungsstrukturen eingezogen werden. Jedes Leben kennt Phasen des Chaos und Phasen der Ordnung. Die Lebenskompetenz besteht darin, die richtigen Zeitpunkte für den Übergang vom einen zum anderen zu erkennen und beide Phasen konstruktiv zu nutzen. Diese Kompetenz ist auf der individuellen wie auf der kollektiven Ebene notwendig. Die Göttin Kali und ihre Mythen erinnern uns daran.

Kali und Covid

Die aktuelle Situation stellt ein spannendes Wirkungsfeld für die Kali-Energie dar. Teile der Wirtschaft und des Geschäfts- und Kulturlebens sind stark reduziert oder zerstört. Viele Tätigkeiten finden online im Homeoffice statt, Büroräume werden nicht mehr benötigt. Statt Geschäftsreisen werden Videokonferenzen abgehalten usw.

Während ganze Sektoren der Gesellschaft ins Chaos gestürzt werden, herrschen auf anderen Ebenen neue Ordnungsstrukturen. Die tagtägliche Disziplin im Abstandhalten und Maskentragen wurde eingeführt und wird fast weltweit eingehalten. Der Staat übernimmt Ordnungsfunktionen, die bis ins Privatleben hineinreichen. Neues, vorher unvorstellbares Chaos, neue, vorher unvorstellbare Ordnung. Shiva und Kali im Tanz. Wir Menschen sind mittendrin und haben den Eindruck, auch die Götter wissen nicht wirklich, worauf alles hinausläuft. Also bleibt uns nichts anderes, als uns auf diesen Tanz einzulassen und uns mit unseren Energien, Impulsen und Ideen mitzubewegen und im Vertrauen auf eine höhere Regie weiter auf unsicherer See zu navigieren. Wie bei jedem Tanz, so intensiv und chaotisch er auch sein mag, gibt es eine Mitte, um die herum sich alles dreht, und dort herrscht tiefer Friede.

Samstag, 19. September 2020

Emotionalisierung durch emotionale Kälte - ein aktuelles Beispiel

Müssen Politiker die emotionale Kälte kultivieren, um eine vernünftige Politik zu gestalten? Oder geht es darum, wertbefreit Wählerstimmen zu ködern, ohne Rücksicht auf Menschlichkeit?

Der österreichische Außenminister Schallenberg spricht davon (In der Zeit im Bild 2, 10. September 2020), die Debatte um die Migration anlässlich des Flüchtlingslager auf Lesbos zu deemotionalisieren und zu „rationalisieren“, also sie von den Gefühlen weg zur Vernunft zu bringen. Vernunft heißt für ihn, die Ereignisse von 2015 wieder herbei zu beschwören: „Jedes Mal, wenn ein Schiff auftaucht oder ein Zwischenfall in einem Lager ist, gibt es sofort das Geschrei ‚Verteilung‘. … Es geht jedes Mal um ein paar Kinder oder um 13 000, und dann sind es 50 (Tausend), das ist leider Gottes ein realistischer Pragmatismus.“ 

Der Pragmatismus Schallenberg’scher Prägung besteht also darin, keine Emotionen zu beachten und vor allem kein Geschrei zuzulassen, die Türen fest verschlossen halten und statt dessen Geld und Decken schicken – das schafft ein paar heimische Arbeitsplätze und Firmengewinne. Dazu ein Kommentar von Cornelius Obonya im Standard: „Wenn man Decken und Zelte und ein wenig Geld ins Südliche schickt, dann sieht man die Menschen nicht mehr, weil die sind ja dann unter der Decke.“ 

Wenn wir aber die Grenzzäune nur einen Spalt breit aufmachen und 100 Kinder hereinlassen, käme unweigerlich die große Flut. Das ist für den Außenminister keine Spekulation oder Hypothese, sondern vor dem Eintreten schon eine Realität. Realistischer Pragmatismus nach Schallenberg ist die Vorwegnahme einer Realität, um sie in der Gegenwart schon in den Ansätzen zu ersticken. Die Realität im Kopf dient damit nichts anderem als der Angsterzeugung, die die Abschottungspolitik rechtfertigen soll.

Der Außenminister ist emotionslos im Sinn der emotionalen Kälte, einer Abwehrform der Scham. Obwohl emotionslos, geht es ihm um nichts anderes, als zu emotionalisieren, indem er Ängste schürt. Realistischer Pragmatismus ist die demagogische Behauptung, die eigenen Fantasien wären real, eine Aufforderung zur vorweggenommenen Angst und Katastrophenpanik. Und eine Verleitung zur geistigen Verwirrung, die Gegenwart mit einer fantasierten Zukunft zu verwechseln.

Dem zitierten Gott wird diese Haltung und der Mensch, der sie vertritt, sicher leid tun, wenn es ein Gott der Liebe ist. Selbst der Interviewer Armin Wolf erschien geschockt angesichts dieser Aussagen und warf dem Außenminister Zynismus vor, prallte aber ab: Es sei kein Zynismus, sondern eben realistischer Pragmatismus.  

Hinter der emotionalen Kälte verbirgt sich die Scham. Die Zustände im Flüchtlingslager Moria, das wir uns jetzt, da es abgebrannt ist, endlich merken müssen, waren und sind beschämend, für jeden, der in Europa ein ausreichendes und sicheres Leben führt. Die Scham knüpft an jene an, die uns befallen hat, als plötzlich hunderttausende Menschen mit Rucksäcken, Kinderwägen und Rollstühlen an den Grenzen standen, verzweifelt und hoffend. Um dieser Scham ja nicht wieder zu begegnen, wird der Deckmantel der Menschenverachtung und des Ekels über alle gebreitet, die sich anmaßen, an ihrem elenden Flüchtlingsschicksal etwas verbessern zu wollen.

Denn die Schamverdrängung von vor fünf Jahren wollen wir uns auch nicht mehr antun, die im Angstszenario des zusammenbrechenden Sozialsystems bestanden hat. Wie soll der Staat so viele Eindringlinge versorgen und all die Leistungen, derer wir uns erfreuen, aufrechterhalten? Die Ängste waren unberechtigt, aber sie haben die Scham übertönt. Also wird jetzt im Vorfeld gleich die Angst in Stellung gebracht, damit wir uns nicht schämen müssen, wenn wir die Bilder des verkommenen und überfüllten Flüchtlingslagers über den Bildschirm huschen.

Nichts gelernt seit 2015?

Das Ringen zwischen unmenschlichem „Pragmatismus“ und Menschlichkeit, in dem kurz die Menschlichkeit Oberhand bekam, hat letztlich die Abschottungspolitik für sich entschieden, und diesen Sieg wollen sich die Sieger nicht nehmen lassen.

Die Frontlinien der emotionalen Reaktionen auf die aktuellen Vorgänge sind die gleichen wie 2015: Die naiven Gutmenschen gegen die pragmatischen Zyniker. Fünf Jahre ohne Lernen, ohne innere Veränderung, was für ein Luxus, die wir uns leisten können, weil unsere Wohlstandssicherheit nur an der Oberfläche angekratzt wurde, ein kleiner Lackschaden. 

Die Katastrophe als Folge der Flüchtlingswelle ist ausgeblieben. „Wir“ haben das geschafft. Die Wirtschaft ist weiter gewachsen, die Löhne und Sozialleistungen sind gestiegen, die Pensionen kommen nach wie vor aufs Konto, die Kriminalität hat sich nicht wesentlich verändert, keine Katastrophe weit und breit. Sicher gibt es Schwierigkeiten, manche der 100 000 Migranten, die Österreich aufgenommen hat, tun sich leichter, manche schwerer. Der Arbeitsmarkt und das Bildungssystem haben viel zu tragen, aber es ist auch viel Arbeits- und Leistungskraft und Intelligenz in unser Land geströmt. Und Tausende Einheimische haben ihr Herz geöffnet, ihren Mut zusammengenommen und sind über ihren Schatten gesprungen, um den Neuankömmlingen zu helfen und ihnen unter die Arme zu greifen, bis sie Fuß gefasst haben. Es gab eine Welle der Hilfsbereitschaft, die nichts mit einer Katastrophe zu tun hatte, sondern ein kräftiges Lebenszeichen der Menschlichkeit darstellte.

Doch einigen geht es jetzt nur darum, dass die traumatische Erfahrung von damals, die durch die Fantasie einer Katastrophe erzeugt wurde, uns niemals wieder beunruhigen dürfe. Wer will schon retraumatisiert werden? Lieber emotional kalt und ungerührt das Elend verdrängen, als die Ängste von damals wieder spüren zu müssen. 100 unbegleitete Kinder, also Kinder, die ihre Familie verloren haben, aus Moria könnten die alten Panikgefühle wieder wachrufen. Also schicken wir Decken und Geld hin, damit das menschliche Leid weg von uns bleibt und wir es nicht in der Nähe der eigenen Haut spüren zu müssen.

