Samstag, 19. September 2020

Emotionalisierung durch emotionale Kälte - ein aktuelles Beispiel

Müssen Politiker die emotionale Kälte kultivieren, um eine vernünftige Politik zu gestalten? Oder geht es darum, wertbefreit Wählerstimmen zu ködern, ohne Rücksicht auf Menschlichkeit?

Der österreichische Außenminister Schallenberg spricht davon (In der Zeit im Bild 2, 10. September 2020), die Debatte um die Migration anlässlich des Flüchtlingslager auf Lesbos zu deemotionalisieren und zu „rationalisieren“, also sie von den Gefühlen weg zur Vernunft zu bringen. Vernunft heißt für ihn, die Ereignisse von 2015 wieder herbei zu beschwören: „Jedes Mal, wenn ein Schiff auftaucht oder ein Zwischenfall in einem Lager ist, gibt es sofort das Geschrei ‚Verteilung‘. … Es geht jedes Mal um ein paar Kinder oder um 13 000, und dann sind es 50 (Tausend), das ist leider Gottes ein realistischer Pragmatismus.“ 

Der Pragmatismus Schallenberg’scher Prägung besteht also darin, keine Emotionen zu beachten und vor allem kein Geschrei zuzulassen, die Türen fest verschlossen halten und statt dessen Geld und Decken schicken – das schafft ein paar heimische Arbeitsplätze und Firmengewinne. Dazu ein Kommentar von Cornelius Obonya im Standard: „Wenn man Decken und Zelte und ein wenig Geld ins Südliche schickt, dann sieht man die Menschen nicht mehr, weil die sind ja dann unter der Decke.“ 

Wenn wir aber die Grenzzäune nur einen Spalt breit aufmachen und 100 Kinder hereinlassen, käme unweigerlich die große Flut. Das ist für den Außenminister keine Spekulation oder Hypothese, sondern vor dem Eintreten schon eine Realität. Realistischer Pragmatismus nach Schallenberg ist die Vorwegnahme einer Realität, um sie in der Gegenwart schon in den Ansätzen zu ersticken. Die Realität im Kopf dient damit nichts anderem als der Angsterzeugung, die die Abschottungspolitik rechtfertigen soll.

Der Außenminister ist emotionslos im Sinn der emotionalen Kälte, einer Abwehrform der Scham. Obwohl emotionslos, geht es ihm um nichts anderes, als zu emotionalisieren, indem er Ängste schürt. Realistischer Pragmatismus ist die demagogische Behauptung, die eigenen Fantasien wären real, eine Aufforderung zur vorweggenommenen Angst und Katastrophenpanik. Und eine Verleitung zur geistigen Verwirrung, die Gegenwart mit einer fantasierten Zukunft zu verwechseln.

Dem zitierten Gott wird diese Haltung und der Mensch, der sie vertritt, sicher leid tun, wenn es ein Gott der Liebe ist. Selbst der Interviewer Armin Wolf erschien geschockt angesichts dieser Aussagen und warf dem Außenminister Zynismus vor, prallte aber ab: Es sei kein Zynismus, sondern eben realistischer Pragmatismus.  

Hinter der emotionalen Kälte verbirgt sich die Scham. Die Zustände im Flüchtlingslager Moria, das wir uns jetzt, da es abgebrannt ist, endlich merken müssen, waren und sind beschämend, für jeden, der in Europa ein ausreichendes und sicheres Leben führt. Die Scham knüpft an jene an, die uns befallen hat, als plötzlich hunderttausende Menschen mit Rucksäcken, Kinderwägen und Rollstühlen an den Grenzen standen, verzweifelt und hoffend. Um dieser Scham ja nicht wieder zu begegnen, wird der Deckmantel der Menschenverachtung und des Ekels über alle gebreitet, die sich anmaßen, an ihrem elenden Flüchtlingsschicksal etwas verbessern zu wollen.

Denn die Schamverdrängung von vor fünf Jahren wollen wir uns auch nicht mehr antun, die im Angstszenario des zusammenbrechenden Sozialsystems bestanden hat. Wie soll der Staat so viele Eindringlinge versorgen und all die Leistungen, derer wir uns erfreuen, aufrechterhalten? Die Ängste waren unberechtigt, aber sie haben die Scham übertönt. Also wird jetzt im Vorfeld gleich die Angst in Stellung gebracht, damit wir uns nicht schämen müssen, wenn wir die Bilder des verkommenen und überfüllten Flüchtlingslagers über den Bildschirm huschen.

Nichts gelernt seit 2015?

Das Ringen zwischen unmenschlichem „Pragmatismus“ und Menschlichkeit, in dem kurz die Menschlichkeit Oberhand bekam, hat letztlich die Abschottungspolitik für sich entschieden, und diesen Sieg wollen sich die Sieger nicht nehmen lassen.

