Mittwoch, 28. Dezember 2022

Die pädagogische Neugier

Die Neugier ist der beste Antrieb für das Lernen und für das Lehren. Eine besondere Begabung im Lehren liegt darin, die Neugier in den Herzen der Schüler entfachen zu können. Die „Gier“ nach dem Neuen ist ein Bewusstseinszustand, in dem wir in Aufregung geraten und Begeisterung spüren. Es ist der Drang, aus Gewohnheiten auszubrechen und Abenteuer zu erleben – Abenteuer im Außen durch neue Umgebungen oder neue Tätigkeiten oder Abenteuer im Inneren durch neue Erkenntnisse und Wissensinhalte. Wir suchen diese angenehme Spannung und genießen die Erwartung und Vorfreude, die schon vorher auftritt. Auch das Gehirn gerät in Aufregung und schüttet dabei viel Dopamin aus. Es handelt sich um die Impulse zum Wachsen, zum Eindringen in die Realität, zum Durchbrechen von Widerständen, zum Erobern von Neuland, die die leuchtenden Augen der Neugier hervorrufen. 

Neugierige Schüler sind ein Vergnügen und eine Freude für jede Pädagogin, sie sind dankbar für alles, was sie aus ihrem Überschuss an Kenntnissen anbietet und greifen es bereitwillig auf, um etwas Eigenes daraus zu machen. Es ist die Freude am Lernen, die die größte Freude im Lehren darstellt.

Lehren mit Neugier

Die Neugier ist deshalb nicht nur das optimale Milieu für Lernen, sondern auch für das Lehren. Was die Lehre lohnend macht, ist die Freude am Neuen, das im Inneren der Schüler eingepflanzt wird und zu sprießen beginnt. Gewissermaßen erschafft das erfolgreiche Lehren eine neue Schülerperson. Die größte Freude sollte es sein, wenn der Endzweck der Lehre erreicht ist, wenn also der Schüler aufhört, Schüler zu sein, weil er alles weiß, was es in dieser Lehre zu wissen gibt. Der Endzweck der Lehrer-Schüler-Beziehung ist ihre Auflösung, aus der Komplementarität der Rollen wird eine symmetrische Begegnung auf Augenhöhe.

Jede Lehrsituation ist neu und beinhaltet eine neue Lektion für die Lehrperson. Jeder Mensch ist anders, und deshalb ist auch jedes Lernen anders. Den pädagogischen Eros in jeder neuen Schülerin zu entfachen, stellt eine beständige Herausforderung dar, die das Lehren zu einem kreativen Prozess macht. Es muss also für jede Schülerin oder für jede Schülergruppe eine neue Lehre, eine neue Form des Unterrichts erfunden werden, die auf die Voraussetzungen und Bedürfnisse der Schülerinnen möglichst genau eingeht, sie also dort abholt, wo sie gerade sind.

Kommunikation auf der unbewussten Ebene

Das Geheimnis des Lehrens liegt demnach darin, einen Resonanzraum zu erschaffen, in dem die Lehrerin auf einer unbewussten Ebene mitbekommt, was die Schülerin braucht, damit sie in ihrem Lernprozess weiterkommt. Ein guter Tanzlehrer sieht, auf welche Weise sich die Schülerin blockiert und was sie braucht, damit sie diese Hemmung überwinden kann. Eine gute Klavierlehrerin erkennt, welches Musikstück den Schüler begeistert und zum Üben motiviert. 

In dieser Hinsicht gleicht die Pädagogik der Psychotherapie. Der Therapeut spricht gewissermaßen das aus, was ihm das Unterbewusste des Klienten mitteilt. Die Erfahrungen und Gefühle, die verdrängt sind, weil sie irgendwann nicht verarbeitet werden konnten, werden in dem vertrauensvollen Raum, der in der Therapie entsteht, auf den Therapeuten übertragen, der sie dann spüren und ausdrücken kann. Dadurch fühlt sich der Klient tiefer verstanden und kann einen Schritt in der inneren Entwicklung weitergehen. Auch in der Pädagogik geht es darum, sich auf die Schüler einzuschwingen und die für das Fortschreiten des Lernprozesses wichtigen Informationen aus dem pädagogischen Feld, aus dem Resonanzraum zu gewinnen. Der unterschwellige Kommunikationsprozess, der auf dieser Ebene wirkt, macht den Zauber jeder gelungenen Therapie und jedes Lehr- und Unterrichtsvorgangs aus.

Wichtig zu betonen in diesem Zusammenhang ist, dass dieser geheimnisvolle Kanal nur offen ist, wenn die Atmosphäre zwischen Lehrerin und Schülerin entspannt und vertrauensvoll ist. Die gegenseitige Wertschätzung ist die Voraussetzung, dass sich das Unterbewusste der Schülerin zu Wort meldet und die Informationen preisgibt, die es erlauben, den Lernprozess fortzusetzen und zu vertiefen. Sobald sich Ängste oder Schamgefühle einmischen, versiegt dieser Informationsfluss.

Im Fluidum einer zugewandten und wertschätzenden pädagogischen Beziehung vollzieht sich das Lernen mit großer Leichtigkeit. Die Neugier wandelt sich nach ihrer Befriedigung in die Freude über das Gelernte um und meldet sich wieder für den nächsten Lernschritt. 

Jedes gelungene Lehren ist ein Erneuern, ein Neuerschaffen. Die Neugier setzt den Anfang, die Begeisterung liefert den Treibstoff und die Disziplin trägt durch den Prozess der Aneignung durch.

Man könnte auch sagen, dass die Lehrerin mit jedem Lehren, das auf fruchtbaren Boden gefallen ist, jünger wird, weil sie sich mit dem Neuen, Jungen, Aufbruchsbereiten und Abenteuerlustigen in den Schülern verbindet und daran teilhat. In dieser Verbindung entzündet sich das Feuer des pädagogischen Eros, das im günstigen Fall beide gleichermaßen erhellt und begeistert, die Lehrerin und die Schülerin. 

Zum Weiterlesen:
Die Neugier und die Kreativität
Gier und Neugier


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