Push und Pull

Da ist die Rede von Push- und Pullfaktoren, die auch Teil dieses realistischen Pragmatismus sind. Wenn 100 Kinder ins Land kommen und freundlich aufgenommen werden, dann spricht sich das herum und erzeugt einen Pull. Nur sind die Pullfaktoren keine Realität, die faktisch nachgewiesen werden könnte, sondern ein Konstrukt, dessen Wirksamkeit in der Wissenschaft kritisch bewertet wird. Ich denke mir, wenn ich nur ein paar Stunden in einem derartigen Lager verbringen müsste, hätte ich einzig und allein den Push-Faktor, dort rauszukommen, gleich wohin. Möglicherweise war dieser Effekt so mächtig, dass er zum Anzünden des Lagers geführt hat. Aber Herr Schallenberg hat da offenbar eine andere Erfahrung.

Symbolpolitik

Immer wieder ist dazu noch die Rede von der Symbolpolitik. Politik ist immer Symbolpolitik, deshalb ist das Schlagwort nicht geeignet, um damit andere Meinungen zu diskreditieren. Ein paar Migrantenkinder ins Land zu holen, sei ja nur ein Symbol ohne humanitäre Folgen, der Tropfen auf den heißen Stein. Die Migratenfrage bleibt dadurch ungelöst. Natürlich hätte ein derartiger Schritt auch Symbolwirkung: Ein Symbol für Menschlichkeit und für Hoffnung. 100 Schicksale werden zum Besseren gewendet. Den Schritt nicht zu setzen und die Aufnahme von Flüchtlingen zu verweigern, ist auch Symbolpolitik, nämlich die Symbolisierung von Unmenschlichkeit und Hoffnungslosigkeit und 100 Menschen nicht zu helfen. Die Migratenfrage bleibt dadurch genauso ungelöst und kommt nicht einmal einen minimalen Schritt weiter. Im Gegenteil, die österreichische Regierung (zumindest in ihrem türkisen Teil, der ja alle relevanten Ministerien umfasst: Innen-, Außen- und Integrationsressort) verstärkt die Spaltung innerhalb der EU und geht auf die Seite der osteuropäischen Länder, die jede Aufteilungsquote von Migranten ablehnen. Österreich positioniert sich als einziges Land in dieser Gruppe mit europäischem Spitzenwohlstand. 

Im Kontrast dazu haben viele Einzelpersonen, Gemeinden und Städte ihre Bereitschaft bekundet, einen Akt der Solidarität und der Menschlichkeit zu setzen. Das zeigt, dass dieses Land mehr verdient als unmenschliche Spitzenpolitiker, die mit hohlen Phrasen die Ängste der Menschen in diesem Land schüren, und dass es möglich ist, Menschlichkeit und Politik zu verbinden – eine Hoffnung, die wir nie aufgeben sollten.


Montag, 31. August 2020

Katzenbuckeln - eine Traumareaktion


Unter „fawning“ (engl.), übersetzt Katzenbuckeln (oder auch „Speichellecken“) versteht ein Zweig der Traumatherapie das Muster des „Es-allen- Rechtmachens”. Nach dem US-Therapeuten Patrick Walden, der diesen Ausdruck als vierte Form der Traumareaktion (neben Kämpfen, Flüchten und Erstarren) beschrieben hat, neigen Menschen mit diesem Muster dazu, sich an die Bedürfnisse anderer anzupassen, sodass sie sich oft in kodependenten Beziehungen wiederfinden und dort ihre Traumgeschichte wiederholen. 

Walden schreibt: „Katzenbuckel-Typen suchen Sicherheit, indem sie mit den Wünschen, Bedürfnissen und Forderungen der anderen verschmelzen. Sie handeln so, als ob sie unbewusst glaubten, dass der Eintrittspreis in jede Beziehung darin bestünde, all ihre Bedürfnisse, Rechte, Vorlieben und Grenzen aufzugeben.“

Hier eine Liste der klassischen Anzeichen des Katzenbuckelns. Diese Verhaltensweisen herrschen besonders dann vor, wenn ein Traumaüberlebender Angst verspürt oder getriggert wird:

Rechtmachen

Die Unfähigkeit zu sagen, was man wirklich fühlt oder denkt

Sich um andere zum eigenen Nachteil kümmern

Auf alle Bitten „Ja“ sagen

Anderen schmeicheln

Mit geringem Selbstwert kämpfen

Konflikte vermeiden

Das Gefühl, ausgenutzt zu werden

Großes Bemühen, mit anderen übereinzustimmen

Weil die Katzenbuckler-Typen Schwierigkeiten haben, sich Raum zu nehmen und ihre Bedürfnisse auszudrücken, sind sie verletzbarer durch emotionalen Missbrauch und durch Ausbeutung. In missbräuchlichen Umständen (z.B. beim Kindesmissbrauch oder bei Gewalt in Intimbeziehungen) können die Missbraucher die Flucht- oder Kampfreaktion des Opfers unterdrücken, indem sie Strafen androhen, sodass dem Opfer nur die Anpassungs- oder Erstarrungsreaktion zur Verfügung steht.

„Wenn uns die Macht oder Fähigkeit zum Kämpfen oder Flüchten fehlt, was sehr häufig bei komplexen Traumatisierungen vorkommt, werden wir erstarren, werden wir beschwichtigen oder dissoziieren,“ sagt Dr. Kathy Kezelman, Direktorin eines Traumazentrums. „Die Beschwichtigungsreaktion, die auch als Gefallenwollen oder Katzenbuckeln bekannt ist, ist eine weitere Überlebensreaktion, die auftritt, wenn das Opfer Gefahrensignale erkennt und sich fügen muss und die Konfrontation minimiert im Versuch, sich zu schützen.“

Wie ist das Erleben beim Katzenbuckler?

Alle Menschen suchen wir nach Beziehungen, die sich bequem und bekannt anfühlen. Für Traumaüberlebende des Anpassungstyps, die sich sehr bemühen, um in Beziehungen zu gefallen, kann das leider bedeuten, dass sie missbräuchliche Beziehungen anziehen, die sich bekannt anfühlen oder als etwas, das man „sich verdient“ hat. 

Ein Betroffener schreibt: „Je mehr ich mich in einer emotionalen Verbindung engagiert habe, desto unwahrscheinlicher war es, dass ich diese Person kritisiert habe oder dass ich angesprochen habe, wenn meine Grenzen überschritten wurden. Ich konnte mein Unglück über ihr Verhalten nicht ausdrücken und konnte auch nichts mitteilen, von dem ich dachte, es könnte die Beziehung zerstören. Es war notwendig, aus einer Freundschaftsbeziehung herauszutreten, die mich so tiefgründig erschüttert und zerstört hatte – während ich in die tiefsten Tiefen der Magersucht abrutschte –, bevor ich erkannte, dass das Verhalten, Personen nachzujagen, die kontrollierten, emotional unerreichbar und sogar missbräuchlich waren, meine Geist zerstörte. Ich suchte nach den emotional verschlossensten Menschen, und ich warf mich in diese Verfolgungsjagd, irgendwo im Glauben, dass ich meine Werthaftigkeit nur unter Beweis stellen könnte, wenn ich die Liebe und Zuwendung der am wenigsten erreichbaren Person sicherstellen könnte.“

Das bedingungslose Anpassen ist ein selbstbeschützender Panzer, wie die anderen Stressreaktionen. Es hat vielen Traumaüberlebenden ermöglicht, missbräuchliche und gefährliche Umstände zu überleben.

Es gibt keine „besseren“ oder „schlechteren“ Stressreaktionen, aber schädlich ist es, wenn man in einer von ihnen feststeckt. Obwohl das Katzenbuckeln die Angst besänftigen kann und dazu beitragen kann, sich im Moment sicherer zu fühlen, kann es tatsächlich die eigene Stimme zum Verstummen bringen und verhindern, sich zu heilen oder mit Menschen zu umgeben, die dem eigenen Wohlbefinden zuträglich sind.

Zur Diskussion

So einleuchtend die Anpassungsreaktion zum Schicksal einer durch emotionalen Missbrauch traumatisierten Person passt, so wenig passt sie allerdings in den „klassischen“ Kanon der Traumareaktionen: Kämpfen, Flüchten, Erstarren. Denn diese drei Reaktionsformen sind elementare und evolutionär tief verankerte Überlebensstrategien, die das vegetative Nervensystem zur Verfügung stellt und je nach den Umständen ohne bewusstes Zutun in einer Belastungssituation aktiviert. 