Die Frontlinien der emotionalen Reaktionen auf die aktuellen Vorgänge sind die gleichen wie 2015: Die naiven Gutmenschen gegen die pragmatischen Zyniker. Fünf Jahre ohne Lernen, ohne innere Veränderung, was für ein Luxus, die wir uns leisten können, weil unsere Wohlstandssicherheit nur an der Oberfläche angekratzt wurde, ein kleiner Lackschaden. 

Die Katastrophe als Folge der Flüchtlingswelle ist ausgeblieben. „Wir“ haben das geschafft. Die Wirtschaft ist weiter gewachsen, die Löhne und Sozialleistungen sind gestiegen, die Pensionen kommen nach wie vor aufs Konto, die Kriminalität hat sich nicht wesentlich verändert, keine Katastrophe weit und breit. Sicher gibt es Schwierigkeiten, manche der 100 000 Migranten, die Österreich aufgenommen hat, tun sich leichter, manche schwerer. Der Arbeitsmarkt und das Bildungssystem haben viel zu tragen, aber es ist auch viel Arbeits- und Leistungskraft und Intelligenz in unser Land geströmt. Und Tausende Einheimische haben ihr Herz geöffnet, ihren Mut zusammengenommen und sind über ihren Schatten gesprungen, um den Neuankömmlingen zu helfen und ihnen unter die Arme zu greifen, bis sie Fuß gefasst haben. Es gab eine Welle der Hilfsbereitschaft, die nichts mit einer Katastrophe zu tun hatte, sondern ein kräftiges Lebenszeichen der Menschlichkeit darstellte.

Doch einigen geht es jetzt nur darum, dass die traumatische Erfahrung von damals, die durch die Fantasie einer Katastrophe erzeugt wurde, uns niemals wieder beunruhigen dürfe. Wer will schon retraumatisiert werden? Lieber emotional kalt und ungerührt das Elend verdrängen, als die Ängste von damals wieder spüren zu müssen. 100 unbegleitete Kinder, also Kinder, die ihre Familie verloren haben, aus Moria könnten die alten Panikgefühle wieder wachrufen. Also schicken wir Decken und Geld hin, damit das menschliche Leid weg von uns bleibt und wir es nicht in der Nähe der eigenen Haut spüren zu müssen.

Push und Pull

Da ist die Rede von Push- und Pullfaktoren, die auch Teil dieses realistischen Pragmatismus sind. Wenn 100 Kinder ins Land kommen und freundlich aufgenommen werden, dann spricht sich das herum und erzeugt einen Pull. Nur sind die Pullfaktoren keine Realität, die faktisch nachgewiesen werden könnte, sondern ein Konstrukt, dessen Wirksamkeit in der Wissenschaft kritisch bewertet wird. Ich denke mir, wenn ich nur ein paar Stunden in einem derartigen Lager verbringen müsste, hätte ich einzig und allein den Push-Faktor, dort rauszukommen, gleich wohin. Möglicherweise war dieser Effekt so mächtig, dass er zum Anzünden des Lagers geführt hat. Aber Herr Schallenberg hat da offenbar eine andere Erfahrung.

Symbolpolitik

Immer wieder ist dazu noch die Rede von der Symbolpolitik. Politik ist immer Symbolpolitik, deshalb ist das Schlagwort nicht geeignet, um damit andere Meinungen zu diskreditieren. Ein paar Migrantenkinder ins Land zu holen, sei ja nur ein Symbol ohne humanitäre Folgen, der Tropfen auf den heißen Stein. Die Migratenfrage bleibt dadurch ungelöst. Natürlich hätte ein derartiger Schritt auch Symbolwirkung: Ein Symbol für Menschlichkeit und für Hoffnung. 100 Schicksale werden zum Besseren gewendet. Den Schritt nicht zu setzen und die Aufnahme von Flüchtlingen zu verweigern, ist auch Symbolpolitik, nämlich die Symbolisierung von Unmenschlichkeit und Hoffnungslosigkeit und 100 Menschen nicht zu helfen. Die Migratenfrage bleibt dadurch genauso ungelöst und kommt nicht einmal einen minimalen Schritt weiter. Im Gegenteil, die österreichische Regierung (zumindest in ihrem türkisen Teil, der ja alle relevanten Ministerien umfasst: Innen-, Außen- und Integrationsressort) verstärkt die Spaltung innerhalb der EU und geht auf die Seite der osteuropäischen Länder, die jede Aufteilungsquote von Migranten ablehnen. Österreich positioniert sich als einziges Land in dieser Gruppe mit europäischem Spitzenwohlstand. 

Im Kontrast dazu haben viele Einzelpersonen, Gemeinden und Städte ihre Bereitschaft bekundet, einen Akt der Solidarität und der Menschlichkeit zu setzen. Das zeigt, dass dieses Land mehr verdient als unmenschliche Spitzenpolitiker, die mit hohlen Phrasen die Ängste der Menschen in diesem Land schüren, und dass es möglich ist, Menschlichkeit und Politik zu verbinden – eine Hoffnung, die wir nie aufgeben sollten.


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