Die Reaktion des „Katzenbuckelns“ ist eine Form, über das bewusst gesteuerte Verhalten weitere Traumatisierungen zu verhindern und entsteht in der Folge einer komplexen Risikoabwägung, die allerdings auch im Unterbewussten vorgenommen wird. Oft ist sie die Folge von Drohungen, z.B. beim sexuellen Missbrauch: „Wenn du etwas über das sagst, was wir gerade gemacht haben, wirst du bestraft, also schweig!“ Scheinbar bietet diese Reaktion den Ausweg aus Situationen, die mit Kämpfen oder Flüchten nicht bewältigt werden können, weil die Abhängigkeit vom Täter so groß ist. Sie kann aber erst auftreten, wenn das Nervensystem wieder in einem sozial aktiven Zustand ist, also wieder eigene intentionale Handlungen erlaubt. Der parasympathische Lähmungszustand muss überwunden sein, und die sympathische Hocherregung im Kampf-Flucht-Modus muss abgemildert sein, damit sich das Anpassungsverhalten etablieren kann.

Gleichwohl ist dieser Verhaltenstyp weit verbreitet und oft tief in der Persönlichkeitsstruktur verankert, und seine Auswirkungen können viel Leid anrichten. Manche Menschen verstehen nicht, warum sie immer wieder in Beziehungen landen, die ihnen nicht guttun. Wenn sie erkennen, dass es die eigene Traumageschichte ist, die sie in solche Abhängigkeitsmuster führt, haben sie die Chance, den unterwürfigen Kater in eine selbstbewusste Raubkatze zu transformieren, wozu in jedem Fall eine therapeutische Begleitung angeraten ist.

Hier zur Quelle dieses Artikels.



Donnerstag, 20. August 2020

Stress und Immunsystem

Warum Sport gut für das Immunsystem ist und anderer Stress schlecht


Psychosozialer Stress wirkt sich in Hinblick auf die Ausschüttung von Stresshormonen gleich aus wie körperlicher Stress z.B. durch Sport. Doch im Erleben ist der Unterschied deutlich: Es gibt einen angenehmen und einen unangenehmen Stress, einen Stress, der uns nur körperlich ermüdet und einen anderen, der uns in jeder Hinsicht fertig macht. Wir sprechen von Eustress, also subjektiv als gut empfundenen Stress, und Distress, den wir möglichst schnell loswerden möchten.

Interessant ist, dass die Auswirkungen auf das Immunsystem entgegengesetzt sind: Sportstress, eine selbstgewählte und eigenkontrollierte Stressbelastung, stärkt das Immunsystem, während psychosozialer Stress, der von außen auferlegt ist und dessen Bedingungen nicht der eigenen Kontrolle unterliegen, das Immunsystem schwächt.

Eine an der Universität von Bochum durchgeführte Studie hat nun physiologische Unterschiede zwischen den beiden Stresstypen ausfindig gemacht. Dazu wurden 20 Sportstudenten getestet. Sie mussten zunächst am Laufband bis zur Belastungsgrenze trainieren. Dann wurden sie dem sogenannten Trier Social Stress Test unterzogen, bei dem die Versuchspersonen vor einem nüchtern agierenden Gremium und vor laufender Kamera ein fiktives Jobinterview führen müssen. Das ist ein bekannter Test, der nachweislich Stress auslöst.

Zunächst zeigte sich, dass der psychologische Test einen wesentlich höheren Stresshormonlevel erzeugte: Unangenehme soziale Situationen sind wesentlich belastender als körperliche Anstrengungen. Obwohl die Teilnehmer wussten, dass es sich um ein fiktives Bewerbungsgespräch handelte, reagierten sie mit stärkerem Stress als beim Training.

Da bei beiden Stressformen die gleichen Hormone (Noradrenalin und Cortisol) ausgeschüttet wurden, suchten die Forschern nach anderen physiologischen Komponenten und stießen dabei auf die zellfreie DNA, das ist eine DNA, die unter bestimmten Bedingungen im Blutkreislauf zirkuliert. Diese DNA weist beim psychosozialen Stress andere Methylierungsmuster auf als bei der körperlichen Anstrengung. Methylierungsmuster entstehen durch chemische Gruppen, die Enzyme an die DNA anhängen, um den Ableseprozess zu regulieren. Das deutet darauf hin, dass die DNA aus unterschiedlichen Körperregionen stammt.

Offensichtlich gibt es ein Netzwerk zwischen Immunzellen, Muskeln und Gehirn. Unter Belastungen geben die Muskeln zellfreie DNA ab. Das Immunsystem reagiert darauf und wird aktiv. Also werden beim körperlichen Training möglicherweise auch die Immunzellen trainiert. Wenn hingegen die zellfreie DNA aus dem Gehirn stammt, wie es beim psychosozialen Stress der Fall ist, kann das gegensätzliche Wirkungen aufs Immunsystem ausüben, wodurch verständlich wird, warum psychosozialer Stress über kurz oder lang zu Krankheiten und Burn-Out führt.

Hier zur Originalstudie

Freitag, 14. August 2020

Der Mensch und die Großstadt

Die Urheimat und Lebensform der Menschen ist die Stammesgemeinschaft in weiten Räumen. Diese Form des Zusammenlebens hat Millionen von Jahren der frühen Menschheitsgeschichte bis weit in die Gegenwart bestimmt. Die Menschen lebten in nächstem Kontakt mit der Natur, in überschaubaren Gemeinschaften, in denen jeder jeden kannte. 

Erst mit dem Aufkommen von Hochkulturen vor etwa 5000 Jahren entstanden städtische Siedlungen, in denen mehr Menschen auf engem Raum zusammenlebten. Auch wenn die städtischen Kulturen inzwischen lange Traditionen aufweisen und eigene Regeln für die Gemeinschaft erfunden haben, die die Grundlage für die allgemeinen Bürgerrechte und –freiheiten darstellen, zeigen sie doch als menschliche Erfindungen ein deutliches Abrücken von der Natur und von einer naturnahen Lebensweise dar.

Mensch-Natur-Konflikte sind Mensch-Mensch-Konflikte

Mit dem Wachsen der Städte zu Groß- und Millionenstädten verstärkte sich dieser Trend, der zunehmend das Miteinander von Mensch und Natur durch einen Gegensatz ersetzt. Das Eingebundensein in die Abläufe der Natur, wie es für die frühen Stammeskulturen und noch länger für die Landbewohner prägend war, verblasst und macht einem Konflikt zwischen Mensch und Natur Platz – ein Gegensatz, der mehr und mehr zu einer Gegnerschaft hochstilisiert wurde und die Grundlage für die gedankenlose Naturzerstörung bildet, die im Zug der kapitalistischen Naturaneignung inzwischen bedrohliche Ausmaße angenommen hat. Natürlich kämpft nicht die Natur gegen die Menschen, sondern widerstreitende Interessen in den Menschen selber schaffen diesen Konflikt, der maßgeblich durch die Entwicklung der Stadtkultur angefacht wird.

Die andere Seite dieser Entwicklung besteht in den sozialen Veränderungen, die oft mit dem Stichwort Anonymisierung beschrieben wurden. In einer Großstadt kennt man kaum jemanden und ist von vielen Fremden umgeben, und das auf engstem Raum. Durch die Enge entsteht Stress, denn die Kontrolle, die wir über unsere Umgebung ausüben können, schwindet, wenn die anderen so nahe rücken wie in einem vollen U-Bahn-Abteil oder einem Gedränge im Supermarkt. Um diesen Stress zu bewältigen, müssen sich die Stadtbewohner abhärten und nach innen zurückziehen. Die Außenhaut muss undurchlässig bleiben und darf nichts hereinlassen, selbst wenn der Nachbar auf Tuchfühlung im Mittelgang der Straßenbahn direkt an einen selber angrenzt. Das Spüren muss sich ganz nach innen zurückziehen, die Außensinne halten ein wenig Kontrolle aufrecht. Es ist ein unangenehmer Zustand, der mit einer unterschwelligen Stressbelastung verbunden ist.

Diese Abschottung wird zur Gewohnheit und zum Teil der städtischen Lebensform. Der Stadtbewohner bewegt sich mit einer emotionalen Rüstung durch das Getriebe der Menschen und stößt da und dort auf die Rüstungen der anderen. Der Stress der Nähe und Enge ist eine Normalität und Konstante dieser Lebensform. Der Preis ist die latente Stressanhäufung, die chronifiziert wird. Das macht die Stadterfahrung zu einer Hektikerfahrung. Es ist nicht nur die höhere Schnelligkeit, mit der das Stadtleben im Vergleich zum Landleben pulsiert, sondern vor allem die höhere Gereiztheit, unter der jede Stadtbewohnerin leidet, ob sie will oder nicht. Die Abkapselung, die alle in der Stadt auf sich nehmen müssen, bewirkt eine gesteigerte Empfindlichkeit.

Dazu kommt, dass die städtische Lebensweise von sich aus auf Schnelligkeit angelegt ist. Uhren wurden in den Städten erfunden und verbessert, sodass sie immer kleinere Zeiteinheiten anzeigen können – Symbol für die Verkürzung und Verknappung der Zeit, die einen wichtigen Aspekt des Wirtschaftens darstellt, das ebenso in den Städten entwickelt wurde.

Landbewohner erleben Stadtbewohner häufig als weniger freundlich und herzlich. Das ist auch kein Wunder, weil die städtische Lebensweise ihren Preis in Stress und innerer Anspannung hat. Zusätzlich wirkt Stress ansteckend, sodass sich schwerlich jemand entziehen kann. 

Deshalb suchen viele Städter das Land und die Natur zum Ausgleich, sei es auch nur, indem sie sich eine Schlafstätte im grüneren Speckgürtel ihrer Großstadt suchen, zu der sie abends heimkehren und von der sie sich morgens zur Arbeit in der Stadt stauen. Die geringere Menschendichte und die stärkere Präsenz der Natur bewirken schnell eine Entlastung vom Stress. Die Natur übt keinen Druck aus, dadurch können sich die Gehirne entspannen und sicher fühlen.

Der Stau ist übrigens ein typisches Stadtsymptom: Fahrzeuge gehen auf Mindestabstand und können sich nicht mehr bewegen. Die Insassen leiden unter dem Zeitdruck, der mit jeder Sekunde der Fortdauer des Staus, steigt und unter der Hilflosigkeit und dem Kontrollverlust. und sorgt für eine Stresssteigerung. 

Ein Lob des Stadtlebens

Wenn nun das Stadtleben so ungesund für die Menschen ist, liegt es nahe zu sagen, dass alle aufs Land übersiedeln sollten. Klarerweise haben wir schon lange nicht mehr den Platz auf diesem Planeten, dass sich jeder der 7,8 Milliarden Menschen ein Haus mit Garten in unberührter Landschaft schaffen könnte. Wir brauchen die Städte und ihre Bewohner, und sie brauchen unser Mitgefühl und nicht unser Besserwissen oder naive Überheblichkeit, wenn wir vom Land kommen. Wenn wir in der Stadt leben, sollten wir uns dieser Herausforderungen bewusst sein und das Unsere dazu tun, was es braucht, um die Stressbelastung so klein wie möglich zu halten und damit zur allgemeinen Entstressung beizutragen. Denn Gelassenheit und Freundlichkeit wirken auch ansteckend.

Die Stadtbewohner haben die Idee von Toleranz und Respekt erfunden. Da sich viele unterschiedliche Menschen in den Städten treffen, Einheimische, Zugezogene und Fremde, braucht es besondere Tugenden, um mit diesen unterschiedlichen Zugehörigkeiten zurechtzukommen. Damit haben die Städte den Sprung von Partikulargesellschaften zu einer Weltgesellschaft vorbereitet und die dafür notwendigen Werte bereitgestellt.

Wir brauchen auch die städtische Lebensweise, weil sie in einer besonderen Form Kreativität und Vielfalt hervorbringt. Die Monotonie des Landlebens hat ihre Meriten, und der Abwechslungsreichtum der Stadt ebenso. Wo viele Menschen zusammenleben, entstehen viele Ideen und Konzepte aus den unterschiedlichen Köpfen, die sich in einer Stadt begegnen und austauschen. Man könnte auch sagen, Reibung befruchtet. Die Menschen würden ohne Städte nur dörflich denken, und das wäre doch zu dürftig und beschränkt. Die Enge der Lebensräume in der Stadt kontrastieren mit der geistigen Weite, die gerade dadurch möglich wird und für die Zukunft der Menschheit unverzichtbar ist.


Mittwoch, 12. August 2020

Angstkonditionierung und Corona-Reaktion

 Angstkonditionierung

Wie wir auf Gefahren und unsichere Situationen reagieren, hängt von unserem Angstmuster ab und dieses Muster verweist auf die Grundprägung, die wir in unserer Kindheit erfahren und erlitten haben. Das Überlebensprogramm, das uns in unseren Anfängen unterstützt hat, wird immer dann aktiviert, wenn wir uns irritiert oder verunsichert fühlen.

Wir sehen ganz unterschiedliche Reaktionen auf die große Unsicherheit, die durch die Pandemiesituation entstanden ist. Manche Menschen reagieren auf die Angstpropaganda, die von regierenden Kreisen gesteuert wird, extrem ängstlich und folgen penibel allen Verordnungen und Vorschlägen. Die Ängstlichkeit motiviert sie dann, andere anzuschwärzen oder sogar anzuzeigen, die die Vorschriften nicht so genau befolgen. 

Es könnte sein, dass diese Menschen eine angstgesteuerte innere Erwartungshaltung haben, die annimmt, dass die Welt im Grund bedrohlich, unübersichtlich und ungewiss ist und dass sie  beständig auf der Hut sein müssen. Sie halten deshalb unbewusst ständig Ausschau nach Angstmachern und folgen ihnen dann bedingungslos. Solche Menschen nehmen jede von außen wahrgenommene Bedrohung besonders deutlich ernst und übersetzen sie als Angst in ihr eigenes Inneres, wo die Angsterwartung wiederum genährt wird. 

Autoritätshörigkeit

Zu den Ängstlichen gesellen sich die Autoritätshörigen. Sie haben früh gelernt, dass es wichtig ist, allem zu folgen, was von höherer Stelle befohlen und empfohlen wird. Das Vertrauen in die Weisheit der Autoritäten kann so weit gehen, dass, wie in den USA geschehen, Gift geschluckt wird, weil es der Präsident als Heilmittel empfiehlt. Häufig finden sich die Ängstlichen mit den Autoritätshörigen in Personalunion.

Die Regierenden und die Unmündigkeit

Wer Regierungsverantwortung trägt, muss in einer Gesellschaft mit unmündigen Mitgliedern auch etwas Angst streuen, um Verhaltensänderungen auch bei jenen zu erreichen, die dazu zu bequem oder uneinsichtig sind. Kindliche Reaktionen erfordern eine strenge Autorität, die zur Verantwortung ruft. Die oben geschilderten Reaktionstypen sind die Adressaten für diese Form der Massenbeeinflussung und Propaganda. 

Virale Bedrohungen sind nicht sichtbar wie ein Tsunami, eine Bombenexplosion oder ein Bösewicht im Wohnzimmer. Ihre kurz- oder längerfristigen Wirkungen können mit laienhaften Mitteln nicht abgeschätzt werden, ebenso wenig wie die notwendigen Maßnahmen zur Eindämmung der Gefahr. Deshalb neigen viele dazu, die Gefahren zu vernachlässigen, ihre Gewohnheiten beizubehalten und sich nur unter äußerem Druck regelkonform zu verhalten. Sie müssen bei Strafe gezwungen werden, Maßnahmen einzuhalten, die vielleicht im Einzelfall überflüssig und sinnlos sind, im Ganzen aber das Infektionsrisiko eindämmen.

Die Angst um die Freiheit

Andere Menschen nehmen die Einschränkung ihrer Freiheit angesichts dieser Herausforderungen besonders wichtig  und leiden darunter. Sie fühlen sich durch alle Maßnahmen und Regelungen eingeengt und ihrer Freiheit beraubt. Ihre Angst besteht darin, dass sie sich einer Autorität unterordnen müssen und damit ihre Autonomie verlieren, sei es auch nur durch das Tragen einer Mundschutzmaske. Sie meinen, dass sie über eine bessere Einschätzung bezüglich der Wirkmächtigkeit und Sinnhaftigkeit der vorgeschriebenen Regeln verfügen und dass es deshalb um vorsätzliche Bevormundung und Freiheitsberaubung geht. Sie wehren sich deshalb mit allen Mitteln des Trotzes gegen jedwede Vorschriften und befürchten das Ende der freien Demokratie. Diese Angst kann sich zur Verschwörungstheorie ausweiten, dass das Virus genau zu diesem Zweck freigesetzt wurde, nämlich überall Diktaturen zu errichten.

Die unterschiedlichen Angstorientierungen betreffen nicht nur die „Laien“, sondern auch die „Experten“. Auch Ärzte und Wissenschaftler sind von ihrer Angstgeschichte betroffen und fällen daraus die Urteile über die Richtigkeit oder Falschheit von Maßnahmen. Der Vorteil der Wissenschaften liegt allerdings darin, dass die emotionalen Prägungen der Forscher durch den Vergleich mit anderen und die beständige Rückkoppelung mit der Wirklichkeit herausgefiltert werden und im Erkenntnisprozess keine Rolle spielen können.

Kollektive Angstbereitschaft 

Situationen von Unsicherheit und diffuser Bedrohung hat es immer wieder in der Menschheitsgeschichte gegeben. Z.B. war die Nachkriegszeit bis in die neunziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts geprägt von der Angst vor einem möglichen Atomkrieg der Supermächte. Die Zeiten von kollektiver Sicherheit sind eher die Ausnahme. Deshalb ist es nicht verwunderlich, dass mit jeder Krise nicht nur die individuellen Angstquellen angezapft werden, sondern dass auch die kollektive Angstbereitschaft aktiviert wird und die individuellen Reaktionen zusätzlich verschärft.

Ungewissheitstoleranz

Die Situation des Lockdown war und ist für viele eine beträchtliche Belastung, oft verbunden mit drastischen wirtschaftlichen Nachteilen. Ebenso enthält jeder gravierende Verlauf einer Covid-Erkrankung ein schweres Schicksal. Die Ängste hingegen, die die Menschen antreiben oder lähmen, sind älter als die tatsächlichen aktuellen Erfahrungen, die wir bei uns selbst und bei Nahestehenden sammeln. Und sie sind mächtiger als die unterschiedlichen Informationen, die uns helfen könnten, die eigenen Intentionen und Orientierungen zu klären.

Es wird viel geredet und „gerechthabert“ in diesen Zeiten, es wird viel mit „der Wahrheit“ herumgefuchtelt, und das zeigt, wie tief die Verunsicherung ist und mit welchen Ängsten sie konfrontiert. Wenn wir es nicht schaffen, mit der Relativität der Erkenntnisse und Einsichten zu leben, müssen wir zu absoluten Wahrheiten greifen, um dort eine vermeintliche Sicherheit zu finden. Allein, die Suche ist vergeblich, weil sie nur in unserem Verstand stattfindet, der sich aus unseren Ängsten speist. Was wir brauchen, ist die Fähigkeit, mit der Unsicherheit und dem Nichtwissen zu leben und die Ängste anzunehmen, die dadurch hochkommen. Dann brauchen wir nicht den großen Durchblick und die unbestechliche Wahrheit, dann brauchen wir keine Erleuchtungen über irgendwelche Drahtzieher und Verschwörer.


Donnerstag, 6. August 2020

Politik nach Corona

Die Covid-Krise stellt die Regierenden in der ganzen Welt vor komplexe Herausforderungen. Es gibt ein klares Resumee: Die Krise kann nur gemeistert werden, wenn die Regierenden Experten zuhören. Sie können keine Richtlinien aus ihren Ideologien finden, um diese Krise zu meistern. Denn es gibt keine Ideologie zur Bewältigung einer Pandämie. Ideologien mischen sich allenfalls in die Regelungen der Auswirkungen der Krise: Soll der Staat den Leuten, die ihre Arbeit und ihr Geschäft wegen eines Lockdowns verlieren, unter die Arme greifen oder sie ihrem Schicksal überlassen? Sollen Regeln erlassen werden, um die Gefährdeten zu schützen oder soll jeder machen, was er will? 

Ideologien können sich auch in das Krisenmanagement einmischen, wie das manche Politiker versucht haben: Wir sind die heroischen Einzelkämpfer einer gesunden Rasse und setzen auf die Herdenimmunität, d.h. wir nehmen die Toten in unseren Reihen in Kauf, um dann am Ende als die strahlenden Sieger dazustehen. Oder: Das Virus ist eine Erfindung unserer Gegner, die unsere Wirtschaft treffen wollen, aber es ist viel zu harmlos. Wir lassen uns nicht einschüchtern, wir machen weiter, als wäre nichts und sind dann die Besseren.  

Mittlerweile ist absehbar, dass diese ideologischen Einmischungen gescheitert sind. Nach den Erfahrungen mit der Unberechenbarkeit des Virus und seiner ganz unterschiedlichen Auswirkungen sind zunehmend mehr und mehr Regierende auf eine Linie eingeschwenkt, nämlich jene, die von der großen Mehrzahl der Experten vorgeschlagen wurde. 

Das Versagen der Populisten


Die Populisten haben auf ganzer Linie versagt, sie konnten nichts beitragen zur Verringerung von Infektionen oder Todesfällen. Populisten sind zumeist Feinde von Expertenwissen, weil sie denken, selber die Experten in allen relevanten Belangen zu sein. Sie sind auch den Wissenschaften gegenüber misstrauisch, weil sie ihren subjektiven, gefühlserzeugten Wirklichkeitsbegriff gegenüber den Wissenschaften inhaltlich nicht verteidigen können. Auf dem ideologisch eingefärbten Wirklichkeitsbegriff mit seinen Freund-Feind-Mustern beruht der ganze Erfolg der populistischen Propaganda. Differenziertere Sichtweisen, wie sie von den Wissenschaften kommen, passen nicht zu den vereinfachten Weltbildern. Deshalb müssen die Wissenschaften diskreditiert werden. Alles, was komplex erscheint, ist verdächtig. 

Populisten verfügen über die Schläue, die ihren Machthunger unterstützt, aber nicht über ein Gespür für Feinheiten und Komplexitäten. Sie müssen sich eine eigene Wirklichkeit erschaffen, denn die „wirkliche“ Wirklichkeit ist differenziert und komplex. Und sie müssen die Erforscher dieser Wirklichkeit bekämpfen, damit sie ihr simples, von Emotionen erzeugtes Realitätsmodell aufrechterhalten können.

Rückkoppelung mit Experten


Dort, wo die Politik Erfolge in Bezug auf die Pandemie verzeichnen kann, stützt sie sich auf Experten aus verschiedenen Gebieten zwischen Medizin, Soziologie und Mathematik, die die relevanten Fakten, Berechnungen und Entscheidungsgrundlagen liefern. Die Verantwortung der Politiker ist es dann, die Entscheidungen zu treffen, aber eben nicht aus irgendeinem Bauchgefühl heraus, sondern in Abstimmung mit denen, die sich in dem betreffenden Bereich am besten auskennen.  

Faktenbasierte Politik ist kein Zauberwort, sondern entspricht der Aufgabe von demokratischen Politikern, Politik im Sinn des Gemeinwohls zu gestalten, also eine größtmögliche Zahl von Interessen und Bedürfnissen der unterschiedlichen gesellschaftlichen Schichten zu berücksichtigen. Dafür ist der Austausch notwendig, zwischen den Entscheidungsträgern und den Betroffenen sowie mit den Experten, die tiefere Einblicke für bestimmte Sachbereiche mitbringen, also eine dia- oder multilogische Politgesellschaft, eine zuhörende Gesellschaft nach Hanzi Freinacht.  

Wer mit Regierungsmacht ausgestattet ist, braucht sich nicht durch ein Besserwissen auszuzeichnen, sondern durch eine besondere Gabe, die richtigen Fragen an die richtigen Leute zu stellen und das Ganze der Gesellschaft immer im Auge zu behalten. Die Besserwisserei ist ein Hindernis für eine evolvierte Form der Machtausübung. 

Ein Modell für die Zukunft


Das ist ein Modell für die Zukunft: Experten kommen zusammen, die Politiker hören zu, Experten helfen bei der Evaluation des Expertenwissens und bereiten die Entscheidungsgrundlagen auf, mittels derer dann die Politiker entscheiden. Die Folgen der Entscheidungen werden von den Experten evaluiert und die Maßnahmen werden dann notfalls rückgängig gemacht oder verbessert und den veränderten Bedingungen angepasst.  

Österreich hatte durch die Gunst der Umstände die Chance, für einige Monate das Experiment einer Expertenregierung zu erproben. Die Zufriedenheit mit dieser Regierung in der Bevölkerung war hoch, die Abwesenheit von Ideologien als bestimmenden Momenten für die Machtausübung wurde offensichtlich nicht vermisst. Politik, die die Experten gehört hat und hinter sich weiß, genießt offensichtlich mehr Vertrauen als eine, die nur durch perfekte mediale Selbstdarstellung glänzt oder Ideologien vor sich her trägt. 

Die Corona-Zeit könnte ebenfalls als wegweisend in diese Richtung genutzt werden: Die politische Macht in den Dienst einer Problembewältigung mit ausgewogener Berücksichtigung der sachlichen und der sozialen Notwendigkeiten unter Einbeziehung der Wissensressourcen aus den Wissenschaften zu stellen.  

Politik kann es nie allen recht machen, das gelingt uns schon im Kleinen von Familien oft nicht. Auch das zeigt die Corona-Zeit: In einer entwickelten Gesellschaft wird es immer unterschiedliche Meinungen und Sichtweisen geben. Die oft extrem weit auseinanderliegenden Gefahreneinschätzungen und subjektiven Perspektiven auf das Phänomen dieser Infektion und die starken Emotionen, die davon ausgelöst werden, weisen einerseits darauf hin, dass eine entwickelte Gesellschaft einen weiten Toleranzbereich benötigt, und andererseits, dass sie von ihren Mitgliedern verlangen müsste, die eigene Emotionalität soweit zu kennen, um unterscheiden zu können, ob situationsadäquate Realitätswahrnehmungen möglich sind oder kindliche Erfahrungsmuster die Reaktionskontrolle übernommen haben. 

Der Vorzug von Expertenwissen besteht darin, dass es in der Regel unabhängig von eigenen Interessen und Werthaltungen ist und dass es also einen höheren Objektivitätsgehalt hat als alle anderen Formen des Wissens. Dieses Wissen entsteht in Prozessen permanenter Rückkoppelung und Überprüfung und wird laufend verbessert und weiterentwickelt. Es entzieht sich damit der Verfügungsgewalt von Einzelnen, die immer manipulations- und korruptionsanfällig sind.  

Deshalb braucht auch eine Politik, die die Gesellschaft in einer allen Mitgliedern dienlichen Weise weiterentwickeln möchte, eine Rückkoppelung zu solchen Formen des Wissens. Auch politische Entscheidungen müssen permanent evaluiert werden, nicht nur im Sinn ihrer vordergründigen Popularität oder Akzeptanz, sondern auch im Sinn der Effektivität und Verträglichkeit in Hinblick auf die Gleichheit in der Gesellschaft und auf die Natur im Ganzen.  

Das Virus, das uns in Bann hält, zwingt uns genau dazu. Wenn wir einen Funken unseres Verstandes nutzen, wird er uns nahelegen, diese Form des Politikmachens mit Rückkoppelungen zum Expertenwissen und Zuhören auch für andere Bereiche der Zukunftsgestaltung zu verwenden. 

Freitag, 31. Juli 2020

Die Liebenden im 21. Jahrhundert

Die Liebenden“ bilden einen der klassischen Archetypen. Sie repräsentieren das Urbild und und zugleich die Idealform einer gelingenden Beziehung zwischen zwei Menschen. Vorzüglich geht es um Paarbeziehungen, aber auch alle anderen zwischenmenschlichen Beziehungen haben mit diesem Archetypen zu tun. Schließlich geht es auch um die Selbstbeziehung, um die Innendimension, die bei jeder „Außenbeziehung“ mitspielt.

Die Spannung, die mit jedem der Archetypen bezeichnet wird, hängt damit zusammen, dass der zeitlose Inhalt – das „Lieben“ als solches – mit den eigenen persönlichen Prägungen und dem kulturellen Entwicklungsstand in Verbindung gebracht werden muss. Was unter Liebe zu verstehen sei, ist einem Wandel in der Zeit unterworfen und muss fortwährend neu erschlossen und erarbeitet werden. Hier möchte ich ein paar Gedanken entwickeln, die mit dem Liebesbegriff unserer Zeit zu tun haben.


Das romantische Liebesideal


Unser Liebesideal ist stark von der Romantik geprägt, das zeigt uns jeder amerikanische Liebesfilm und jeder Romanbestseller. Ob ich glücklich bin im Leben, hängt davon ab, ob mich ein anderer Mensch vollständig und abgöttisch liebt. Wir wissen natürlich, dass solche Liebeserwartungen aus kindlichen Frustrationen abstammen, die aus der mangelnden Fähigkeit unserer Eltern im Bereich der „interaktiven Affektregulation*“ entstanden sind. In dem Maß, wie sie unsere emotionalen Bedürfnisse missverstanden oder übersehen haben, bilden sich innere Löcher, die dann durch erwachsene Liebesbeziehungen gefüllt werden sollten. 

Die romantische Liebe ist also geprägt vom Illusionsmodell der Füllung frühkindlicher emotionaler Löcher und Mängel, vom Versprechen, dass es irgendwo auf der Welt den Menschen gibt, der alles hat, was unser inneres verhungertes Wesen entbehrt. Diese Form der Liebe ist eng mit einer Sehnsucht verknüpft, die nie zufrieden ist und immer weiter suchen muss. Die Sehnsucht besagt, dass es einmal ein Ende geben müsste mit dem Leiden an der Liebe und der Frustration. Deshalb reimt sich Herz und Schmerz im Kitsch und deshalb geht jede Liebeskomödie und jedes Liebesdrama durch Phasen der Distanzierung und Verletzung und findet dann vielleicht zum Happy-End oder auch nicht. Denn in der Sehnsucht ahnen wir auch, dass wir einer Illusion nachrennen.

Im Ideal der romantischen Liebe steckt eine weitere Sehnsucht, die angesichts der steigenden Erwartungen an das Glücksversprechen Beziehung immer wichtiger wird. Es ist die Sehnsucht nach Unbefangenheit und Unschuld in der liebenden Begegnung. Sie befindet sich in einem Spannungsbogen zu den Ungewissheiten und Unsicherheiten im Feld der Begegnung, das oft einem Minenfeld gleicht: Eine falsche Bewegung, und die Bombe geht hoch. Ein Wort, ein Blick, eine Berührung, als lieblose Botschaft interpretiert, und schon ist die Liebe dahin. Kleine Fehler oder Missverständnisse können desaströse Konsequenzen haben.

Woher kommt die hohe Sensibilität und Empfindlichkeit, die wir in die Beziehungen hineinbringen? Woher kommt die Erwartung, dass bis in die kleinsten kommunikativen Nuancen ein optimales Eingehen auf die eigenen Bedürfnisse als selbstverständlich vorausgesetzt werden darf? Über viele Jahrhunderte zumindest der europäischen Geschichte war die liebevolle und zärtliche Liebesbeziehung, wie wir sie heute als trendsetzende Norm annehmen, die seltene Ausnahme. Ehepartnerschaften waren ökonomische Zweckgemeinschaften verbunden mit der Aufgabe, Kinder zu kriegen, die die eigene Altersversorgung absichern. Die wirtschaftlichen Überlebenszwänge waren so mächtig, dass sich ihnen alle emotionalen Befindlichkeiten unterordnen mussten.

Die Verfeinerung der Menschenrechte


Erst durch die Entlastung von diesen Zwängen, die durch die Phasen der Industrialisierung für immer mehr Menschen möglich wurde, konnte das romantische Liebesideal zum Leitbild werden, zum Maßstab für ein gelungenes Leben. Zugleich bewirkt die umfassende Absicherung der Existenz, wie sie in unserer Wirtschaftsform angestrebt wird, das Zutagetreten der feineren emotionalen Bedürfnisse, die in den Liebesbeziehungen erfüllt werden sollen. Da wir von vielen Existenzsorgen freigespielt sind, melden sich die tieferliegenden Mängel in den Emotionalkörpern. Der Fortschritt in der inneren Befreiung muss weitergehen. Es genügt nicht, dass die Menschenrechte auf einer allgemeinen Ebene respektiert werden, vielmehr ist das Ziel, alle Ebenen des Zusammenlebens mit Achtung und Wertschätzung zu durchdringen – ein hehres Ideal, das oft schon im Beziehungsalltag an Kleinigkeiten scheitern kann.

Die hohe Sensibilität vieler Menschen, Folge früher oder oft über Generationen weitergegebener Traumatisierungen, wird zunehmend als besondere Persönlichkeitsqualität geachtet und nicht mehr als z.B. „hysterisch“ pathologisiert. Denn es braucht sensible Menschen, damit subtile Machtstrukturen und Abwertungsmechanismen aufgedeckt werden können, die andere für selbstverständlich halten und ohne Hinterfragung praktizieren. Symptome dieser Entwicklung sind die Verfeinerung und Verschärfung von Standards, Verhaltensweisen – vor allem im sexuellen Bereich – an den Pranger zu stellen, die vor längerer Zeit gängig, vor kürzerer Zeit Kavaliersdelikt waren, und jetzt strafbar geworden sind.

Systematisch werden die Verzweigungen des patriarchalen Machtgefälles zwischen Männern und Frauen thematisiert und in der Öffentlichkeit diskutiert, und nur mehr rechtsgerichtete Politiker oder Publizisten können sich leisten, die Patriarchen in Schutz zu nehmen (und müssen mit Shit-Storms rechnen). Es ist ein Fortschritt über Bewusstsein der Menschenrechte, dass Macht, die ohne sachlichen Grund über Menschen ausgeübt wird, eingeschränkt werden muss. Menschen können Macht ausüben, indem sie Hass in sozialen Medien verbreiten oder Fotos von Intimbereichen machen und veröffentlichen. Das nicht mehr als bloß unangenehme Zeiterscheinung, sondern als Delikt gegen die Menschenrechte anzusehen, ist eine notwendige Entwicklung, um die Rechte der Personen und damit ihre Integrität effektiv zu schützen.

Sensibilität und Toleranz


Diese Entwicklung zu einer menschengerechteren Gesellschaft, die vom Wunsch nach mehr Liebe getragen ist, führt andererseits dazu, dass die individuellen Ansprüche steigen und damit die Möglichkeiten für Missverständnisse und Konflikte in Beziehungen anwachsen. Der  Zugewinn an Feinfühligkeit und Sensitivität kontrastiert mit einem Mangel an Toleranz für jede Unsicherheit oder Unbeholfenheit. Die neuen Standards werden oft mit der Wut eines hilflosen Kleinkindes eingefordert, und die erwachsene Person kombiniert sie mit der Drohung des Beziehungsabbruchs.

Wir brauchen also auch ein Weiterwachsen in der Kultur der Toleranz und der Nachsichtigkeit. Emotionale Lernprozesse entwickeln sich in ihren eigenen individuellen Geschwindigkeiten und nicht nach der Maßgabe von überzogenen Erwartungen und emotionalem Druck. Beides also, die Verfeinerung in der Thematisierung von kommunikativen Unstimmigkeiten und Lieblosigkeiten und die Kraft, sie auszuhalten ohne auszurasten, ist notwendig, um Liebesbeziehungen im 21. Jahrhundert in Balance halten zu können. Wir brauchen eine angemessene, gewaltfreie Sprache, um unsere individuellen Bedürfnisse und Erwartungen im Dialog abzustimmen und damit Räume für die liebende Begegnung öffnen.

* Unter der interaktionellen Affektregulation (nach Allan Shore) versteht man konkordante, auf die Bedürfnis- und Gefühlslage des Babys abgestimmte Reaktionen der Eltern, die die Grundlage für das Erlernen der schrittweisen Regulation der Gefühle beim Baby bilden. In den gelungenen affektiven Interaktionsprozessen zwischen Mutter und Kind wachsen die entsprechenden neuronalen Verschaltungen, die es dem Kind zunehmend erlauben, seine Gefühle in den Griff zu bekommen und eine erfüllte Selbstbeziehung aufzubauen. Näheres dazu in meinem neuen Buch: „Die Scham, das geheimnisvolle Gefühl“ (im Erscheinen).

Montag, 13. Juli 2020

Wirklichkeit und Fantasieprodukte

Was ist die Wirklichkeit? Das, was wir als wirklich über unsere Wahrnehmung erfahren, so die bescheidene Antwort, seit Immanuel Kant jede andere Form der scheinobjektiven Erkenntnis einer profunden Kritik unterzogen hat.

Wir verfügen über eine direkte Wirklichkeitserfahrung, die uns die Sinne liefern, nämlich über die aus der inneren und der äußeren Wirklichkeit (die Welt unserer Körperempfindungen, Gefühle usw. und die Welt außer uns, die wir sehen, hören, riechen usw.). Wir befinden uns aber nicht immer in einem dieser beiden Kanäle der Erfahrung, sondern halten uns recht häufig in den Bereichen der mentalen Produktionen auf, im mentalen Kino, das von der Wahrnehmungswirklichkeit relativ unabhängig ist. Es ist eine Welt, die zu einem großen Teil aus selbstfabrizierten Konzepten und Erzählungen besteht.

Wir haben die Neigung, in eine Geschichte zu kippen, sobald uns etwas an der aktuellen Wirklichkeit nicht gefällt. Es sind also vor allem Ängste vor etwas Lästigem oder Verstörendem, die uns aus dem Moment weglocken und in die Fantasie führen. Dort hoffen wir, die unangenehmen Gefühle überschreiben zu können, um innerlich wieder in die Komfortzone zu gelangen. Wir beamen uns weg, und die Gefühle verändern sich gleich mit. Auf diese Weise entwickeln sich Gewohnheiten für die Vermeidung von Ängsten, Schmerzen und Schamgefühlen.

Beispiel: A hat den Eindruck, von B feindselig angeschaut zu werden. Dann läuft eine Geschichte ab, was in B vorgeht, ohne Bezugnahme auf eine Quelle der Evidenz. Die Geschichte kann in A feindselige Gefühle gegen B auslösen, gespeist von früheren Erfahrungen mit B oder mit jemandem, an den B erinnert. B war vielleicht gar nicht auf A fokussiert, sondern mit etwas anderem innerlich beschäftigt. Ohne Nachfrage von A: “Hast du was gegen mich?” lässt sich der Sachverhalt nicht aufklären und bleibt in einer Wolke, die sich jetzt zwischen A und B aufbaut, erhalten. Wenn A jetzt finster schaut, kann eine ähnliche Geschichte in B entstehen. An einem bestimmten Punkt können sich die Wolken entladen, und es kommt zu einem Gewitter, bei dem jeder der beiden das Gefühl hat, dass der Anfang, die Ursache und die Schuld des Konflikte beim anderen liegt.

Geschichten sind Produkte der Fantasy-Abteilung unseres Gehirns. Sie speisen sich aus Erlebtem und kombinieren es mit Erfundenem, daraus entsteht ein Werk namens „Dichtung und Wahrheit“, das laufend neu erschaffen (updated) wird. Schon Goethe wusste, dass Erinnerungen niemals vollkommen zuverlässig und akkurat sind, sondern allenfalls Annäherungswerte an vergangene Realitäten darstellen, die sich zudem in den meisten Fällen nicht überprüfen lassen, weil eben die Vergangenheit vergangen ist. Die Erinnerungen verbinden sich meist mit einer der vielen anderen Formen der Fantasieerzeugung, z.B. mit den Projektionen.

Projektionen


Die Projektionsgeschichten verlaufen nach einem festgelegten Schema. Das, was uns an uns oder in uns nicht gefällt, wird in einer anderen Person wahrgenommen. Damit sind wir das Problem los, und wir haben eine Geschichte erfunden, die dieser Person angehängt wird. Das Problem mit dem Problemexport liegt freilich darin, dass wir nie eine Lösung finden können, weil diese in der Verantwortung der anderen Person gelegt wird. Wir geraten in die Position eines Opfers, das die Situation nicht aus eigenen Kräften ändern kann.

Projektionen unterlaufen uns laufend. Wir verfügen über äußerst produktive Projektionsabteilungen, die sich auf ausgeprägte Projektionsgewohnheiten stützen können und immer wieder neue Geschichten erfinden. Es gibt Menschen, die sich hauptsächlich in der mentalen Welt der Projektionen aufhalten und die von anderen als psychotisch bezeichnet werden.

Wir leben in Zeiten der Massenproduktion von falschen Wirklichkeiten, also von Erfindungen, die als Realitäten dargestellt werden, und in Zeiten der Verleitung zu Psychosen mit dem Ziel, die Grenze zwischen Fakten und Fiktion zu verwischen. Wenn möglichst viele Menschen den Kontakt zu ihrer Erfahrungswirklichkeit verloren haben, ist es ein leichtes, die eigenen ökonomischen oder politischen Ziele widerstandslos durchzusetzen. Deshalb ist die Fähigkeit der Unterscheidung zwischen den Kopfprodukten und der von uns unabhängigen Wirklichkeit keine Spielerei oder Luxusbeschäftigung, sondern unerlässlich für unsere innere Klarheit und für eine menschengerechte und soziale Gesellschaft.

Damit wir also bei geistiger Gesundheit und Zurechnungsfähigkeit bleiben können, ist es erforderlich, die Kraft der Unterscheidung der äußeren und inneren Wirklichkeit von unserer Fantasiefabrik zu stärken und zu schärfen. Wenn uns diese Kraft abhandenkommt oder abspenstig gemacht wird, ist nicht nur kollektiv das Projekt der Aufklärung (des „Ausgangs aus der Unmündigkeit“) in Gefahr, sondern auch unsere individuelle Vernunft und Verstandeskompetenz. Zwischen Wirklichkeit und Fantasie gibt es entweder eine klare Grenze, über die wir uns auch mit anderen Menschen verständigen können, oder die Verwirrung und schließlich der Wahn, in dem jeder nur mehr orientierungslos herumtaumelt, nimmt überhand.

Geteilte Wirklichkeiten


Kommunikation zwischen Menschen macht nur Sinn, wenn es Bedeutungen gibt, die interindividuell außer Streit stehen. Solche geteilten Bedeutungen können Fantasieprodukte sein, wenn sich z.B. Personen darüber verständigen, dass es keinen menschengemachten Klimawandel gibt. Tendenziell führen solche konstruierten Scheinfakten zur Entstehung von Meinungsblasen, innerhalb derer sich Menschen einig sind, dass sie über die wahre Deutung der Wirklichkeit verfügen und alle andere einem Wahnsystem folgen. Typisch dafür ist, dass der Realitätscheck ausbleibt und alternative Sichtweisen keinen Platz haben, sondern bekämpft werden. Die Folge ist eine in verschiedene Meinungsblasen zersplitterte Gesellschaft, in der jede Blase auf die andere mit Verachtung und Zuschreibung von Verrücktheit zeigt.

Eine Gesellschaft, die handlungsfähig bleibt und Lösungen für die von der Wirklichkeit herangetragenen Probleme ausarbeiten kann, braucht Zugänge zur Erkenntnis, die auf einer klaren Unterscheidung von Fantasie und Wirklichkeit beruhen. Diese Unterscheidung braucht einen Konsens, der von einer großen Mehrheit getragen wird – selten wird es gelingen, dass alle hinter einer bestimmten Erkenntnis stehen. 

Kommunikation kann nur dann gesellschaftlich konstitutiv und gemeinwohlerhaltend wirken, wenn sie sich auf genügend viele Sachverhalte beziehen kann, deren Existenz außer Zweifel steht. Nur wenn z.B. die meisten Diskursteilnehmer die Auffassung vertreten, dass Gewalt gegen Kinder neben körperlichen auch seelische Schäden hinterlässt, kann eine Norm entstehen, die gewaltsame Übergriffe von Erwachsenen auf Kinder kritisiert, ächtet und schließlich kriminalisiert.

Erkenntnisproduktion aus der Wirklichkeit


Die Wissenschaften stellen das Unterfangen dar, möglichst viele Sachverhalte darzustellen, die sich im Diskurs bewähren und damit ein Netz von verlässlichen Aussagen über die Wirklichkeit erlauben. Die methodische Überprüfung der Ergebnisse gewährleistet diese Verlässlichkeit, die die praktische Umsetzung für die Entwicklung von technischen Geräten, Medikamenten oder sozialen Normen möglich macht. Wissenschaft funktioniert, indem sie so nahe wie möglich an der Realität dran bleibt und sich permanent an der Wirklichkeit misst. Ideologien stützen sich dagegen auf Fiktionen, auf Uminterpretationen der Wirklichkeit unter dem Einfluss von Fantasien und emotionsgesteuerten Geschichten und sind deshalb zur Wirklichkeitserkenntnis nicht tauglich. Was zur Wirklichkeitserkenntnis nicht tauglich ist, ist auch zur Lösung gesellschaftlicher Probleme nicht tauglich.

Die Wissenschaften haben deshalb auch Instrumente entwickelt, die Ideologien in Frage stellen und an der Wirklichkeit überprüfen. Die Ideologiekritik stützt sich auf die Unterscheidung zwischen Faktizität und Fiktion, zwischen Wahrheit und Dichtung. Es ist klar, dass jede Gesellschaft Ideologien braucht, solange unaufgeklärte Emotionen die Wertbildung und Entscheidungsfindung ihrer Mitglieder beeinflusst, vor allem diffuse Ängste, die oft transgenerational weitergegeben werden. Es ist zugleich notwendig, dass die Ideologien als solche gekennzeichnet werden, wie die Herkunftsbezeichnung auf Lebensmitteln, sodass jeder weiß, was sich hinter einer politischen Stellungnahme verbirgt, woher sie kommt und worauf sie abzielt. 

Je weiter das Projekt der Aufklärung fortschreitet, desto weiter wird der Einfluss von ungeklärten Emotionen zurückgedrängt. Bildung, Ausbildung und Reflexion machen den als Wirklichkeiten getarnten emotionalisierten Geschichten langsam aber sicher den Garaus. Auch wenn manche Zeichen in die Gegenrichtung zeigen, z.B. die systematisch betriebene Erzeugung von falschen Wahrheiten, gibt es Grund zur Annahme, dass die Aufklärung unaufhaltsam im Fortschreiten begriffen ist, weil sie erfolgreicher im Umgang mit der Wirklichkeit ist. Alle Manipulatoren und Wirklichkeitsvernebler stützen sich in irgendeiner Form auf die Wissenschaften oder eine von ihnen hervorgebrachten Technologie.

Spekulative Ideengebäude wie die Astrologie z.B. mögen ihre Meriten haben, sind aber nicht dienlich für die Erfindung von Maßnahmen, die den Klimawandel bremsen oder die Artenvielfalt erhalten. Genauso wenig hilfreich für die Lösung globaler Probleme sind Ideologien wie der Neoliberalismus oder der Rechtskonservativismus. In ihren Grundannahmen gibt es keinen Platz für Wege zur Bewältigung der Konflikte, die sie selber produziert haben und die den Weiterbestand der Menschheit bedrohen. Wir brauchen Daten, Fakten, Forschungen und daraus entwickelte technische Verfahren, die aus den Schieflagen heraushelfen und neue Perspektiven öffnen. Das funktioniert nur dort, wo die Wirklichkeit das Sagen hat und ihr zugehört wird. Wo sich die internen Kopfgeburten als absolute Wahrheiten aufspielen, entsteht die Verwirrung.

Bewusstheit


Wie können wir herausfinden, ob wir in einer Projektion oder im aktuellen Wirklichkeitskontakt sind? Wenn wir im Großen unter der Vermischung von Wirklichkeit und Fantasie leiden, sollten wir doch in uns selbst beginnen, die Unterschiede zu klären und uns nicht mehr in Geschichten, die wir für die Wirklichkeit halten, verfangen. Denn jedes Abgleiten in eine Fantasieproduktion, die uns unterläuft, ist ein Beitrag zur Vernebelung der Welt und zur sektiererischen Blasenbildung.

Wir sollten uns bewusst sein, dass solche Wirklichkeitserschaffungen andauernd in unserem Gehirn ablaufen, sodass wir immer wieder nachfragen müssen, was davon zur Wirklichkeit und was zur Erfindung gehört. Die Aufgabe liegt im Abklären, was der Fall ist und was nicht, was also im Äußeren Bestand hat und im gegenwärtigen Moment für unsere Sinne erreichbar ist, und was eine flüchtige Eigenproduktion im Kopf darstellt.

Aus dem aktuellen Wirklichkeitserleben verleiten uns innere Irritationen, hinter denen zumeist Ängste stecken. Sie nehmen unser inneres Erleben in Beschlag und erzeugen Illusionen und Fantasien, die wir mit der Wirklichkeit verwechseln. Befinden wir uns in einem Erregungszustand, ist die Wahrscheinlichkeit größer, dass sich unsere Wahrnehmung verengt und reduziert und statt dessen die innere Produktion von Wirklichkeitsvorspiegelungen Platz greift.

Es geht nicht darum, fortwährend präsent zu sein und nichts als den aktuellen Moment wahrzunehmen. Dieser Anspruch ist schwer zu verwirklichen. Da mischt sich schnell die Selbstabwertung ein, sobald wir merken, wir hängen in einer Geschichte fest. Sie tadelt uns wegen der mangelhaften Konsequenz und Disziplin, und damit sind wir natürlich auch schon wieder in einer Geschichte verfangen. 

Der Schlüssel liegt Bewusstheit und Achtsamkeit, das ist das, was wir lernen können: Zu erkennen, wann wir in unserer Vergangenheit festhängen und wann wir im Moment des Erfahrens sind. Immer wenn uns diese Bewusstheit zur Verfügung steht, sind wir schon im Moment, auch wenn wir erkennen, dass wir gerade in einer Geschichte waren, die uns in Bann gehalten hat. Die Selbsterkenntnis führt uns zu unserem direkten und unmittelbaren Erleben zurück. 

Je mehr wir im gelassenen Entspannungszustand verweilen, desto mehr steht uns die Wirklichkeit in ihrer Breite und Fülle zur Verfügung, wir genießen die Schönheit und Vielfalt der Eindrücke. Es ist dann ganz einfach, im Moment des Erlebens zu bleiben, ohne in Geschichten abzugleiten.

Die Bewusstheit über das, was gerade ist, ermöglicht uns die Wahl: In unserer Fantasie zu bleiben und sie weiterzuspinnen oder uns der Wirklichkeit zuzuwenden und direkte Erfahrungen zu machen. Wir können uns das zur Achtsamkeitsübung machen: Immer wieder in uns nachfragen, ob wir in uns selber kreisen oder auf etwas außerhalb unserer Fantasie bezogen sind.